- Wenn Kinder die Träume ihrer Eltern verwirklichen sollen
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Ballett, Judo, Yoga – viele Paare projizieren ihre eigenen Hobbies auf ihr Kind, aus dem sie kleine Super-Talente züchten wollen. Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff warnt davor und diagnostiziert bei den Eltern einen „Mythos Überforderung“
Diese Leichtigkeit, mit der die Tänzerin im Video über das Parkett schwebt, der Rhythmus, ihr Ausdruck. Ständig sehe ich Menschen im Internet, die singen, steppen, die Dinge können, die ich auch können möchte. Aber ich werde es nicht mehr schaffen. Nicht in diesem Leben. Neuerdings schiebt sich in diesen Momenten meine sechsjährige Tochter vor mein inneres Auge. Sie tanzt Ballett, wie ich es in diesem Leben nicht mehr lernen werde. Das Tutu sieht an ihr viel besser aus als an mir. Vielleicht lernt sie Gitarre? Yoga? Beginnend in diesem frühen Alter könnte aus ihr ein zweiter Swami Sivananda werden. Was ich mir nicht alles vorstellen kann, beim Winken dieser trügerischen Hoffnung: Könnte sie vielleicht das Talent, den Ehrgeiz, die Bauchmuskeln entwickeln, die ich nie haben werde?
Dieser Eislaufmutterimpuls, so beobachte ich gerade, scheint etwas Natürliches zu sein. Etwas, das uns überkommt, wenn aus einem Kleinkind ein ernst zu nehmendes Individuum mit eigenen Hobbys, eigenem Geschmack, eigenem Zimmer wird. In den USA schicken Mütter ihre Töchter geschminkt zu Schönheitswettbewerben, dort gibt die eine „Stage Mother“ den anderen Tipps, um erfolgreiche Rampenferkel zu erziehen. In Deutschland sind diese Mütter unauffälliger, vielleicht besser integriert. Aber auch hier mehren sich die Eltern, die Fußballtrainern und Geigenlehrern auf die Pelle rücken, die ihre Kinder an ihre Grenzen bringen, die in der Kita auf musikalische, technische oder digitale Früherziehung pochen. Die gar vor Gericht ziehen, um die ihrer Ansicht nach passenden Schulnoten entgegen der Einschätzung der Lehrer durchzusetzen.
Michael Winterhoff, der 2008 als Kinderpsychiater und Autor des Buches „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ Berühmtheit erlangte, warnt seit Jahren eindringlich davor, dass wir gegensteuern müssten, um „nicht immer mehr Kinder und Jugendliche von heute zu verlieren“. Experten beobachten in den vergangenen 15 Jahren, dass immer mehr Heranwachsende aus der Schule entlassen würden, die „keine Ausbildungsreife“ haben.
Getrieben durch Verlustängste
Die Schuld an dieser Entwicklung schiebt Winterhoff auf drei Haupterziehungsfehler. Einen davon beobachte ich in seinen Anfängen als die oben beschriebene Eislaufmuttertendenz nun an mir: Winterhoff nennt es die „Symbiose“, die „psychische Verschmelzung des Kindes mit dem Erwachsenen als Teil seiner selbst“. Dazu komme, dass Kinder wie kleine erwachsene „Partner“ behandelt würden und der Erwachsene dabei in eine Abhängigkeit vom Kind gerate durch den Wunsch, von diesem „partout geliebt werden“ zu wollen – Winterhoff nennt es „Projektion“ und stellt fest: Immer mehr Erwachsene befänden sich „in gravierenden, unbewussten Beziehungsstörungen gegenüber ihren Kindern“.
Nach seiner Veröffentlichung „SOS Kinderseele“ aus dem Jahr 2013 versucht Winterhoff jetzt, sich mit dem Buch „Mythos Überforderung“ der Lebenswelt der Eltern zu nähern und ist damit bei der Wurzel des Übels angekommen. So versucht er, den Erfolgsdruck von Müttern und Vätern zu nehmen, um ihn auch den Kindern zu ersparen. Winterhoff diagnostiziert eine Gesellschaft kindischer Eltern, die kindisch bleibende Kinder aufziehen. Die getrieben sind durch ihre eigenen Ängste vor Verlust und Versagen, die sich die Kontrolle über ihr Leben haben aus der Hand nehmen lassen, genauso wie sie diese nun ihren eigenen Kindern aus der Hand nehmen. Winterhoff will diesen Eltern beibringen, sich endlich erwachsen zu benehmen und selbstständig zu werden. Damit es ihre Kinder auch sein können.
Drehen wir den Moment, an dem das Kind mit Ballett, Judo, Cello oder Fußball beginnt, also um. Lassen wir nicht die Kleinen unsere eigenen Träume verwirklichen, sondern lernen wir, mit den Grenzen zu leben, die uns unsere Kraft und unsere Lebenszeit aufzeigen. Die Kinder machen uns das vor. Wenn wir sie lassen.
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