() Junge Eltern sind oft überfordert, meint Michael Winterhoff.
Eltern, werdet erwachsen!
Mit seiner These, dass unsere Kinder Tyrannen seien, provozierte der Kindertherapeut Michael Winterhoff Eltern und Erzieher - und wurde zum Bestsellerautor. In seinem neuen Werk entwirft er das dramatische Szenario einer Gesellschaft, die von Regression geprägt ist.
Stimmt es wirklich, dass immer mehr deutsche Eltern versagen, wenn es um Kindererziehung geht?
Als Erziehung wird heute definiert, dass Kinder Regeln erlernen und dann anwenden sollen. Das ist ein großes Missverständnis. Idealiter findet Erziehung auf der Beziehungsebene statt – Kinder erleben ihre Eltern in bestimmten Situationen, beobachten ihre Reaktionen, ihr Verhalten, ihre Gefühle und orientieren sich an den intuitiven Reaktionen der Eltern. Diese Beziehungsebene entsteht jedoch nur durch eine klare Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem, die sich fatalerweise immer mehr verwischt.
Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind dafür verantwortlich?
Seit Anfang der 90er Jahre entwickelte sich in der Überflussgesellschaft der Typus des hedonistischen und selbstbezogenen Erwachsenen, der um seine eigenen Bedürfnisse kreist. Er sah das Kind als gleichwertigen Partner, dem man alles erklären kann, mit dem man alles diskutiert; das intuitive Lernen ging verloren, Erziehung wurde zum abstrakten Konzept. Das ist absurd, denn genauso wenig können Sie Tennisspielen dadurch erlernen, dass man Ihnen die Regeln erklärt.
Jetzt leben wir in Krisenzeiten – wie hat sich das Verhalten verändert?
Wir erleben heute eine Gesellschaft der Verunsicherung, sowohl was die allgemeine Orientierung betrifft als auch existenziell. Angstmachende Prozesse sind zur Zeit der größte Faktor des Lebensgefühls; um sie psychisch zu verkraften und die fehlende Orientierung zu kompensieren, wenden sich viele unbewusst an ihre Kinder und suchen bei ihnen Halt. So kommt es zur Machtumkehr: Der Erwachsene ist bedürftig, das Kind soll Bedürfnisse erfüllen. Diese Projektion mündet in eine verhängnisvolle Symbiose von Eltern und Kind. Ich beobachte das als psychische Verschmelzung in einer Gesellschaft, die nicht mehr positiv in die Zukunft schaut, sondern negativ konditioniert ist. Die Familie wird zum Fluchtpunkt, Kinder werden zum Wohlfühlfaktor. „Wir gegen den Rest der Welt“, so ließe sich diese Haltung am ehesten beschreiben.
Wollen Eltern also lieber kuscheln als Konflikte auszuleben? Werden Kinder zu Objekten emotionaler Wellness?
Ja, doch das geschieht völlig unbewusst. Daher werfe ich es auch niemandem vor. Ich rechne nicht ab, sondern mache darauf aufmerksam, dass wir Kinder wieder als Kinder betrachten müssen. Wenn ich vom Kind nur geliebt werden will, habe ich Angst, diese Liebe zu verlieren und vermeide Frustrationen, etwa durch Grenzen und Verbote.
Viele Eltern möchten deshalb diesen unbequemen Teil der Erziehung an Kindergärten und Schulen delegieren.
Mit dramatischen Folgen, denn auch im professionellen Bereich spiegelt sich mittlerweile die Beziehungsstörung zwischen Kindern und Erwachsenen wider. Ein Lehrer, der geliebt werden will, ist für das Kind kein Gegenüber mehr. Wird es verhaltensauffällig, korrigiert er das Problem nicht selbst durch Ermahnungen und Sanktionen, sondern delegiert es an den Therapeuten, der als letzte Instanz herhalten muss, als Reparaturwerkstatt für die Fehler, die Eltern und Erzieher machten. Die allfällige Diagnose lautet meist ADHS, viel zu schnell werden dann Medikamente wie Ritalin verschrieben.
Das heißt, psychische Entwicklungsstörungen werden als manifeste Krankheit behandelt, statt dass sie therapiert werden?
Die Tendenz geht dahin: Medikamentierung ist zum Massenphänomen geworden. Das ist Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, aber auch eine enorme Verführung, weil man schnelle Anfangserfolge erzielt, ohne sich dem Kind wirklich zu widmen. Das eigentliche Dilemma liegt darin, dass sich die meisten auffälligen Schulkinder wegen ihrer symbiotischen Elternbeziehung noch in einer frühkindlichen Phase befinden, in der sie nur nach den Gesetzen von Lust und Unlust reagieren. Sie sind nicht leistungsfähig, weil sie eine zu geringe Frustrationstoleranz besitzen. Sie sind nicht in der Lage, konzentriert Aufgaben zu bewältigen, stattdessen verlieren sie rasch die Lust und verweigern sich.
Was bedeutet das für unser Bildungssystem?
Wir haben bereits in der Grundschule einen immer höheren Prozentsatz nicht schulreifer Kinder. Waren es früher vielleicht zwei Kinder pro Klasse, sind es jetzt bereits 25 bis 30 Prozent. Eine Studie der DAK besagt, dass sich heute 30 Prozent der Grundschulkinder in diversen Therapien wie Logopädie, Ergotherapie oder Verhaltenstherapie befinden. Viele haben massive Auffälligkeiten und Entwicklungsstörungen. Das setzt sich später fort. Immer mehr junge Erwachsene sind heute überhaupt nicht mehr arbeitsfähig. Sie besitzen einfach nicht den psychischen Reifegrad, um acht Stunden lang einer Arbeit nachzugehen. Warum haben wir denn plötzlich ein Berufsgrundschuljahr und ein Berufsvorbereitungsjahr?
Welche Fähigkeiten fehlen diesen Jugendlichen?
Wenn man mit Ausbildern spricht, wird schnell klar, dass es nicht an Wissen mangelt, sondern an elementaren sozialen und psychischen Kompetenzen. Die jungen Erwachsenen, die jetzt auf den Arbeitsmarkt kommen, sind mehrheitlich partnerschaftlich groß geworden Es fehlt an Umgangsformen, an Respekt, an Pünktlichkeit, am Erkennen von Abläufen. Sie sind wie Kleinkinder noch lustorientiert, nicht zielorientiert. Ohne die Fähigkeit, Unlustimpulse zu steuern und zu unterdrücken, gibt es jedoch keine Leistungsbereitschaft. Nicht zufällig sind viele nicht in der Lage, eine Lehrstelle auszufüllen und brechen sie frühzeitig ab. Nach den Kriterien der Entwicklungspsychologie müsste man sie therapeutisch nachreifen lassen – das aber ist oftmals sehr schwierig. Die Kinder, die demnächst die Schule verlassen, wurden groß in der Projektion. Sie haben das Selbstbild eines kleinen Kindes, das nur gelernt hat, die Erwachsenen zu manipulieren, die um ihre Liebe warben – kein Chef kann mit solchen Mitarbeitern funktionierende Arbeitsabläufe planen.
Das klingt nach einer brisanten Entwicklung. Sind Sie schon mal von Bildungspolitikern um Rat gefragt worden?
Bis jetzt noch nicht. Dabei liegt es auf der institutionellen Ebene auf der Hand, dass wir kompetentere Erzieher im Kindergarten brauchen und einen höheren Betreuungsschlüssel. Wenn wir nicht frühzeitig die neuen Probleme der Kinder erkennen und korrigieren, bedarf es später kaum zu leistender Anstrengungen, um die Jugendlichen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Man könnte durchaus von einer Zeitbombe sprechen.
Spielt die Auflösung der traditionellen Familienstrukturen eine Rolle? Oder die Verwahrlosung in prekären Lebensverhältnissen?
Eher nicht. Das Phänomen zieht sich durch alle Familienformen und Schichten. Ich betreue neben meiner kinderpsychologischen Praxis ein Heim mit Kindern aus oft katastrophalen familiären Situationen, die häufig schon als Kleinkinder misshandelt wurden – die Bilder gleichen sich. In meiner kinderpsychatrischen Praxis habe ich es meist mit intakten Familien zu tun, mit liebenden Eltern, mit Geschwisterkindern. Die Verhaltensauffälligkeiten reichen hinein in die Mitte der Gesellschaft, auch und gerade im sogenannten bürgerlichen Milieu.
Was halten Sie vom Ruf nach neuer Disziplin?
Das ist überhaupt nicht mein Anliegen, ich halte das sogar für gefährlich. Leider werde ich oft in dieser Richtung missverstanden und als Hardliner diffamiert. Es geht mir aber weder um die Rückkehr zu alten Autoritäten noch gar um Gewalt. Ich plädiere auch nicht für bestimmte pädagogische Strategien. Wir brauchen stattdessen dringend neue Beziehungskonzepte, Eltern, die ihre Kinder liebevoll anleiten und dabei eine klare Trennungslinie ziehen. Doch die Erwachsenen regredieren zunehmend. Ich stelle immer mehr unreflektierten Narzissmus und auch Infantilisierung fest. Ein simples Beispiel dafür ist die Ernährung – man trinkt sein Frühstück als Obstbrei, Fast food wird mit Fingern gegessen. Viele Erwachsene verbringen ihre Freizeit mit den Spielkonsolen ihrer Kinder.
Wie kommt es zur freiwilligen Rückkehr ins Kinderzimmer?
Ein Grund für diese Infantilisierung könnte sein, dass wir in einer Gesellschaft ohne übergeordnete Aufgaben leben - wir müssen uns beispielsweise nicht gegen Feinde verteidigen. Mit der Regression der Erwachsenen hat der Weg in die Beziehungsstörung zum Kind begonnen – jetzt verschärft sich diese Störung durch eine rasant sich verändernde Gesellschaft, die die Grundbedürfnissen Erwachsener nach Orientierung, Anerkennung und Sicherheit nicht mehr erfüllt. Verschärfend kommen die Auflösung von Strukturen und die zunehmende Perspektivlosigkeit dazu. Wenn aber Kinder unbewusst als Kompensation solcher Defizite herhalten müssen, gibt es für sie keine Chance auf Entwicklung.
Das Gespräch führte Christine Eichel
Foto: Picture Alliance
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