Kurz und Bündig - Einführung in die Theorie der Gesellschaft

Wenn man fernsieht oder Zeitung liest, verfestigt sich der Eindruck, wenigstens über eine Art von Küchensoziologie herr­sche Konsens. Deren Grund­satz lautet, die Gesellschaft bestehe aus bestimmten Bereichen, die man Systeme, Sphären oder Arenen nennen kann und die von mächtigen Akteuren dominiert werden.

Wenn man fernsieht oder Zeitung liest, verfestigt sich der Eindruck, wenigstens über eine Art von Küchensoziologie herr­sche Konsens. Deren Grund­satz lautet, die Gesellschaft bestehe aus bestimmten Bereichen, die man Systeme, Sphären oder Arenen nennen kann und die von mächtigen Akteuren dominiert werden. Weshalb man einen Fraktionsvorsitzenden, einen BDI-Präsidenten oder einen Volkswirt in der Talk­show fragen kann, wie denn «die Politik», «die Wirtschaft» oder «die Wissenschaft» zu die­sem oder jenem Problem stehe. Diese Akteure, so glaubt man, repräsentierten die Sys­teme oder Sphären. Wenn dann diese Repräsentanten an einem Tisch sitzen und die Probleme der Gesellschaft verhandeln, drängen sich drei weitere Un­ter­stellungen auf. Erstens: Die hoch spezialisierten, «ausdifferenzierten» Systeme können, wenn nur ihre Vertreter guten Willens sind, in einem Konsensgespräch zum Wohl der All­gemeinheit koordiniert werden. Zweitens: Die Differenz von «Oben/Unten» prägt unsere gesamte Gesellschaft. Denn die Teile, die das Ganze repräsentieren, stehen «oben», während die Zuschauer, die einflusslos das Wirken der Mäch­tigen im Fernsehen verfolgen, «unten» stehen. Und schließlich: Die Akteure streiten über Zwecke und Mittel. Ein Zweck wäre etwa, die Arbeitslosigkeit zu senken; und abhängig von den Zwecken werden dann Mittel angepriesen: Lohnkosten runter oder Nachfrage rauf, die Politik muss besser führen, die Wirtschaft mehr investieren, dann wird es schon funktionieren. Kurz: der Eindruck entsteht, eine Art Globalsteuerung aller Sozialsysteme wäre möglich. Der Soziologe Niklas Luhmann hat 1992/93 eine einführende Vorlesung über die «Theorie der Gesellschaft» gehalten. Darin zeigt er, dass all diese Unterscheidungen (Ganzes/Teile, Oben/Unten, Zweck/Mittel) typisch für die Selbstbeschreibungen Alteuropas sind und zu dessen Sozialstrukturen passen. Vom Adel aus gesehen sind sie sinnvoll. Aber heute? Luhmann führt vor, «dass man schon nicht mehr in der alten Welt ist, also die alten Ord­nungs­begriffe nicht mehr brau­chen kann, aber noch nicht weiß, in welcher Gesellschaft man jetzt lebt». Die alten Konzepte überzeugen nicht mehr, denn die Gesellschaft ist zu komplex, als dass sie zu beschrei­ben wäre wie eine Ständegesellschaft. Die neuen Beschreibungen aber, mit denen Luhmann experimentiert, spielen in der Öffentlichkeit allen­­falls als trivialisierte Formeln eine Rolle. Man nimmt weiter an, irgendein Runder Tisch entscheide, wie es weitergehe mit Deutschland. Nach der Lektüre der Vorlesung wird man darin eher ein hilfloses Wei­terwursteln sehen. Es ist ein gro­ßes Vergnügen, Luhmann dabei zu folgen, wie er ein Bild der Gesellschaft zeichnet, das weniger zu den Machbarkeitsphantasien der Experten-Talkshows passt – aber umso besser zu den Problemen. Nimmt man etwa seine These von der «Funktionssystem­differenzierung» ernst, dann gibt es in der Moderne keinen Ort, von dem aus die Gesellschaft als ganze verbindlich zu beschreiben wäre. Jedes Funktionssystem fertigt eigene Beschreibungen an – die Politik politische, die Wirtschaft ökonomische und die Wissenschaft wissenschaftliche –, ohne dass diese innerhalb der Operationslogik anderer Systeme Sinn ergeben müssten. Daraus folgt, dass die Politik nur Probleme lösen kann, die durch «kollektiv bindendes Entscheiden» (Gesetze etwa) zu bearbeiten sind, wirtschaftliche Probleme aber nur ökonomisch zu verstehen und traktieren wären. Auch Schüler werden ja nicht per Erlass besser, sondern allenfalls durch besseren Unterricht oder mehr Fleiß. Die Chancen für die politische Bewältigung politischer Aufgaben, so Luhmann, könnten steigen, wenn diese Probleme zunächst system­spezifisch lokalisiert würden. Man könnte immerhin versuchen zu wissen, «in welcher Gesellschaft man jetzt lebt».

 

Niklas Luhmann
Einführung in die Theorie der Gesellschaft
Hg. von Dirk Baecker.
Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2005. 352 S., 29,95 €

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