Harry Potter - Die Wiederkunft des schwarzen Meisters

Harry Potter IV: Joanne K. Rowling entwirft eine zauberhaft-politische Geschichte des Bösen

Sie benötigen ein Mikrofon, haben aber gerade keins zur Hand? Brauchen Sie doch auch gar nicht! Nehmen Sie einfach Ihren Zauberstab, drücken ihn an Ihren Kehlkopf und murmeln «Sonorum» ­– ein Stadion mit 400000 Zuschauern zu beschallen, sollte für Sie danach kein Problem sein. Und hoffentlich haben Sie auch Ihr Omni­ocular dabei! Vielleicht verpassen Sie ja das Foul, das zum spielentscheidenden Strafstoß führt? Macht nichts! Einfach auf ein Knöpfchen der Spezialbrille drücken, schon läuft die Szene noch einmal vor Ihren Augen ab, mit Zoom natürlich und exakt in der Einstellung, die Sie sehen wollten. Die Flagge, die Sie beim Länderspiel schwenken, schmettert die Nationalhymne, die Rosette an Ihrem Mantelaufschlag blinkt und trötet dazu die Namen Ihrer Favoriten, während Sie auf Ihrer Handfläche vielleicht ein Modell Ihres Lieblingsspielers herumspazieren lassen, der sich gerade für seinen Einsatz flottmacht – im vierten Band von Joanne K. Rowlings «Potter»-Romanen ist auch für die Sportfans bestens gesorgt.
 
Allerdings bleiben die Wettkämpfe in «Harry Potter und der Feuerkelch» nie lange friedlich. Denn nun ist es soweit: Das Böse kehrt zurück, weil es dem Bösen gelingt, sich wieder zu materialisieren. Zehn Jahre lang hatte der Schwarze Magier Lord Voldemort einst das Reich der Zauberer mit seiner Schreckensherrschaft überzogen und den Terror auch auf die nichtmagischen Normal-Menschen ausgedehnt. Doch dann, im Versuch, den einjährigen Harry Potter zu töten, kam er zu Fall. Von seiner sterbenden Mutter mit einem archaischen Liebeszauber umgeben, hatte Baby Harry Lord Voldemorts magische Kraft gebrochen – eine blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn zeugt von dieser Begegnung. Als tödlich geschwächter Geist, körperlos, musste Voldemort in ein Versteck hinter die sieben Berge Albaniens fliehen. So ist Harry Potter gewissermaßen der natür­liche Feind des Bösen und in der Welt der Zauberer eine Legende, ein Held. Seine Eltern mussten sterben, doch mit seinem Sieg über den Schwarzen Lord sorgte das Kind dafür, dass die zerstörerischen Kräfte entmachtet wurden: Mit Harrys Namen ist die Rückkehr von Freiheit und Selbstbestimmung verbunden.   Weg mit den Putzteufeln! Von «Harry Potter und der Stein der Weisen» über «Harry Potter und die Kammer des Schreckens» bis hin zu «Harry Potter und der Gefangene von Askaban» hat Joanne K. Rowling seit 1997 Jahr für Jahr die Konturen ihrer Zauberwelt schärfer gezogen und deren Details mit geradezu magischem Einfallsreichtum ausgemalt. Vom Zauberlehrlings-Internat Hogwarts bis zum Ministerium für Zauberei, vom seelenvoll tumben Halbriesen Hagrid, der zu tödlichen Lebewesen ein gefährlich tierschützerisches Verhältnis pflegt, bis zum kuriosen Heiligen Professor Dumbledore, dem Direktor von Hogwarts, steht «Potter»-Lesern der Kosmos dieser zweiten Wirklichkeit plastisch vor Augen, unterschiedlichste Schüler sowie das in seinen Eigenschaften und Vorlieben nicht weniger gemischte Lehrerkollegium ein­geschlossen.
 
Schritt für Schritt hat Rowling dabei Harrys besondere Lebensumstände freigelegt und auch mit böse ironischen Charakterisierungen der menschlichen Normalos, die hier lautmalerisch Muggels heißen, nicht gespart. Denn Harry ist nach dem Tod seiner Eltern in einer Besenkammer bei der Familie seiner Tante aufgewachsen, und nicht nur Kinder freuen sich, wenn eine kleinbürgerlich-terroristische Schreckschraube eines Tages kreischend unter der Zimmerdecke hängt, weil Harry sie in einem Wutanfall dorthin gehext hat, oder seinem abscheulichen Cousin Dudley plötzlich eine kilometerlange Zunge aus der Visage quillt. Im Alter von elf Jahren wird Harry diesem deprimierenden Milieu selbstgerechter Putzteufel und Prahlhänse endlich entrissen: Am Beginn ihres ersten Potter-Bandes schulte Joanne K. Rowling ihn im Hogwarts-Internat für Zauberei ein. Seither hatte er von Jahr zu Jahr immer gefährlichere Abenteuer zu bestehen, denn der Böse, geschlagen, aber nicht besiegt, sinnt naturgemäß auf Rache. Überaus spannend war das alles, hinreißend erzählt und mit den wundersamsten Einfällen und Beschreibungen versehen. Eines aber wurde nur an den äußeren Rändern sichtbar: Geschichte.
 
Wie kommt das Böse in die Welt? Wie hält es sich, was treibt es dort? Wie gewinnt es Macht – was also ist die Attraktivität des Bösen? Und wer ist eigentlich gut, wann, wie und warum? Wie kann er es bleiben und will er das überhaupt? Worin liegen die Gefährdungen des einzelnen? Und, nicht zuletzt: Wem kann man vertrauen? Diese Fragen, sehr altmodisch, sehr grundsätzlich und beileibe nicht nur für Kindergeschichten bedeutungsvoll, hatten Joanne K. Rowlings Romane bislang immer wieder gestreift. Sie haben sie hie und da ein bisschen gedreht und gewendet, und stets sind sie dabei zu überraschenden Antworten gekommen. Doch am Ende war immer alles wieder gut: Die Aufgaben erwiesen sich als lösbar, weil Rowling zwar ihren Schwierigkeitsgrad gesteigert, ihre Reichweite aber auch klug begrenzt hatte. Nach «Harry Potter und der Feuerkelch», dem Mittelstück der geplanten sieben Bände, wird das nun nicht mehr so sein.
 
Denn der «Feuerkelch» ist das drama­turgische Gelenk, über das der Erzählfokus der gesamten Reihe behutsam von der Individual- auf die Gesellschafts-Geschichte verschoben wird, und plötzlich zeigt sich, wie sorgfältig diese entscheidende Wendung in den vorhergehenden Büchern schon vorbereitet war. Zwar lästig, aber zugleich ganz normal hatte man es ja bislang gefunden, dass, wann immer Harry und seine Freunde Hermione und Ron über das Gleis 9 3/4 am Kings Cross den Hogwarts-Zug erreicht hatten, eine unsympathische Kinderbande anfing, ihnen das Leben schwer zu machen; dass sie sie in der Schule weiter verfolgte und hämisch auf jeden Misserfolg des Harry-Trios lauerte. Wenn deren Anführer Malfoy dabei ausdrücklich eine besondere Position für sich beanspruchte, weil sein Vater ein hohes Tier im Ministerium ist, kam einem das ebenso bekannt wie lächerlich vor.
 
  Im vierten Band nun wird offenbar, dass diese Kinder gewissermaßen die Agenten ihrer Väter sind, die deren Zwiste aus Schulzeiten wieder aufleben lassen – mit einem gravierenden Unterschied allerdings:  In der jüngeren Vergangenheit hat das Voldemort-Regime die persönliche Feindschaft der Eltern ins Gesellschaftlich-Politische übersetzt. Die als Hogwarts-Schüler im «Slytherin»-Haus lebenden Väter von Malfoy, Crabbe und Goyle waren im Anfang womöglich Harrys Vater, seiner Mutter und deren Freund Sirius Black allein wegen deren Zugehörigkeit zum konkurrierenden «Gryffindor»-Haus nicht freundlich gesonnen. Als Erwachsene stellten sie sich mit aller Konsequenz auf die Seite des Schwarzen Diktators, während Harrys Eltern und Sirius eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen Voldemort spielten. Aus einer Kinder-Antipathie war die politische Todfeindschaft der Erwachsenen geworden, und ob sie es wollen oder nicht, stehen nun der junge Malfoy und Harry mit ihren jeweiligen Freunden in diesem Kontext. In ihren Aus einan dersetzungen agieren sie dabei eine Geschich te aus, die keineswegs vergangen ist. In diesem Band beginnt sie sich gerade wie derzubeleben.
 
Allerdings scheint Rowling von der fatalistischen Vorstellung, Geschichte wiederhole sich eben, nichts zu halten. Neben direkten Fortsetzungen von einer Generation zur anderen deutet sie in «Harry und der Feuerkelch» auch die Veränderungen an, die sich in den dreizehn Jahren seit der Niederschlagung der Gewaltherrschaft in einzelnen Charakteren vollzogen haben. Während die Väter von Malfoy, Crabbe und Goyle die Wiederkunft ihres Schwarzen Meisters nach allen Regeln der Speichel leckerei und Selbsterniedrigung begrüßen, zeichnet sich auf der anderen Seite ganz überraschend der Hintergrund für das widrige Wesen des undurchsichtigen Lehrers Snape ab. Und sowohl Hagrid, der Freund der tierischen Ungeheuer, als auch der immer leicht versponnene Dumbledore bekommen erste Umrisse einer politischen Biographie. Die lässt erst staunen, dann aber um ihr (Über-)Leben in den kommenden Büchern fürchten. Wenn das gesellschaftliche Böse sich anschickt, die Macht zu erobern, werden alle Individuen kenntlich.   Die «Death-Eaters» kommen Kenntlich wird aber auch, wie kleine Anfänge, in größerem historischen und politischen Zusammenhang gesehen, plötzlich weiter reichende Bedeutung annehmen, und wie Harmloses unerwartet in sein Gegenteil umschlagen kann. Denn wie freundlich bizarr ist zunächst der Zeltplatz, auf dem die aus aller Welt angereisten Hexen und Zauberer sich irgendwo im schottischen Moor alle Mühe geben, nur ja in der Muggle-Welt nicht durch exzentrisches Verhalten aufzufallen. Doch kaum ist der Quidditch-WorldCup entschieden,  nimmt sich ein Trupp vermummter Zauberer den Campingplatzbesitzer und seine Familie vor und quält sie fast zu Tode, nur aus sadistischem Vergnügen. Wie bedrohlich klingt es dann plötzlich, wenn Malfoy Harrys Freundin Hermione, Tochter von Muggle-Zahnärzten, als Sumpfblut beschimpft und hochfahrend das Lob der rassisch überlegenen Reinblüter anstimmt. Bald darauf wird man erfahren, dass Muggle-Torturen und Rassismus Kennzeichen der Voldemort-Herrschaft waren. Und am Ende lernt man auch, wie die Lust an der Macht, ja, allein das selbstgefällige Beharren auf dem Status Quo sogar Anti-Voldemort-Politikern die Augen vor dem aufkeimenden Übel verschließen lässt. Auch wer eigentlich und ganz allgemein das Gute will, steht damit durchaus nicht automatisch auf dessen Seite.   Was für eine Geschichte – für Kinder ja immerhin! Und wie grässlich könnte sie ächzen unter ideologischem Ballast, wie eklig auch kleben vor pädagogischen Besserungsabsichten! Aber nichts davon: Joanne K. Rowling erzählt eben nicht nur vom Zaubern, sie beherrscht es selber mühelos. Zwar sollten die Kinder nun doch schon ein biss chen älter sein, wenn die maskierten «Death-Eaters» kommen, wenn der Grausige mit Schlangengesicht und roten Augen durch seines Vaters Gebein und Harrys Blut ins körperliche Leben zurückkehrt, wenn ein Junge sterben und Harry seinen Leichnam nach Hogwarts zurückbringen muss. Aber von Harrys ahnungsvollem Alptraum am Anfang, dem hinreißenden Sportereignis und dem lebensgefährlich spannenden Turnier der drei internationalen Zaubererschulen in Hogwarts möchte man wirklich niemandem ein Wort vorenthalten – und schon gar nicht den Zauberstab-Showdown zwischen Harry Potter und Lord Voldemort mitsamt Phönixgesang und Lichtbogen über düsteren Gräbern. 
  
  Von nun an allerdings geht es um Leben und Tod, um Freiheit oder Sklaverei, und das heißt nicht zuletzt: um die Politik des einzelnen. Der alte Zauberer Dumbledore, der gern verrückte Verse hersagt, dessen Ruhm aber vor allem daher rührt, dass er im Jahr 1945 den Schwarzen Magier Grindelwald besiegte, spricht von der unvermeidlichen individuellen Entscheidung zwischen dem, was richtig ist, und dem, was einem leichtfällt. Und gleich wünschte man, dass nicht nur die Kinder Joanne K. Rowling bei dieser Entscheidungsfindung begleiten – und zwar möglichst bald!Info
Harry Potter und der Stein der Weisen 
(Bd. 1)  Carlsen, Hamburg 1998. 335 S., 28 DM Harry Potter und die Kammer des Schreckens (Bd. 2) Carlsen, Hamburg 1999. 351 S., 28 DM Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Bd. 3) Carlsen, Hamburg 1999. 447 S., 30 DM Harry Potter und der Feuerkelch (Bd. 4) Carlsen, Hamburg 2000. 800 S., 44 DM
Alle Bände wurden von Fritz Klaus übersetzt.

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