Bücher des Monats - Der Sieg der Fastenzeit über den Karneval

Warum Luthers Reformation kein Fortschritt war und dennoch die Welt bewegt – bis hin zu den gottesfürchtigen Kriegern von heute

Luther und seine Reformation sehen alle dreißig Jahre einmal anders aus. Dagegen ist auf die Dauer nichts zu machen, das teilen sie mit allen geschichtlichen Gegenständen. Denn wenn sie in die Gegenwart hineinreichen, wirkt die Gegenwart auf sie zurück, und unsere Erfahrungen geben ihnen neue Farben. Bei konfessionell fixierten geschichtlichen Vorgängen wie der päpstlichen Unfehl­barkeit oder dem Thesenanschlag Luthers dauert das Umlernen bei Berufsbekennern etwas länger, aber der Wandel ist unaufhaltsam. Jetzt hat die Stunde der Revision wieder geschlagen, und dabei ist ein mächtiges, prächtiges Buch erstanden, dessen Originalausgabe 2003 in London erschienen ist mit dem schönen Titel: «Refor­mation. Europe’s House Divided». Die Uneinigkeit der Christen hat das europäische Haus gespalten.

Da kommt also einer von drüben, von jenseits des Kanals, und erklärt uns, was wir Deutschen 1517 angestellt haben, kirchengeschichtlich, gesamteuropäisch, ja, man muss schon sagen, weltgeschichtlich. Bisher hielt in Deutschland so manche Reformationsgeschichte bang den Atem an, ob der junge Luther einen gnädigen Gott findet. Die vielen Söhne protestantischer Pfarrer unter deutschen Historikern verweilten lieber bei den Gewissensqualen und inneren Religionshändeln des Erfurter Mönchs als bei den 100.000 Toten der Bauernkriege. Nein, dieses Buch beweist, dass nicht unbedingt lutheranische Theologen die besten Reformationshistoriker sind. Oxforder Gelehrte können das aus größerem Abstand besser. Hier geht ein Empire-gewohnter Blick weit über Wittenberg hinaus, er schaut nach Ungarn und Polen, er begleitet Pilgerväter nach Amerika, erreicht China und Australien. Er erfasst die Reformation nicht als subjektive Seelenhistorie, nicht als Nationalgeschichte, sondern als Erfahrung der Weltgeschichte. Er überschreitet auch übliche zeitliche Grenzmarken: Er macht nicht halt mit dem Jahr 1525, während manches deutsche Lutherbuch wenig Neigung zeigte, wenn es über dieses Jahr hinausging. Denn 1525 waren die heroischen Jahre der deutschen Reformation vorbei. Danach zerstritt Luther sich mit den Schwärmern. Er griff die Bauern an, brach mit Erasmus und geiferte gegen die Juden.


Das gottesfürchtige Kabinett Bush

Diarmaid MacCulloch, Kirchenhistoriker in Oxford, geht zeitlich sehr weit darüber hinaus. Er analysiert die haarfeinen theologischen Dispute nach Luthers Tod 1546. Er endet nicht mit 1555, als der Augsburger Religionsfrieden wenigstens dem Reich eine gewisse Ruhe brachte, bis 1618 der große Krieg unsere Länder ganz und gar verheerte. Er verfolgt die Wechselwirkung von Religion, Gesellschaftsentwicklung, Kultur und Politik bis zu den Fernsehbildern, die das gottergebene US-Kabinett des zweiten Bush beim Gebet zeigen, bevor es mörderische Beschlüsse fasst. Er überschaut fast 500 Jahre der gesellschaftlichen Funktion des Christentums: Es hat das europäische Haus durch Selbstzerfleischung geteilt.

Vergangenheit und Gegenwart beleuchten sich hier gegenseitig. MacCulloch überlegt einmal: Wie würden die Reformatoren die gegenwärtige protestantische Chris­tenheit beurteilen? Sie würden sich sehr wundern, schreibt er. Über das nahe Welt­ende, über Teufelsnähe und Hölle, über Taufe und Abendmahl dachten die Reformatoren anders als die meisten heutigen Protestanten. Sie teilten das spätaugustinistische Konzept von Sünde, Sexualität und Erlösung. Sie verschärften es eher. Diese Revolutionäre waren konservativ.
 

Formeln wie Schlangenhäute

Ein Wort zur methodologischen Konzeption des Buches. Es ist ein englisches Buch mit weitestem geografischen Horizont. Es ist das Buch eines anglikanischen Historikers: Er vertieft sich in die harten Thesen der Reformatoren und ihrer Gegner, doch er wirbt für keine von ihnen. Er wahrt Abstand. Mit milder Skepsis beschreibt er Bekenntnisse und Varianten. Er gibt zu verstehen: Da hinterließen ineinander verkrallte Wahrheitseiferer Formeln wie Schlangenhäute; die Geschichte hat sie abgeworfen, niemand braucht hineinzuschlüpfen. Es ist ein historisches Buch: Es arbeitet geschichtliche Andersheiten ebenso heraus wie Kontinuitäten. Seine gesellschaftsgeschichtli­chen Analysen nähern es der französischen Schule der Annales, es atmet aber keinen Schulgeist. Es ist ein theologisches Buch: Es vernachlässigt keine der vielen theologi­schen Finessen. Es geht subtilen Nuancen zahlloser Debatten differenzierend nach, aber es versenkt sie dann wieder im reißen­den Strom der realen Geschichte.

Professionelle Lutheraner schreien Zeter und Mordio, die Seelenkämpfe Luthers seien nicht genug beachtet. Berufskatholiken monieren, MacCulloch vernachlässige den Unterschied zwischen Katholischer Reform und Gegenreformation. Dabei geht er mit dem wiedererstarkenden Papsttum so schonend um wie weiland schon Leopold von Ranke.

Dies ist ein entmythologisierendes Buch: Es widerspricht jedem Versuch, einen der Reformatoren hochzujubeln. Das gloriose Jubiläumsgerede, das 1917 blutige Orgien feierte und das uns schon jetzt wieder für 2017 angedroht wird, hat hier sein Ende gefunden. Heroenverehrung oder protestantischer Heiligenkult finden nicht statt. Luther als nationaler Befreier, Calvin als Vater der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung, die Reformation als fortschreitende Emanzipation – all das geht nicht mehr.

MacCulloch sieht die Reformation nicht als Stufe des Fortschritts. Die Reformatoren, schreibt er, teilen die allgemeine Frauenverachtung. Die Unterdrückung hat zugenom­men in der Reformationszeit, auf allen Seiten. Den Juden ging es schlechter als zuvor. Es herrschten überkonfessioneller Hexenwahn, Verfolgung Andersdenkender, Religionskriege, Morde und Hinrichtungen.

MacCulloch zitiert die Stimme eines Christenmenschen aus Genf, dem die spanische Inquisition lieber war als die Genfer Kirchendisziplin. Es gab talibanartige Bilderstürmereien. MacCulloch zufolge dürfen wir den Emanzipationsgewinn der Reformation nicht überschätzen. Zur Toleranz habe sie beigetragen, aber nur durch den Widerspruch zu ihrer Intoleranz. Die Reformatoren hatten alles andere im Sinn als Emanzipation oder Nationalstaat. Amsterdam, erzählt er, war die erste christliche Gemeinde, aus der man auch austreten konnte. Bekanntlich sah Thomas von Aquin im Verlassen der wahren Kirche ein todeswürdiges Verbrechen. Andere theologische Meisterdenker dachten ähnlich oder noch schlimmer. Die Individu­a­lisierung Europas war – wie fast alles, was der Reformation an kulturgeschichtlichem Fortschritt zugeschrieben worden ist –, erst ein Produkt des 18. Jahrhunderts.


Erasmus als Schlüsselfigur

Dieses Buch holt mit weltmännischer Erzählkunst breit aus und bleibt diszipliniert. Schalk blitzt auf. Es zeichnet eifernde Bekenner, die sich anstrengen, sich aufreiben, sich gegenseitig bekriegen und heillos verrennen. Die altkirchliche Elite sündigte vielleicht durch Genusssucht, Machtkalkül und Prunksucht – aber wer heute an Bramante und Michelangelo denkt, wird eher ihren Kunstsinn rühmen. Jetzt kam ein Menschenschlag nach vorn, von dem der Verfasser schreibt, er sei unglücklich gewesen, wenn andere glücklich waren. Was war die Reformation? Witzige Antwort MacCullochs: Sie war nicht die Befreiung der Menschheit, sondern der Sieg der Fastenzeit über den Karneval.

Diese Reformationsgeschichte enthält unzählige Einzelheiten und wahrt doch ihre Einheit. Nur ein strategischer Griff sei erwähnt: Die Schlüsselstellung, die es dem Erasmus zuteilt. Dieses Buch stellt natürlich nicht mehr, wie man es früher getan hätte, eine einzelne Schlüsselfigur in die Mitte. Und doch: Erasmus steht am Anfang der Reformation, ermöglicht sie durch Bibelstudien, durch Scholastikkritik und Reformwillen. Dann tritt ein, was Erasmus vorausgesagt hatte, nämlich Kriege und konfessionelle Verengung. Es traten viele auf, die sich auf die Bibel beriefen. Auch sie standen, wie Luther, da und konnten nicht anders. Der intellektuelle Freiraum nahm ab. Vereinzelte Erasmianer gab es immer noch, Michael Servet zum Beispiel und auch François Rabelais. 1550 schien die Zeit des Erasmus vorbei; er kam auf den Index. Doch das 18. Jahrhundert inszenierte nach blutigen Religionskriegen seine große Wiederkehr.

Seitdem hat Erasmus zusammen mit den großen Theologen Pierre Bayle und Richard Simon den theologischen Grundbestand der Reformatoren umgewälzt. Die Paulus-Exegese des späten Augustin kam auf den Prüfstand. Dank der Entdeckungen Lorenzo Vallas und des Erasmus lasen Theologen seit 1700 die Bibel anders, nämlich nicht assertorisch-dogmatisch, sondern historisch-kritisch. Sie sahen, wie später Gottfried Arnold und Goethe, die Geschichte des Christentums in neuem Licht. Sie stellten folgende bis heute oft unklar beantwortete Fragen: Steht die nizänische Dreifaltigkeitslehre – ja oder nein – wirklich im Neuen Testament? Servet hat sie dort nicht gefunden, Calvin hat ihn dafür verbrannt. Steht die spätaugustinische Gnadentheorie – ja oder nein – wirklich im Römerbrief? Erasmus dachte: Alles eher – nein!

Seit jener Zeit schwanden die reformatorischen Gewissheiten des Anfangs. Diarmaid MacCulloch musste weit ausholen und durfte auf festländische Gewissheiten keine Rücksicht nehmen. Denn er zeigt Aufstieg und Fall der Reformation.


Kurt Flasch lehrte Philosophie der Spätantike und des Mittelalters an der Ruhr-Universität Bochum. Soeben erschien «Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire».

 

Diarmaid MacCulloch
Die Reformation. 1490–1700
Aus dem Englischen von Helke Voß-Becher, Klaus Binder und Bernd Leineweber.
DVA, München 2008. 1022 S., 49,95 €

 

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