- Bildnis einer Verlorenen
Delphine de Vigan erzählt die Geschichte ihrer Mutter – und schreibt große Literatur
„Das Lächeln meiner Mutter“ ist ein trauriges, ein zutiefst schwarzes Buch von seltener Schönheit. Es ist, als würde es trotz aller Finsternis leuchten. Dieser Eindruck ist so widersprüchlich wie die Hauptfigur selbst: Lucile ist eine strahlend schöne junge Frau, über deren Lächeln doch so etwas wie ein Schatten liegt, etwas Dunkles, Unbestimmtes. Man wird es erst Traurigkeit, später muss man es Wahnsinn nennen.
Lucile Poirier, geboren am 17. November 1946 als drittes von insgesamt neun Kindern, ist die Mutter der französischen Erfolgsautorin Delphine de Vigan, die sich mit diesem, ihrem fünften Buch an eine schwierige Aufgabe gemacht hat. Sie will das Porträt ihrer Mutter zeichnen, einer Frau, die dem Leben nicht gewachsen war, die beständig kämpfen musste, die manisch-depressiv war, sich erst mit Marihuana, dann mit Alkohol, später mit Psychopharmaka betäubte, die immer wieder in die Krankheit stürzte, die oft wieder aufgestanden ist, sich aufgerappelt hat, bis sie schließlich mit 61 Jahren aufgab und ihrem Leben ein Ende setzte. Die Ärzte sagen: Nicht, dass sie sich umgebracht hat, sei ein Wunder, sondern wie lange sie durchgehalten habe.
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De Vigan beginnt ihr Bild schonungslos, mit dem Ende: „Meine Mutter war blau, blassblau mit Aschetönen, die Hände seltsamerweise dunkler als das Gesicht, als ich sie an jenem Januarmorgen in ihrer Wohnung fand.“ Krebskrank und vom Leben erschöpft hat sie sich selbst getötet, um, wie sie in einem Brief schreibt, „lebendig zu sterben“. Dabei hatte Luciles Geschichte so vielversprechend begonnen: Liane und Georges, die Eltern, sind ein schillerndes, unkonventionelles Paar, katholisch, kinderreich, zugleich antibürgerlich, Hippies avant la lettre, die oft nackt herumlaufen und ihre Kinder gern sich selbst überlassen. Es ist das Paris der fünfziger, sechziger Jahre: Die Mutter Liane ist leuchtend schön, voller Energie und Lebenslust, der die ständigen Schwangerschaften nichts auszumachen scheinen. Georges gründet eine Werbeagentur. Die Kinder posieren für Marie-Claire oder die Handarbeitszeitung Mon Tricot. Und das Gesicht von Lucile, der eindeutig hübschesten der Töchter, prangt einmal sogar überlebensgroß in der Pariser Métro, wo sie für Strickpullis Werbung macht.
Das Idyll dieser absonderlichen Bilderbuchfamilie zerbricht an einem Tag im Sommer, als Luciles kleiner Bruder Antoine verunglückt; sie ist damals acht. Ein Trauma. Aber es kommt noch schlimmer: Die Eltern adoptieren ein misshandeltes Kind. Der schöne Antoine wird durch einen gleichaltrigen Jungen ersetzt, der so dunkelhaarig und verschlossen ist, wie Antoine blond und aufgeweckt war. Ein fataler Tausch, der den Grundstein des Familienmottos legt: immer weitermachen, als wäre nichts geschehen. Lucile notiert später: „So wurde mir trotz aller Erklärungen und trotz aller Leugnungen klar, dass wir austauschbar waren.“ Es brauchte allerdings noch ein wenig mehr, um Lucile zu brechen: Jean-Marc, der Adoptivsohn, stirbt auf rätselhafte Weise in seinem Bett; ihr Bruder Milo wird sich umbringen; der Vater himmelt sie an und begehrt sie offensichtlich – Inzest also, über Generationen wiederholt. Hinzu kommt eine gescheiterte Ehe, eine regelrechte Selbstmordwelle von Freunden und Verwandten. Aber ganz vornean steht das Schweigen.
Man liest „Das Lächeln meiner Mutter“ gebannt wie einen Krimi, und nicht immer gibt es dabei auf alle Fragen eine Antwort. Denn de Vigan geht es mit diesem Buch nicht um so etwas wie Wahrheit. Sie will lediglich die Puzzleteile zusammenbringen, das Rätsel verstehen, die Spuren verfolgen und die Wunden benennen. Sie spricht mit den Geschwistern ihrer Mutter, sie durchwühlt Koffer voller Fotos, Aufzeichnungen, Notizen. Sie nimmt ihre eigenen Tagebücher zur Hand, um das Unheil in Worte zu fassen und die eigene Angst zu zähmen. So ist dieses Buch traurig und schön zugleich. Als es 2011 in Frankreich erschien, sorgte es für eine Sensation: Über 400.000-mal hat es sich verkauft und wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet. Und tatsächlich ist dieses Buch trotz seines selbst-therapeutischen Impulses große Literatur. Nicht wegen seiner Sprache, die gänzlich unsentimental, trocken und mitunter banal ist. Es ist vielmehr seine schonungslose Aufrichtigkeit, die es besonders macht.
Es legt ein beeindruckendes Zeugnis ab von der Liebe zwischen einer Mutter und ihren Töchtern, selbst wenn die Rollen sich längst umgekehrt haben. Und es ist tröstlich, weil es Rettung durch das Wort verspricht. Denn Delphine de Vigan will sich von dem, was wie ein Fluch über ihrer Familie liegt, befreien. Sie will Worte auf das Schweigen legen, die Spuren, „die der Zeit und allem Leugnen trotzen“, benennen. Sie will sich und ihre Kinder retten.
Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter. Roman. Aus dem Französischen von Doris Geinemann. Droemer, München 2013. 381 S., 19,99 €
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