- Was heißt denn hier Klassik?
Musik sprengt alle Schubladen und kommt doch nicht ohne diese aus, meint Violinist Daniel Hope
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.
Es war eine dieser Veranstaltungen, auf denen Plattenfirmen ihre Neuerscheinungen zu präsentieren pflegen. Kostproben aus der Musik, Künstlerinterview und Gespräch mit dem Publikum. Ins Liverpooler Planetarium waren überwiegend ältere Herrschaften gekommen. Deshalb fielen mir zwei Mädchen auf, die sich nach der Veranstaltung etwas abseits hielten und mich dabei anlächelten. Vielleicht hatten sie sich nur verlaufen, den Eindruck von eingefleischten Klassikliebhabern machten sie jedenfalls nicht. Damit, dass ich auf sie zuging, hatten sie anscheinend nicht gerechnet. Verlegenes Lächeln, sie wussten nicht recht, was sie sagen sollten. Dann machte eine doch den Anfang. Na ja, meinte sie, ich hätte ja ganz schön Dampf gemacht mit meiner Geige, und diese Klassik habe einen ordentlichen Drive, das müsse sie schon zugeben. Aber irgendwie nicht unsere Musik, sagte die andere. Im Grunde tote Hose, Musik von gestern, nicht der Sound von heute. Ich sei doch selber noch kein alter Mann, wieso ich mich trotzdem so viel mit alter Musik abgebe. Ob ich nicht viel lieber Aktuelles anstatt „Klassik“ spielen würde. Ob ich eigene Songs schreibe. Und ob ich vielleicht Lust auf einen Kaffee hätte. So kamen wir auf diesen seltsamen Ausdruck „klassische Musik“ zu sprechen.
Während dieser durchaus charmanten Begegnung musste ich an ein anderes, ungewöhnliches Zusammentreffen denken. In Norddeutschland hatte ich das Violinkonzert von Mendelssohn gespielt. Hinterher stand ich ziemlich verschwitzt an einem Tisch im Foyer, um Autogramme zu schreiben. Da wollte ein junger Mann von mir wissen, ob das, was ich gerade gespielt hatte, überhaupt klassische Musik sei. Ich sah ihn fassungslos an. Etwas umständlich holte er aus. Zum bestandenen Abitur hätten ihm seine Eltern ein Klassikabonnement geschenkt, aber über die Programmauswahl sei er verwirrt. „Neben Sinfonien von Haydn, Mozart und Beethoven, bei denen es sich ja wohl eindeutig um Klassik handle, sind Stücke von Bach und Strawinski gespielt worden. Und heute Abend Mendelssohn, der doch schon zur Romantik gehört, soweit ich weiß“, sagte er. Jetzt verstand ich.
Zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit wird in Musikbüchern die viele Jahrhunderte lange Geschichte der Musik in verschiedene Epochen eingeteilt, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Je nachdem, wann die einzelnen Komponisten gelebt haben, werden sie einem dieser Zeitabschnitte zugeordnet. Bach also wandert in die Schublade mit der Aufschrift „Barock“, Mozart in die „Klassik“ und Mendelssohn in die „Romantik“. So kompetent diese Gliederung zweifellos auch sein mag, hat sie auch ihre Schwächen. Schließlich waren die Komponisten Individuen, jeder hatte neben den Gemeinsamkeiten auch seine persönlichen Eigenarten. War zum Beispiel Franz Schubert, der ein Jahr nach Beethoven gestorben ist, tatsächlich schon ein Romantiker oder doch noch ein Klassiker? Sieht man andererseits bei Beethoven nicht in vieler Hinsicht schon romantische Züge? Hört man dagegen bei Mendelssohn nicht oft eine sehr klassische Struktur?
Zurück zu den jungen Damen in Liverpool, denen ich mühsam versuchte zu erklären, dass man erst die gesamte Musikvielfalt hören und erleben sollte, bevor man sie unter einem Begriff wie „Klassik“ ablehnt. Ich musste jedoch zugeben, dass ich es mir ebenfalls längst angewöhnt habe, einheitlich nur noch von „klassischer Musik“ zu sprechen. Korrekt ist es, streng genommen, nicht. Der Sammelbegriff, „Classical Music“, der anscheinend erstmals 1863 im „Oxford Dictionary“ aufgetaucht ist und der sich längst überall auf der Welt eingebürgert hat, hängt vermutlich eher mit den großen Veränderungen in der Musikwelt Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Damals begann die Zeit der Unterhaltungsmusik und des Jazz, gegen die sich die Musik, die im Konzertsaal und in der Oper gespielt wurde, behaupten und abgrenzen musste. Der Strom der Musik hatte sich geteilt. Welche Namen sollte man den beiden Flussarmen geben? Wichtig wurde diese Frage vor allem für die gerade geborene Schallplattenindustrie, die ihrer Kundschaft die Orientierung und damit die Kaufentscheidung erleichtern wollte. Dass sie die Kreationen der leichten Muse unter der Rubrik „populäre Musik“ oder kurz „Popmusik“ laufen ließ, verstand sich angesichts des Millionenpublikums, das dafür empfänglich war, von selbst.
Das interessierte die beiden Mädels in Liverpool allerdings herzlich wenig. Also gab ich mich geschlagen und ging mit ihnen doch lieber Kaffee trinken. Klassisch versteht sich …
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familienstücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien
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