- Auf Leben und Tod
Etwas so Entsetzliches wie ein literarisches Event soll stattgefunden haben! Dabei seien – noch entsetzlicher! – Texte vorgelesen worden, und darunter einer, der ganz entsetzlich gewesen sei. Über diesen Text, nämlich über «Eismond» von Jan Costin Wagner (Eichborn, 19,90 €) las ich in den Blättern, es sei ein ganz hervorragender Text, man könne ihn zu den Höchstleistungen der deutschen Gegenwartsliteratur zählen.
Etwas so Entsetzliches wie ein literarisches Event soll stattgefunden haben! Dabei seien – noch entsetzlicher! – Texte vorgelesen worden, und darunter einer, der ganz entsetzlich gewesen sei. Über diesen Text, nämlich über «Eismond» von Jan Costin Wagner (Eichborn, 19,90 €) las ich in den Blättern, es sei ein ganz hervorragender Text, man könne ihn zu den Höchstleistungen der deutschen Gegenwartsliteratur zählen. Schließlich versuchte der Kritiker Robin Detje, diese großen Gefühle abzukühlen: «Eismond» sei ein guter Kriminalroman, aber literarisch bedeutungslos. Da ich wiederum mich nicht leicht damit abfinde, dass eine literarische Minderwertigkeit ein «guter Kriminalroman» sein könne, blieb mir nichts anderes übrig als die Lektüre. Ist also «Eismond» ein guter Kriminalroman?
Einer der Kritiker drückte seine Wertschätzung mit der Meinung aus, dem Autor sei das Genre des Kriminalromans gleichgültig. Das ist falsch, denn die Idee des Buches ist eine der zentralen des Genres. Sie lautet: Es gibt zwischen dem langwierig ermittelnden Polizisten und dem dringend gesuchten Mörder eine unterschwellige, der Umgebung oft unbegreifliche Kommunikation. Sie sind einander ähnlich, und die Aufklärung eines Falles ist oft nichts anderes als der Höhepunkt ihres beidseitigen Verständnisses. Danach ist der Täter für den Polizisten unwichtig. Dingfest gemacht, ist der Täter kein wesentlicher Teil der Polizistenseele mehr.
Wagner ist ein deutscher Autor mit Finnland «als zweiter Heimat», wie der Verlag mitteilt. Im Buch knirscht der finnische Schnee, und der Himmel spiegelt sich im finnischen See: «Sie sprang auf und sprang in graues Wasser. Grau der hellblaue Himmel.» Wir haben es hier mit Spiegelungen zu tun, in der hellblau nicht hellblau bleibt, sondern grau wird. Die hauptsächliche Spiegelung allerdings ist die des Mörders im Polizisten. Wagner radikalisiert die Affinität von Täter und Ermittler: Der Polizist Kimmo Joentaa hat seine Frau an den Krebs verloren. Deshalb hat er ein intimes Verhältnis zum Tod, und das teilt er mit dem Mörder. Der Polizist hat den Tod eines anderen Menschen, seiner Frau, erlitten. Der Mörder bringt anderen Menschen, auch seiner Geliebten, den Tod.
Diese Nähe ereignet sich nicht bloß, sie muss literarisch extra betont werden, damit der blöde Leser nicht auf andere Ideen kommt: «‹Manchmal bilde ich mir ein, dass ich ihm irgendwie nahe bin.› – ‹Wem?› – ‹Dem Mörder.›» Der Mörder selbst ist eine dialektische Konstruktion. Einerseits identifiziert er sich mit der Macht über Leben und Tod: «Er war unsterblich. Er war der Tod.» Andererseits dürstet er nach dem Leben, kann aber nicht anders, als alle von ihm empfundene Lebendigkeit zur Quelle seiner Mordlust zu machen. Es ist nicht zu glauben, aber die Identifikation mit seiner ihm bald zum Opfer fallenden Geliebten geschieht antithetisch: «Sie war ganz anders als er, sie war das Gegenteil von ihm selbst. Sie war das Leben.»
So ist das Ganze, wie das Genre Kriminalroman ja überhaupt, eine Geschichte von Leben und Tod. Aber Jan Costin Wagner arbeitet sich an der Metaphysik ab. In der abendländischen Metaphysik ist der Tod, an den Sinn des Lebens gekoppelt, die Nummer Eins. Ja, ja, wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war vergebens. Die Binse irrlichtert wegweisend like a candle in the wind. «Wenn der Tod keinen Sinn hatte, hatte auch das Leben kein Sinn», heißt es einschlägig bei Wagner. Die Pendelbewegung von Leben und Tod, dieses Hin und Zurück der Letzten Dinge, ist eine Versuchung für Schriftsteller, sich das Schwerste leicht zu machen.
Nach einem klassischen Diktum resultiert beim gelungenen Kriminalroman die Psychologie aus der Action und nicht umgekehrt die Action aus der Psychologie. Wagners Mörder schwankt zwischen Depression und Grandiosität, und zwar auf der Basis einer Regression, die zu einer Art von Borderline-Zustand führt. Der Polizist dagegen leidet schlicht unter einer reaktiven Depression. Gelegentlich stürzt er in «tiefes Schwarz» hinab, und in der Parallelaktion mit dem Täter bleibt auch ihm der Tod als belebender Reiz: Einer Toten ins Gesicht sehend, «hatte er begriffen, dass der Mord, der Tod eines Menschen, ihm Leben eingehaucht hatte».
«Eismond» parasitiert von den auratischen Funken, die sich aus Psychopathologie und Metaphysik herausschlagen lassen. In diesem Rahmen ist das Buch nicht der schlechteste Kriminalroman. Als Autor würde ich den ausgesprochenen Dank an den Lektor zart mildern. Ist schon die Wendung: «Tina war ohne Zweifel außerordentlich reizvoll» genau dieses nicht, so ist die Wiederkehr des Gleichen als Requiem auf eine Tote («Jaana Ilander war ohne Zweifel außerordentlich reizvoll gewesen») ohne Zweifel unfreiwillig komisch. Aber am meisten hat mich die Leidenschaft des Autors für eine Metapher amüsiert, die nicht nur durch ihren häufigen Gebrauch in Schieflage gerät: Züge von Gesichtern werden «eingeatmet», und zwar nicht nur einmal. «Inhaliert» wird auch nicht wenig, zum Beispiel die Angst oder die Macht, aber dann – ich glaube nach Seite 180 – verschwindet die Metapher, wie von Gottes Hand aus dem Text gestrichen.
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