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Wahlkampf 2013 - Merkels riskantes Spiel

Welche Strategien verfolgen die Parteien im Bundestagswahlkampf 2013? Wie stehen ihre Chancen? Politikberater Ralf Tils analysiert, wie Merkel politische Debatten aussitzt. Das trägt zur Entpolitisierung der Deutschen bei

Autoreninfo

Dr. Ralf Tils ist Mitarbeiter in der Agentur für politische Strategie (APOS). Er arbeitet zudem am Zentrum für Demokratieforschung an der Leuphana Universität Lüneburg. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Regierungsforschung und Strategieanalyse.

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Dieser Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages im Rahmen der Fachkonferenz „Wahlkampf-Strategien 2013 – Das Hochamt der Demokratie” . Mehr Informationen unter www.talk-republik.de und www.otto-brenner-stiftung.de

Wer den Bundestagswahlkampf 2013 verstehen will, muss ihn von Angela Merkel aus denken. Sie ist die dominierende Spielerin der Wahlauseinandersetzung und zentraler Angelpunkt fast aller strategischen Überlegungen – sowohl innerhalb ihrer eigenen Partei als auch bei den politischen Verbündeten und Gegnern. Trotz aller Dominanz: Als Siegerin der Bundestagswahl steht die Kanzlerin noch nicht fest. Dafür ist ihr Spiel zu riskant. Merkels Chancenpotentiale sind dennoch groß. Das Ziel, auf das sie ihr gesamtes politisches Handeln ausrichtet, ist klar: strategische Mehrheitsfähigkeit. Sie soll Merkel vier weitere Jahre die Kanzlerschaft sichern und eine Mehrheit jenseits der Union verhindern. Wer unter ihr regiert, ist nachrangig. Vieles spricht aus ihrer Sicht eher für die SPD als für die FDP.

In drei Schritten sollen hier die Strategien und Chancenpotentiale der Parteien im Bundestagswahlkampf 2013 skizziert werden, bevor am Schluss ein Verweis auf die hohen politischen Kosten der Merkel-Strategie notwendig erscheint. Am Anfang stehen, wie immer, die Wähler. Denn eine Wahl strategisch lesen und begreifen kann nur, wer weiß, was die Wähler wollen.

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Das Wahlvolk verstehen

Die deutsche Gesellschaft prägen drei Mehrheiten mit unterschiedlichen Trägern. Sie bilden das Erwartungsspektrum der Wähler in zentralen Feldern ab. Gewonnen werden die drei Mehrheiten über zugerechnete Parteikompetenzen. Die ökonomische Mehrheit dominiert Schwarz-Gelb. Die soziale und kulturelle Mehrheit gewinnen Rot-Grün. In Deutschland existiert also eine schwarz-gelbe Ökonomie in rot-grüner Gesellschaft. Ginge es allein nach der sozialen und kulturellen Mehrheit, würde Deutschland auf lange Sicht von SPD und Grünen regiert. Dafür bräuchten sie noch nicht einmal die Linkspartei.

Am liebsten würden die Deutschen es bei der Wahl wie im Supermarkt halten: einfach von jedem das nehmen, was ihnen gefällt. Sie wüssten, was sie wählen würden: die Merkel in den Korb, dazu ihre Euro-Politik, von der SPD den Mindestlohn und die Kitas (statt Betreuungsgeld), von den Grünen die Energiewende. Allein von der FDP und der Linkspartei brauchen sie diesmal nichts wirklich dringend. Nur wissen wir: Das wahre Leben der Politik ist kein Supermarkt. Die Wähler müssen Parteien wählen. Und die müssen ihnen ein Gesamtangebot für die drei Mehrheitsfelder machen, das sie von der Konkurrenz unterscheidet. Das ist die Aufgabe der Wahlkampfstrategien.

Die Kanzlerin und ihre Partei dominieren den Bundestagswahlkampf 2013. Die CSU darf in Bayern ihr eigenes Spiel spielen und soll dort, auch für die Bundespartei, Mobilisierungsleistungen erbringen. Die CDU lebt zurzeit von drei Stärken: Merkel, Euro-Politik, Ökonomiekompetenz. Das sind die drei Pfeiler, auf denen ihre Wahlkampagne steht. Aus dieser Lage heraus verfolgt die Partei eine Doppelstrategie. Sie besteht erstens in der Anpassung auf fremdem Terrain, bei den kulturellen und sozialen Themen. Atomenergie und Mindestlohn waren nur der Auftakt einer erneuten asymmetrischen Demobilisierung, die bei Frauenquote, Finanzmarktkontrolle oder Mietpreisbegrenzung ihre Fortsetzung findet. Zweitens beinhaltet die Strategie Angriffe auf dem eigenen Terrain, dem christdemokratischen Stärkefeld der Ökonomie. Hier versucht die Union Negativ-Images der Gegner zu aktivieren, indem sie Grüne, Linkspartei und Sozialdemokraten als Steuererhöhungs-, Staats- und Umverteilungsparteien attackiert. Dieser zweifache Ansatz soll im Wesentlichen genügen, um die reduzierten strategischen Ziele der Kanzlerin zu erreichen.

Die Tarnkappenstrategie der Kanzlerin macht es für die SPD schwer, mit ihren Themen durchzudringen. Die Sozialdemokraten versuchen permanent anzugreifen, die Kanzlerin pariert durch inhaltliche Anpassung. Die SPD kann nur erfolgreich sein, wenn sie ihren Vorsprung bei der sozialen und kulturellen Mehrheit deutlich machen kann und – vor allem – ergänzt um ökonomische Stärke. Das wirtschaftliche Feld müssen die Sozialdemokraten zumindest neutralisieren, sonst entscheidet die bürgerlich dominierte Ökonomie-Mehrheit die Wahl. Nur mit sozialen und kulturellen Themen gewinnt Mitte-links nicht. Der Dreiklang der SPD-Strategie aus Wirtschaft mit sozialer Verantwortung (ökonomisch), Gerechtigkeit (sozial) und Zusammenhalt (kulturell) erreicht die Wähler bislang nicht. Vielmehr dominiert das vom Gegner und den Medien gezeichnete Bild eines Linksschwenks von Partei und Kanzlerkandidat. Bleibt das so, wird es schwer für die SPD.

Die FDP muss sich vor allem um sich selbst kümmern. Sie kämpft ums nackte Überleben – als Regierungs- und sogar als Parlamentspartei. Die Liberalen versuchen das vor allem mit zwei Rettungsankern: ihrer Rolle als Mehrheitsbeschaffer einer bürgerlichen Regierung (Funktionspartei) und ihrem letzten verbliebenen Kompetenzkern, dem Wirtschaftsliberalismus. Wahrscheinlich wird das für den Einzug in den Bundestag sogar reichen.

Den Grünen geht es eigentlich nicht schlecht. Angesichts ihrer demoskopischen Werte im Vergleich zur letzten Bundestagswahl strotzen sie vor eigener Kraft. Die grüne Wahlstrategie enthält Sicherheits- und Risikoelemente. Das Sicherheitselement liegt darin, die Kernwähler mit klassischen grünen Themen wie der Energiewende (als Nachfolgethema der Atompolitik), sozialer Gerechtigkeit und moderner Gesellschaft zu gewinnen. Ungewisser ist der Ausgang beim Risikoelement, den Steuererhöhungsplänen. Sie sind Teil einer Strategie der Wählererweiterung, bei der Steuererhöhungen – auch – gegen das Kernklientel zugunsten des weiteren Wählerpotentials ärmerer Grün-Sympathisanten vorgesehen sind, für die die grüne Sozialpolitik (Armutsbekämpfung, Alterssicherung) auch eigene materielle Vorteile bringt. Wie weit die altruistischen Orientierungen der grünen Kernwähler reichen (auch gegen den eigenen Geldbeutel), bleibt hier die offene Frage.

Die Linkspartei ist zurzeit nur Zaungast, steht am Rand des Wahlkampfrings und kann beim Machtspiel der anderen lediglich zuschauen. Sie hat sich allerdings innerparteilich stabilisiert und bindet mit ihren klassischen Themen Soziales, Frieden und Osten weiterhin 6-8 Prozent Wählerstimmen. Eine machtpolitische Perspektive wird sich für sie erst bei der Bundestagswahl 2017 ergeben können – je nach Ergebnis und Bewegungen im Parteiensystem nach dieser Wahl.

Die Piraten schauen etwas sehnsüchtig auf die glücklichen Tage, in denen sie mit ihren drei Sympathisantenkreisen kurzzeitig das Parteiensystem durcheinanderwirbelten: netzpolitischer Kern, generationsspezifische Erfahrung von Internet als Lebenswelt, Protest. Da fuhr das Schiff noch volle Kraft voraus. Heute sind die Piraten, nachdem sie sich selbst fast zerlegt haben, weniger seetüchtig. Ihre Themen bleiben. Die Frage ist nur, ob sie nach Auffassung der Wähler auch die Lösung dafür sind. Das Protestelement hat heute einen neuen Fokus gefunden und wurde in dieser Hinsicht vor allem von der Alternative für Deutschland (AfD) übernommen.

Die AfD ist ein interessantes Projekt. Es ist eine Ein-Punkt-Protest-Partei ohne populistischen Führer zum Top-Thema Euro. Allerdings hat die Partei nur ein thematisches Standbein. Deswegen wird sie eher unter 5 Prozent bleiben. Ist die AfD ein Problem für die Konkurrenz? Debatten dazu gab es vor allem in der Union. Soll man die neue Konkurrenz totschweigen oder doch lieber angreifen? Für eine strategische Antwort auf diese Frage ist es sinnvoll, zum argumentativen Ausgangspunkt dieses Beitrags zurückzukehren: Wer diesen Bundestagswahlkampf verstehen will, muss ihn von Merkel aus denken. Die Kanzlerin möchte keine aktive Konfrontation mit der AfD. Das passt erstens nicht zu ihrem präsidialen Regierungsstil. Zweitens, wahrscheinlich noch wichtiger, kann es ihr nur Recht sein, wenn die AfD mit 2-3 Prozentpunkten Schwarz-Gelb verhindern sollte. Eine Große Koalition ist für die Kanzlerin attraktiver als eine Fortsetzung des Konfliktbündnisses mit der FDP.

Im nächsten Schritt wollen wir sehen, über welche Chancenpotentiale die Parteien in konkurrenzpolitischer Perspektive verfügen. Dabei fällt der Blick zunächst auf die beiden Großparteien, über deren Kräfteverhältnis sich die Bundestagswahl 2013 entscheidet.

Viel spricht zurzeit für eine strategische Mehrheitsfähigkeit der CDU. Der wichtigste Grund ist die Euro-Politik der Kanzlerin. Zwar ist die Währungsfrage medial nicht immer voll präsent, sie bleibt aber für die Wähler im Hintergrund von höchster Bedeutung. Die Politik des Euro-Egoismus der Kanzlerin ist für ihre Gegner unantastbar, weil die Deutschen in dieser Frage im Wesentlichen drei Dinge denken: Erstens, Merkel hält unser Geld zusammen. Zweitens haben wir Deutsche bereits genug europäische Solidarität gezeigt. Weil wir das Geld geben, dürfen wir, drittens, auch sagen, was die Südländer tun sollen.

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Ein weiterer Grund für die Stärke der CDU ist Angela Merkel selbst. Uneitel, verlässlich, sachlich, so das öffentliche Bild der Kanzlerin. Klug und fleißig ist sie ohnehin. Negative Lesarten ihres politischen Erscheinungsbilds wie Wankelmut, Opportunismus oder Verschleierung der eigenen Absichten stehen, auch Dank freundlicher medialer Berichterstattung, weniger im Vordergrund. Die Deutschen mögen Merkel, vielleicht auch, weil sie ähnlich ist, wie sie selbst: auffällig normal, ein wenig bieder, in kleinen Schritten vorantastend.

Der dritte Grund für den Chancenvorteil der Union ist die aktuelle Zufriedenheit der Deutschen mit sich und der Welt. Es ist eine „sorgenvolle Zufriedenheit“, bei der die Ängste um den Euro, die Bildungschancen der Kinder und vor dem eigenen Abstieg den Sorgen-Pol bilden, der aber im Moment vom Kern ökonomischer Zufriedenheit verdrängt wird. Bleibt es dabei, ist eine wahlentscheidende Wechselstimmung der Deutschen trotz verbreiteter Unzufriedenheit mit der schwarz-gelben Regierungskoalition unwahrscheinlich.

Es gibt aber auch Risiken bei Merkels Solo-Show. Die ökonomische Ein-Punkt-Strategie könnte wie 2002 in eine Sackgasse führen, als dem damaligen Spitzenkandidaten Edmund Stoiber neben der Wirtschaftspolitik ein weiteres Thema fehlte und Gerhard Schröder ihn mit seiner Friedens- und Flutpolitik plötzlich nackt dastehen ließ. Erste Anzeichen von Nervosität und Unsicherheit sind bei der Union inzwischen sichtbar geworden. Die neuen, teuren (und nicht gegenfinanzierten) Wahlversprechen sind Ausdruck davon. Die anlasslose Thematisierung der inneren Sicherheit deutet auf einen zusätzlich geplanten Wahlkampfschlager der CDU hin. Es wäre der Versuch, den letzten verbliebenen Trumpf der Union (neben der Ökonomie), das christdemokratische Kompetenzfeld innere Sicherheit, im Wahlkampf auszuspielen. Es bleibt aber dabei: Das kulturelle und soziale Feld kann Merkel nur neutralisieren, was sie mit Hilfe ihrer Demobilisierungsstrategie auch nach Kräften versucht. Ein weiteres Risiko der CDU-Kampagne ist die Kommunikationsschwäche der Kanzlerin. Bislang kommt dieses Defizit nicht zum Tragen, weil die Merkel-Union unangefochten scheint. Sobald aber etwas Unvorhergesehenes passiert und die Deutschen doch am Glanz der Kanzlerin zweifeln lässt, kann das noch zum Problem für die CDU werden.

Die SPD hat bei der Bundestagswahl nur gute Chancen, wenn die Innenpolitik in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückt, wenn der Schwerpunkt bei sozialen und kulturellen Themen liegt (Familie, Bildung, Wohnen, Arm-Reich-Schere). Nur dann können die Sozialdemokraten in die Offensive kommen und die Politik der Kanzlerin angreifen. Das sozialdemokratische Problem liegt in der Euro-Dominanz, bei der die Opposition (gegen die Mehrheitsauffassung in der Bevölkerung) nicht gewinnen kann und die Deutschen ihr gegenüber misstrauisch bleiben. Die Erfolgsformel der SPD liegt in einer glaubwürdigen Verbindung ökonomischer, sozialer und kultureller Kompetenz. Bislang konnte das Ökonomiepotential des Kanzlerkandidaten Steinbrück in der sozialdemokratisch notwendigen Verknüpfung mit dem Sozialen nicht ausgeschöpft werden. Politische und mediale Gegner arbeiten daran, Steinbrück aus dem bürgerlich-ökonomischen Feld zu drücken.

Der Dreh geht so: Die SPD hat einen programmatischen Linksschwenk vollzogen, Steinbrück folgt dem opportunistisch, obwohl er lange ein Mann der bürgerlichen Mitte und Ökonomie war, deswegen kann man Steinbrück heute nicht mehr wählen. Ihm fehlt es an Glaubwürdigkeit. Damit kann die SPD bislang das Potential und die Stoßrichtung des Kandidaten Steinbrück nicht voll nutzen. Es liegt (neben einer Mobilisierung der sozialdemokratischen Kernwählerschaft und des Wartesaals ehemaliger SPD-Anhänger) darin, die Entfremdung eines Teils der bürgerlichen Wähler von der Merkel-CDU für die SPD fruchtbar zu machen. Dieser Ansatz geht bisher wegen des Euro-Trumpfs bei der Kanzlerin und der Schwächung Steinbrücks in seinem rhetorischen Angriffspotential weitgehend ins Leere.

Die Grünen sind eigentlich gut aufgestellt. Das größte Plus ist ihre Glaubwürdigkeit bei Themen und Positionen. Die Grünen sind in der Wahrnehmung der Wähler die ehrlichste Partei. Die Stärken der Partei liegen im Bereich der sozialen und kulturellen Mehrheit (z.B. Gerechtigkeitsthemen, Gleichstellungspolitik, offene Gesellschaft). Die Grünen zeigen sich angriffslustig gegenüber der Politik der Kanzlerin. Sie haben es in dieser Hinsicht aber angesichts ihrer Wähler leichter als etwa die Sozialdemokratie. Dennoch ist auch das Leben der Grünen nicht völlig unbeschwert. Über ihnen schwebt das Koalitionsrisiko, das parteiintern wieder aufbrechen kann, wenn Rot-Grün in den Wochen vor der Wahl nicht in den Bereich einer Machtchance kommt. Viele Grüne fühlen sich zu stark, um nur für ein unrealistisch werdendes Rot-Grün still zu halten. Bislang hat die Parteispitze den in der Partei unter der Oberfläche schwelenden Koalitionsstreit (Rot-Grün-Rot oder Schwarz-Grün) kontrollieren können. Gut läuft es für die Partei, wenn dieser Streit erst nach der (für Rot-Grün möglicherweise verlorenen) Bundestagswahl aufbricht.

Auch das Risiko der grünen Steuererhöhungspläne ist noch nicht ausgestanden. Hier wird alles davon abhängen, wer im Sommer die Thematisierungs- und Framing-Schlacht beim Thema Steuern für sich entscheiden kann: ob wir nur über Steuererhöhungen und die potentielle Betroffenheit der Mittelschichten streiten oder auch über Steuerhinterziehung und die Verwendung von Steuereinnahmen für öffentliche Güter (Bildung, Infrastruktur, Staatshaushalt) diskutieren. Schließlich bleibt das Risiko der gegnerbetriebenen Thematisierung von Energiepreisen. Zwar haben die Grünen in diesem Feld die höchsten Kompetenzwerte, aber auch eine etwas komplizierte Argumentation, wenn den Bürgern die Energiekosten irgendwann zu teuer erscheinen.

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Die FDP kann bei der Bundestagswahl möglicherweise von der Lagerorientierung bürgerlicher Wähler profitieren (wie in Niedersachsen). Es gibt immer noch einen Teil der Wähler, für den Rot-Grün ein Schreckgespenst ist. Die FDP stellt aus ihrer Sicht die Funktionspartei zur Rettung einer bürgerlichen Regierung dar. Viel wird für die FDP von den demoskopischen Werten in den Wochen vor der Wahl und dem Ergebnis in Bayern abhängen: Gute Werte könnten gefährlich demobilisierend wirken (und der Union Stimmenzuwächse bringen), schlechte Werte das Überlebensthema als Mobilisierungshilfe reaktiveren, aussichtlose Werte sogar das außerparlamentarische Schicksal der Partei besiegeln (wer will schon seine Stimme nutzlos verschenken?). Gegen die FDP spricht nach wie vor die große Leistungsenttäuschung ihrer Anhänger wegen der nicht eingehaltenen Wahlversprechen von 2009 und ihrer schlechten Regierungsperformanz. Dazu kommen eine Themenarmut, die über Wirtschaft nicht hinausführt, und ein Wahlkampf-Spitzenduo (Rösler/Brüderle), das bei den demoskopisch bewerteten Politikern die letzten beiden Plätze belegt.

Die Linkspartei geht gestärkt aus ihrer innerparteilichen Konsolidierungsphase hervor und verfügt nach wie vor über eine ausgezeichnete Ostverankerung. Ihre Chancenpotentiale bleiben bei dieser Wahl aufgrund der fehlenden Machtperspektive im Bund jedoch reduziert. Die Piratenthemen sind zwar immer noch gesellschaftlich relevant, aber in ihrer Wahlbedeutung begrenzt. Vor allem aber schwächt die Piratenpartei ihre beschränkte eigene kollektive Handlungsfähigkeit. Die AfD hat zwar ein Sprengkraftthema, aber nichts darüber hinaus. Das könnte insgesamt zu wenig sein.

Wie lässt sich politische Gesamtkonstellation vor der Bundestagswahl 2013 in aller Kürze empirisch-analytisch fassen? Es gibt eigentlich immer noch zwei Lager in Deutschland, ein bürgerliches und ein linkes. In der Orientierung vieler Bürger ist die Lagerstruktur des deutschen Parteiensystems (operationalisiert über Koalitionspräferenzen) sehr wohl wirkungsmächtig. So brauchte es etwa bei der Niedersachsenwahl am Anfang dieses Jahres nur wenige Signale, um die bürgerlichen Wähler an die großen Machtvorteile einer kleinen Stimmenumverteilung von der Union zur FDP zu erinnern – mit der Folge eines nichts kalkulierbaren, erdrutschartigen Stimmenzuwachses bei den Liberalen, deren Wähler zu großen Teilen eigentlich CDU-Anhänger waren. Auch die Wähler von SPD und Grünen zeigen sich bei ihren Koalitionspräferenzen als ausgewiesene Lagersympathisanten (schwächer, unter dem Koalitionsaspekt, die Wähler der Linkspartei).

Politisch funktionieren die Lager beide nicht richtig. Das Gesamtlager links der Mitte ist blockiert, weil die Akteure (zum Teil auch die Präferenzen der Wähler) die Linkspartei außerhalb der Koalitionsreichweite sehen. Das linke Lager ist damit nur in seinem rot-grünen Kern funktionsfähig, aber die Parteien einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit von Mitte-Links, die bei Issues erkennbar wird, zeigen sich bislang nicht willens und in der Lage, eine politische Mehrheit zu organisieren (hinkendes Lager). Das rechte Lager, das bei der Umverteilung von Wählerstimmen so gut funktioniert, zerbricht gerade durch gegenseitige Entfremdung in der Regierung (Konfliktbündnis). Was wird die Folge der verdrängten Lageralternativen bei der Bundestagswahl 2013 sein? Wahrscheinlich die von beiden Lagern verschmähte Alternative einer breiten Mitte, das heißt die Große Koalition.

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Normativ betrachtet ist zu befürchten, dass die Merkel-Strategie dieser Wahl nicht ohne politische Kosten bleibt. Das vor allem von der Kanzlerin forcierte Kleinreden von politischen Kontroversen und ihr Zufriedenheitsansatz entlassen die Deutschen aus ihrer „politischen Verantwortung“. Merkels normative Beliebigkeit („Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial“) bei gleichzeitiger „Alternativlosigkeit“, wohin man auch schaut, treiben die Entpolitisierung der deutschen Gesellschaft voran. Die Deutschen sind nicht abgeneigt, bei guter eigener Lage zu privatisieren und den Blick allenfalls auf Konflikte in ihrer unmittelbaren Umgebung zu richten. Gern geben sie ihre politische Gesamtverantwortung an die Kanzlerin ab, bei der sie Deutschland in guten Händen meinen. Eine Entpolitisierung dieser Art tut dem Land nicht gut. Deswegen steht hier am Schluss ein Appell für eine funktionierende Demokratie: Es ist die Aufgabe der politischen Parteien, klare politische Alternativen aufzuzeigen und die Unterschiede in ihren Positionen deutlich zu machen, nicht zu verschleiern. Dann müssen sich die Bürger und nur dann können sie am 22. September 2013 inhaltlich-rational entscheiden.

 

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