- Und ewig grüßt der deutsche Spießer
Unser Autor Reinhard Mohr könnte sich als Bewohner des Prenzlauer Berges mit südhessischem Migrationshintergrund eigentlich raushalten aus der ganzen Sache mit Thierse und seiner Schwaben-Beschwerde. Will er aber nicht. Ein Kommentar
Ich als gebürtiger Frankfurter mit südhessischem Migrationshintergrund könnte mich ja eigentlich raushalten. Zwar lebe ich nur etwa 200 Meter Luftlinie von Wolfgang Thierses Schwaben-Inferno am Kollwitzplatz entfernt, aber mich kann er ja nicht gemeint haben mit seiner Tirade gegen die unerträgliche Okkupation aus Süddeutschland. Ich bin weder Zahnarzt noch Notar, und meine Mietwohnung ist gentrifizierungstechnisch eher unauffällig. Die Miete ist sehr zivil, und die alten Dielen knarren trittschallfreundlich von Nachbar zu Nachbar. Weder verfüge ich über ein Designerbad noch über einen Hängekamin, und im Winter zieht’s schon mal wie Hechtsuppe durch die alten Fensterritzen. Ich bin sozial bestens integriert, kaufe in den umliegenden Läden ein, rede mit Ureinwohnern, grüße stets die beiden Blumenfrauen, die zu DDR-Zeiten Straßenbahnfahrerinnen waren, und habe nach bald 15 Jahren in der Hauptstadt längst begonnen, ein bisschen zu berlinern, wenn’s dem Gemüt zupass kommt. [gallery:20 Gründe, die Schwaben zu lieben]
Und wenn ich mich ehrlich prüfe, muss ich zugeben: Ich kann mich gar nicht erinnern, auf der Straße überhaupt je den schwäbischen Dialekt gehört zu haben – dafür aber ganz viel spanisch und italienisch, englisch und französisch. Apropos Straße: Auch von der Einführung der schwäbischen „Kehrwoche“ ist hier so wenig zu sehen wie von korrekter Steuermoral in Griechenland. Im „Edeka“ sehe ich Sophia Thomalla auf High Heels vor dem Milchregal, und auf dem Wochenmarkt begegnet mir Jürgen Trittin aus Göttingen. Letztens spazierte Alfred Biolek (Migrationshintergrund Köln) vorbei. Am Samstagnachmittag vereinen sich alle vor dem Irish Pub in der Husemannstraße, um Bundesliga live zu gucken. Dann hört man viel Fachsimpelei auf Berlinerisch, nicht nur von „Hertha“- und „Eisern-Union“-Anhängern. Und ja: Auch ein paar Fans von Eintracht Frankfurt sind dabei. „Multikulti lebt!“ würde Claudia Roth angesichts dieser herrlichen Vielfalt jubeln.
Nur einer schmollt. Wolfgang Thierse kann einfach nicht ertragen, dass sich so viele Fremde in seinem angestammten Revier herumtreiben, dabei auch noch sesshaft geworden sind, hunderte von Millionen Euro investiert haben, mit denen ganze Straßenzüge saniert wurden, und beim Bäcker „Wecken“ statt „Schrippen“ bestellen. Wer mag da noch von harmlosen Brötchen reden? Hier geht es ums Volksganze, ethnologisch gesprochen.
Zwar ist der fast Siebzigjährige in Breslau geboren worden und im schönen Thüringen aufgewachsen, aber längst hat sich der inoffizielle Häuptling Zottelbart des Ostberliner Heimatschutzes zum ersten Verteidiger aller Vertriebenen und Entrechteten aufgeschwungen und kämpft tapfer gegen die Überfremdung der Urberliner Ackerkrume, wo alle zehn Meter die Hundescheiße dampft wie Currywurst und Mutterwitz. Inzwischen hat er sogar militante Konkurrenz bekommen. Seit einiger Zeit tobt sich eine Gruppe mit dem Namen „Totaler Schwabenhass“ (TSH) mit der Spraydose aus. „Schwaben abschlachten!“ stand da in roter Farbe an einer Mauer des Kinderspielplatzes, gerne auch „Tötet Schwaben!“ oder „Yuppies töten!“. Ausgerechnet an der Fassade des Restaurants „Heimatlos“, das von Iranern geführt wurde, prangte wochenlang „Schwaben raus!“ und „Schwaben-Fotze!“. Niemand griff hier zu Farbe und Pinsel, um den faschistoiden Dreck zu beseitigen, nicht einmal ein imaginäres Geheimkommando „Sauberer Prenzlberg“ mit Dienstsitz in Schwäbisch Gmünd.
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Wie hurtig hätte wohl Wolfgang Thierse, der antifaschistisch-weltoffene Kämpfer an allen Fronten, einen Skandal ausgerufen, hätten die Heimatschützer einer obskuren „Kiezmiliz“ Tötet Türken! und Araber raus! gesprüht? Es hätte Mahnwachen und Lichterketten gegeben, und das „Nie wieder!“ wäre über den Kollwitzplatz geflogen wie die sprichwörtlichen Eulen nach Athen. Der Bundestagsvizepräsident hätte Dichterlesungen gegen den verheerenden „Sarrazin-Virus“ organisiert und eine Spontandemo rund um den Kollwitzplatz angeführt. Motto: „Nie wieder Rassismus! Kein Mensch ist illegal – nirgendwo!“ [gallery:20 Gründe, die Schwaben zu lieben]
Außer dem Schwaben natürlich. Der soll nach Hause gehen und samstags, wie er es seit alters her gewohnt ist, die Hausmülltonne von innen reinigen. Den Schwaben will man hier nicht sehen. Wenn er aufgrund eines winterlichen Abschiebeverbots vorerst doch bleiben kann, soll er sich möglichst unsichtbar machen, sich assimilieren und seine autochthonen Riten – Trollinger-Viertele schlotzen, Butterbrezel spachteln, Jagdwaffen reinigen und in der Garage stundenlang am Motor herumtüfteln – bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit zelebrieren. Sonst käme der Schwabe womöglich noch auf die Idee, herauskriegen zu wollen, warum die famosen Rolltreppen am Berliner „Großflughafen“ BER Willy Brandt zu kurz geraten sind. Heiland Sack, Gott bewahre!
In einer ruhigen, intellektuell erleuchteten Millisekunde müsste natürlich auch dem Kulturwissenschaftler Thierse bewusst sein, dass „der Schwabe“ ein dummes rassistisches Konstrukt ist, das dem Spießer aller Herkunftsgebiete, ob links oder rechts drehend, die Möglichkeit gibt, seine unverdauten Konflikte als Ressentiment gegenüber einer Minderheit auszuleben. Nicht auszudenken, wenn der Schwabe noch einen ganz anderen Migrationshintergrund hätte. Frei nach Dani Levys Spielfilm „Alles auf Zucker“: „Jetzt soll er auch noch Jude sein!“
Kein Zufall übrigens, dass die in der Schweiz teils ungeliebten Deutschen summarisch als „Schwobe“ bezeichnet werden. So fallen auch ethnisch reine Hamburger, Münchner und Berliner unter die despektierliche Sammelbezeichnung. Ironie dieser schrägen Völkerkunde: Schwaben und Deutsch-Schweizer sind durch ihre alemannischen Wurzeln phylogenetisch verbunden.
Aber so ist das, wenn der geborene Gutmensch über Wecken und Schrippen in Rage gerät: Dann ist der Abgrund nicht weit.
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