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Merkels Ehrlichkeit in der Flüchtlingskrise - Klartext statt Propaganda

Merkels Flüchtlingspolitik ist ehrlich und realistisch, sagt Andreas Theyssen. Die globale Flüchtlingskrise ließe sich eben nicht mit rein deutschen Mitteln lösen. Er fordert sichere Rückzugsgebiete für Kriegsflüchtlinge nach dem Vorbild der Uno-Schutzzonen

Autoreninfo

Andreas Theyssen ist einer der beiden Gründer der Website opinion-club.com, eines digitalen Debattierclubs, der auf Kommentare, Analysen und Glossen spezialisiert ist.

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Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ist hochumstritten. Dabei ist sie einer der wenigen Politiker, die uns wirklich reinen Wein einschenken. Dennoch hat auch sie mich schon belogen. Nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach.

Das erste Mal ist fast auf den Tag genau 26 Jahre her. Ost-Berlin, Februar 1990, „Haus der Demokratie“an der Friedrichstraße, in dem die neuen DDR-Oppositionsparteien ihre Büros haben. Ich irre durch die Gänge, suche die Räume des „Demokratischen Aufbruchs“(DA), jener Partei, die am Tropf von Helmut Kohls CDU hängt, und der damals die besten Chancen vorausgesagt werden, die erste freie Volkskammerwahl zu gewinnen.

Eine junge Frau kommt mir entgegen, sehr eilig. Ich frage sie dennoch, wo es zu den DA-Büros geht. Sie reißt hektisch die Arme hoch und ruft im Vorbeilaufen: „Weiß ich auch nicht.“

Ein paar Tage später erfahre ich, wer die Frau war: Angela Merkel, Pressesprecherin des „Demokratischen Aufbruchs“.

Die Deutschen mögen keine Reformen und keine Ehrlichkeit
 

Das nächste Mal betrog mich Angela Merkel nach ihrer Wahl zur Kanzlerin. Im Wahlkampf war sie angetreten mit einem knallharten Reformprogramm, hatte dort sogar für Steuererhöhungen geworben. Das war ehrlich, das war Politik, wie sie sein sollte.

Sie gewann die Wahl nur knapp und zog für sich den Schluss, dass die Deutschen keine Reformen und keine Ehrlichkeit mögen. Und fortan erlebte ich eine Kanzlerin, die nicht reformierte, sondern verwaltete.

Dann verschaukelte sie mich mit dem Atomausstieg. Erst machte sie den rot-grünen Abschied von der Kernkraft rückgängig - um nur ein halbes Jahr später, kurz nach der Katastrophe von Fukushima, die Energiewende und damit den Abschied vom Atomstrom auszurufen.

Merkels Ehrlichkeit in der Flüchtlingskrise
 

Und nun die Flüchtlingskrise. Da ist eine andere Merkel am Werk. Die Merkel aus dem Jahr 2005, die ehrliche, die realistische. Eine, die den Wählern nichts vormacht, sondern Klartext spricht. Und dieser Klartext besagt, dass es keine einfache oder kurzfristige Lösung gibt, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen.

Es gibt derzeit reichlich Politiker - von Horst Seehofer bis Frauke Petry -, die den Deutschen vorgaukeln, mit ein paar kleinen Maßnahmen wie einer Obergrenze oder Grenzsicherung oder gar Schusswaffengebrauch könne man die Flüchtlinge stoppen. Es sind Scheinlösungen, die Merkel nicht propagiert. Anders als Seehofer oder Petry macht sie in diesem Punkt niemandem etwas vor.

Beispiel Obergrenze. Das Asylrecht im Grundgesetz sieht keine Obergrenze vor. Jeder, der an der deutschen Grenze auftaucht und nur das Wort „Asyl“ sagt, muss aufgenommen werden, damit geprüft wird, ob er Anspruch hat. Das ist geltendes Recht, und würde Merkel - oder welcher Kanzler auch immer - eine Obergrenze für Flüchtlinge einführen, würde sie gegen das Grundgesetz verstoßen. Und die Verfassungsrichter in Karlsruhe jedem Politiker die Obergrenze um die Ohren hauen.

Deutschland ist ausschließlich von so genannten sicheren Drittstaaten umgeben. Insofern kann man den Standpunkt vertreten, dass kein einziger Asylbewerber aufgenommen werden muss. Nur: Dies würde bedeuten, dass es einen Flüchtlingsrückstau gibt. Länder wie Griechenland, Mazedonien, Serbien, aber auch Spanien und Italien müssten den Flüchtlingsstrom nahezu alleine bewältigen und würden möglicherweise - die Balkanländer ganz sicher - kollabieren. Was wiederum weitere Flüchtlingswellen kreieren würde. Was auch wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland mit seiner Exportindustrie haben würde.

Eine Grenzsicherung mit Waffen wäre illegal
 

Beispiel Grenzschließung. Natürlich kann man an allen deutschen Außengrenzen - wie derzeit an der deutsch-österreichischen Grenze - wieder Kontrollen einführen. Nur, was würde es bringen? Die Flüchtlinge suchen sich einen Weg über die grüne Grenze, und die ist nicht zu bewachen. Nicht mit Zäunen, da die sich durchschneiden lassen. Nicht mit Personal, es sei denn, man stellt alle 50 Meter 24 Stunden lang einen Bundespolizisten auf; bei 3757 Kilometern deutscher Grenze und drei Acht-Stunden-Schichten bräuchte man dafür 225.420 Beamte - pro Tag.

Auch mit Waffengewalt sind Flüchtlinge nicht zu stoppen, wie die AfD-Politikerinnen Frauke Petry und Beatrix von Storch suggerieren. Denn sie fordern damit Polizisten auf, sich strafbar zu machen. Für jeden Gewalteinsatz gilt nämlich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Und die ist nicht gewahrt, wenn auf Unbewaffnete geschossen wird, bloß weil sie eine Grenze überschreiten wollen.

Angela Merkel ist in diesem Punkt ehrlich. Sie verheißt keine einfachen, schnellen Lösungen, sondern sagt offen, dass die Krise allein mit nationalstaatlichen Mitteln nicht zu lösen ist. Es ist ohnehin verwunderlich, dass in Deutschland seit Jahren von der Globalisierung geredet wird, die deutsche Wirtschaft - und damit auch die deutschen Arbeitnehmer - von ihr enorm profitiert, Urlaube in Thailand oder Tunesien üblich sind, aber dennoch geglaubt wird, die globale Flüchtlingskrise ließe sich mit rein deutschen Mitteln lösen.

Es ist ein dickes Brett, das sich Merkel vorgenommen hat: Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU, Unterstützung der Türkei, Jordaniens und des Libanons, die prozentual deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als Deutschland, Lösung des Syrien-Konflikts.

Warum Uno-Schutzzonen eine Lösung sein könnten
 

Es ist fraglich, ob die Kanzlerin es schaffen wird, dieses Brett zu durchbohren. Oder ob sie nicht vorher ihren Job verliert, wenn im Frühjahr die Flüchtlingszahlen wieder steigen und CSU und Teile ihrer eigenen Partei deshalb versuchen werden, sie aus dem Kanzleramt zu drängen. Aber dieser Weg der vielen, langsamen und kleinen Schritte ist der einzig realistische. Denn so lange es Kriege in Europas Nachbarschaft gibt, so lange werden auch Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Google Maps und Whats App oder Facebook, die sich auf jedem Smartphone installieren lassen, machen's möglich. Mit ihrer Hilfe wird nämlich jede neue Fluchtroute, jede neue Lücke in einer Grenzsicherung in Windeseile unter Flüchtlingen kommuniziert.

Einen Punkt hat Merkel indes ausgelassen bei ihrer Langzeitstrategie zur Überwindung der Flüchtlingskrise: dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge trotz Krieges in ihren Heimatländern bleiben können. Es gibt ein Mittel, das in den 1990er Jahren in Bosnien ausprobiert wurde: Uno-Schutzzonen. In der Theorie waren dies sichere Rückzugsgebiete für Kriegsflüchtlinge, die von Uno-Truppen geschützt wurden. In der Praxis scheiterte das Konzept - wie das Massaker von Srebenica zeigt - daran, dass die Uno-Truppen zu schlecht ausgerüstet und zu wenig gewillt waren, diese Zonen tatsächlich militärisch zu schützen.

Diese Fehler muss man nicht wiederholen, man kann aus ihnen lernen. Und dann in Syrien Zonen einrichten mithilfe von Truppen unter Uno-Kommando, in denen Flüchtlinge tatsächlich sicher sind - vor dem Terror des „Islamischen Staates“, vor den Fassbomben des Assad-Regimes, vor den Luftangriffen der Russen und der US-geführten Allianz.

Angela Merkel sollte sich für solch ein Projekt stark machen, wenn sie die Flüchtlingskrise durch Ursachenbekämpfung konsequent bewältigen will. Sollte sie dabei allerdings behaupten, solch ein Einsatz ginge ohne deutsche Beteiligung, ohne dass Bundeswehr-Soldaten ihr Leben riskieren und möglicherweise verlieren - sie würde uns belügen.

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