- „Wir brauchen ein anderes Bild vom Lernen“
Heute abend wird NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann bei der Diskussionsrunde „Nachhaltig und gut“ von RWE Stiftung und Cicero über nachhaltige Bildung sprechen. Im Interview erklärt sie, warum wir uns von PISA-Ergebnissen nicht verrückt machen lassen sollten
Frau Löhrmann, kann Wissenserwerb in unseren Schulen heute überhaupt noch nachhaltig sein – so schnell, wie sich unsere Wissensgesellschaft verändert?
Ja, aber dazu brauchen junge Menschen „Ankerpunkte des Lernens“. Die müssen wir ihnen zuerst vermitteln, damit sie mit der Wissensflut umzugehen lernen und sich die Welt erschließen können. Einen entsprechenden Paradigmenwechsel hin zur Kompetenzorientierung hat die Bildungspolitik auch bereits vollzogen. „Kinder sind nicht Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden müssen“, hat Francois Rabelais gesagt. So müssen wir die Lernprozesse heute anlegen. In Deutschland haben wir leider zu oft noch das Bild des „Nürnberger Trichters“ vor Augen.
Sie meinen...
...das Bild mit dem Kopf eines Kindes und einem Trichter darüber, in den von oben Formeln, Zahlen und Buchstaben fallen – ausgehend von der Idee, dass junge Menschen schon durchs Leben kämen, wenn man ihnen zehn bis zwölf Jahre Wissen eintrichtere. Das ist einfach vollkommen überholt – daher brauchen wir ein anderes Bild vom Lernen.
Sie sprachen von der Kompetenzorientierung. Welches sind die drei wichtigsten Kompetenzen?
Zunächst natürlich die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen. Sie braucht man auch in digitalen Zeiten. Dann ist mir die Fähigkeit zum vernetzten Denken ganz wichtig: Was hat also zum Beispiel eine spezielle physikalische Einsicht mit anderen technischen Fortschritten und darauf folgenden wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklungen zu tun? Sich solche Zusammenhänge klar zu machen, ist viel lehrreicher, als nur die einzelnen Fakten zu kennen.
Und zuletzt will ich noch einen anderen Punkt nennen, den man mit „Zuversichtskompetenz“ umschreiben könnte. Kinder und Jugendliche sollten lernen, dass das, was sie tun, die Gesellschaft beeinflussen kann, damit sie sich nicht ohnmächtig fühlen. Gerade in unserer sich so schnell wandelnden Welt ist diese Zuversichtskompetenz ganz wichtig: Kinder und Jugendliche lernen, sich als verantwortliche junge Menschen in der Gesellschaft zu bewegen und selbst etwas zu bewegen.
Wie nachhaltig ist das deutsche Bildungssystem? Die Ergebnisse vieler aktueller Bildungstests wie PISA lassen vermuten, dass es da Nachholbedarf gibt.
Unser Bildungssystem befindet sich zurzeit stark im Wandel. Manches ist da leider sehr kurzatmig und nicht nachhaltig. Keine Frage, wir brauchen Tests wie PISA, um eine Einschätzung zu bekommen, wo wir stehen. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass solche Tests nie wirklich konkrete Aussagen liefern zur Leistungsfähigkeit einzelner Schulen oder Kinder. Denn sie verstehen sich immer mit Blick auf das gesamte Schulsystem und bilden dann einen Durchschnittswert.
Helfen solche Tests überhaupt bei einer Weiterentwicklung des Bildungssystems, die man als „nachhaltig“ bezeichnen könnte?
Wir brauchen diese Schulleistungsuntersuchungen, müssen sie aber immer auch differenziert betrachten. Allein auf die Daten zu gucken, ist nicht sonderlich hilfreich, weil sie eben immer nur Durchschnitte abbilden. Es muss darum gehen, die Hintergründe zu verstehen – was auch zum Nachhaltigkeitsgedanken passt. Außerdem brauchen wir einen Paradigmenwechsel: Statt nur zu fragen, wo es Schwächen gibt, sollten wir mehr auf Stärken gucken – auf das, was unsere Schulen und die Schülerinnen und Schüler schon ganz gut können, um daran anzuknüpfen und aus der Haltung heraus ermutigend weiteres Lernen, Können und weiteren Kompetenzerwerb herauszuarbeiten.
Wie muss sich Schule strukturell ändern, um diesen weiteren Kompetenzerwerb zu ermöglichen?
Ganz wichtig ist der Wandlungsprozess zur Ganztagsschule mit mehr Lern-, Förder- und Entwicklungszeit und damit verbunden ganzheitlicherem und stärkenorientiertem Lernen. Die deutsche Nachkriegsschule basierte auf 45-minütigen Frontaleinheiten mit einer Lehrerin oder einem Lehrer, Schulschluss am Mittag und Hausaufgaben daheim am Nachmittag. Das Modell ist veraltet. Heute wissen wir, dass wir quasi ein Dorf brauchen, um ein Kind zu erziehen. Dieses Leitbild, das als Sprichwort aus dem afrikanischen Kulturkreis stammt, muss zunehmend in unseren Schulen greifen. Wir brauchen mehr multiprofessionelle Teams, das heißt, die Zusammenarbeit verschiedener Professionen in der Schule zum Wohle der Schülerinnen und Schüler.
Welchen Herausforderungen sehen Sie für unseren Bildungssektor im interkulturellen Kontext – gerade angesichts der derzeitigen Flüchtlingssituation?
Hier ist mir die Frage der Haltung sehr wichtig: Die Anzahl der Flüchtlinge, die zurzeit zu uns kommen, ist zweifelsohne eine große Herausforderung für Deutschland. Aber wir sollten jenseits davon sehen, dass diese Zuwanderung eine große Chance für unsere schrumpfende Gesellschaft darstellt. Umso wichtiger ist es, die Menschen zu qualifizieren und gut auszubilden, um dieses Potenzial gewinnbringend für unsere Gesellschaft zu heben.
Frau Löhrmann, besonders interessiert uns mit Blick auf die Schwerpunkte der RWE Stiftung die Energiebildung. Wie steht es um diese Ihrer Meinung nach?
Da haben wir einige sehr gute Netzwerke hier in NRW, zum Beispiel mit den „MINT-Schulen NRW“, mit Projekten zusammen mit großen Unternehmen oder den ZDI-Netzwerken. Das sind Einrichtungen, die Schule, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringen. Hier helfen natürlich auch entsprechende Stiftungen wie etwa das Haus der kleinen Forscher, um von klein auf forschendes und entdeckendes Lernen ganzheitlich und spannend anzulegen. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Wettbewerben wie den der NRW.BANK, bei dessen Preisverleihung ich gerne dabei bin. Ich bin immer beeindruckt, wie sich die jungen Leute zukunftsorientierte Energiepolitik vorstellen und da auch ganz konkrete Verbesserungsvorschläge machen.
Zum Beispiel?
Ich erinnere mich da an ein Konzept für automatisierte Schnellladestationen für elektrische Busse an Ampeln oder Haltestellen, damit sie die Standzeit direkt nutzen können, um die Akkus aufzuladen. Das war sehr beeindruckend und zeigt, das Interesse der Kinder an wichtigen Zukunftsthemen ist definitiv da und sie entwickeln tolle Lösungsvorschläge.
Viele Beispiele, die Mut machen. Nichtsdestotrotz zeigt aber die Energiebildungsstudie der RWE Stiftung, dass es in Deutschland große Mängel in diesem Wissensfeld gibt.
Ich glaube, dass durch die intensiven gesellschaftlichen Diskussionen über die Energiewende hierzulande schon einiges an unseren Schulen passiert. Mehr als in einigen anderen Ländern. Aber sicherlich gibt es noch Luft nach oben: Bei der Energiebildung wird häufig noch sehr fachbezogen gearbeitet. Dabei bietet sich das Thema sehr gut an für projektbezogenes Lernen, bei dem junge Leute tüfteln können, Wissen verbinden und Konsequenzen bedenken. Dann haben sie daran auch mehr Spaß und der Mehrwert ist viel höher als bei der isolierten Betrachtung in einzelnen Fächern.
Wie stehen Sie zu einem eigenen Schulfach „Energie“? Das wäre doch nachhaltig, oder?
Die gleiche Diskussion kommt immer wieder für viele verschiedene Themengebiete auf – von „Wirtschaft“ über „Programmieren“, bis hin zu „Schach“, „Benehmen“ oder sogar „Glück“ als Schulfach. Und wir könnten sie auch beim Fach Gesundheit oder Demokratie aufmachen. Solche Fragen sollte man allerdings systematisch angehen und nicht aktionistisch – was übrigens gut zum Nachhaltigkeitsgedanken passt.
Könnten Sie das erklären?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Zurzeit rufen viele nach einem Schulfach Digitales, weil erkennbar wird, wie stark die Digitalisierung unsere Gesellschaft verändert. Das Ganze möglichst sofort, oder noch besser schon vorgestern. Solche Forderungen verkennen aber, dass man Schul-Entwicklungen auch langfristig denken muss: Man muss Lehrpläne erstellen, die Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, Fortbildungen konzeptionieren, braucht eine Infrastruktur. Da ist manchmal nicht im Blick, dass nur das gut wirkt, was auch gut vorbereitet ist.
Was heißt das für das Schulfach Energie?
Die Zeit, die wir in der Schule haben, ist begrenzt – trotz der Entwicklung zum Ganztag. Für zielführender, als ein Thema in ein Fach zu delegieren, halte ich es, hier fächerübergreifend zu arbeiten. Beispielsweise in Projektarbeit zu fragen, wie wir die Energieversorgung in unserem Stadtteil entwickeln könnten – und so vernetztes Denken und eigene Beteiligung fördern. Denn man muss sich eines bewusst machen: Immer, wenn ich ein neues Fach möchte, müsste ich auch überlegen, welches andere ich dafür streiche.
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