- Amerikanische Verhältnisse haben wir schon
Wo bleibt unser Beitragsgeld?, fragt sich die Journalistin Renate Hartwig. In ihrem Buch „Geldmaschine Kassenpatient“ gibt sie die Antwort: Um eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen, braucht es nicht mehr Mittel. Das System selbst ist verdreht und korrupt
Kostenexplosion, demografischer Wandel, Flatrate‐Mentalität der Patienten: Der Ausstieg aus einer umfassenden und solidarischen Krankenversicherung ist scheinbar unausweichlich. Niemand stellt diese Prämissen in Frage. Kein Politiker und schon gar keiner der Beteiligten und Profiteure des Gesundheitssystems – Ärzte, Manager der Krankenkassen, Funktionäre der Kassenärztlichen Vereinigungen und die zahllosen „Kooperationspartner“ der Gesundheitsindustrie.
180 Milliarden Euro nehmen die gesetzlichen Krankenkassen jedes Jahr von ihren (zumeist nicht-freiwilligen) Mitgliedern ein. Das ist mehr als die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts 2011. Eine ungeheure Summe also, die aber anscheinend trotzdem nicht ausreicht, um die Bevölkerung gesundheitlich zu versorgen.
Deshalb, sagen Gesundheitspolitiker, muss es zu Leistungskürzungen und einer ständigen Erhöhung der Beiträge kommen. Falsch! Die wirklichen Ursachen liegen ganz woanders.
Die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen ist in den letzten Jahren rapide gesunken. 1992 waren es über 1000 Kassen, 2011 nur noch 146. Diese Entwicklung ist von der Politik gewollt und gefördert worden. Angeblich, um Verwaltungskosten einzusparen. Seltsam ist nur, dass diese Verwaltungskosten trotzdem in die Höhe geschossen sind, von umgerechnet 6,17 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf 11,5 Milliarden Euro im Jahr 2011.
Der Wettbewerb soll’s richten. Aber wie soll das gehen? Über den Beitragssatz kann es nicht mehr funktionieren. Den hat der Gesetzgeber auf einheitliche 15,5 Prozent festgelegt. Stattdessen überbieten sich die Kassen mit teuren Werbemaßnahmen und Zusatzangeboten, in denen sie auch schon mal ein Wellness‐Wochenende spendieren. Diese Aktivitäten der Krankenkassen beschäftigen zahllose Auftragnehmer und Kooperationspartner, von Werbeagenturen bis zu Beratungs‐ und IT‐Firmen.
Teilweise sogar krankenkasseneigene GmbHs. Eigentlich ein Widerspruch in sich. Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie dürfen keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen. Ihre Aufgabe ist es, die Beiträge ihrer Mitglieder zu treuen Händen zu verwalten. Wie kommt es dann zu einer AOK‐System‐GmbH oder einer AOK‐Consult‐GmbH?
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Wer anfängt, das System zu hinterfragen, gerät in ein Dickicht von Ungereimtheiten: Warum wird mit aller Macht versucht, eine sogenannte elektronische Gesundheitskarte einzuführen, die eigentlich weder Ärzte noch Patienten wollen, die aber bis zu ihrer vollständigen Umsetzung rund 14 Milliarden Euro verschlingen wird? Warum benötigen Krankenkassen Vorstandsvorsitzende, deren Gehalt samt Bonusregelungen sich an jenen der Vorstände börsennotierter Dax‐Unternehmen orientiert? Warum macht man uns weis, mit „Integrierter Versorgung“ und „Disease‐Management‐Programmen“ zu einer besseren und kostengünstigeren Versorgung zu kommen?
Entweder fehlen belegbare Zahlen – oder sie beweisen das Gegenteil.
Ärzte werden in das Korsett des Budgets gepresst, Krankenhäuser in das der Fallpauschalen. Die Abrechnungen werden so kompliziert gestaltet – mit einer Flut von Kürzeln und Abrechnungsziffern –, dass nur noch Spezialisten den Durchblick haben. So mancher niedergelassene Arzt nimmt dafür gerne die Dienste des freundlichen Pharmavertreters in Anspruch.
In den Krankenhäusern wird diese Aufgabe an „Upcoding‐Spezialisten“ delegiert. Sie holen heraus, was herauszuholen ist. Gerne auch jenseits dessen, was tatsächlich abzurechnen wäre. Denn Betrüger müssen nichts befürchten, außer die Rückzahlung der zu viel eingenommenen Gelder. Stellt sich nämlich bei einer Überprüfung durch die Krankenkassen heraus, dass ein zweifelhafter Fall korrekt abgerechnet wurde, muss die Kasse dem Krankenhaus eine Pauschale von 300 Euro überweisen.
Wäre die Klinik ein Bankräuber, droht für den Fall, dass er denn überhaupt ertappt wird, als schlimmste Konsequenz, die Beute wieder herausrücken zu müssen. Wenn das keine Einladung ist!
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Die niedergelassenen Ärzte sehen sich selbst als Opfer und versuchen innerhalb des Systems alle Tricks und Schlupflöcher zu nutzen, um ihre Honorare zu sichern. Sie behandeln ihre Patienten in einem Zweiklassen‐System, verweigern Hilfsmittel, Medikamente und Therapien, um ihr Budget nicht zu belasten. Über „individuelle Gesundheitsleistungen“ (auch „Igel“ genannt) versuchen sie ihren Patienten privat abzurechnende Untersuchungen und Therapien zu verkaufen. Dabei sind diese häufig nutzlos: In einer gerade veröffentlichten Studie des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen schneidet die Mehrzahl der teuren Igel-Leistungen schlecht ab.
Die Patienten bleiben bei all den Geschäften außen vor. In die ärztliche Standesvertretung, die die Honorare aushandelt, werden nur Mediziner gewählt. Kein einziger Kassenpatient sitzt in diesem Gremium.
Seine kranken Bürger versorgt zu sehen, ist als wesentliches Element staatlicher Daseinsfürsorge eigentlich eine Aufgabe der öffentlichen Hand. Doch genau davon verabschieden wir uns gerade. Wir stehen nicht nur kurz vor den gefürchteten „amerikanischen Verhältnissen“. Nein, sie haben bereits bei uns Einzug gehalten.
Betroffene fallen im Krankheitsfall durch das angeblich sichere Netz. Dringend benötigte Leistungen werden verweigert oder verzögert. Die Politiker lasten dem Gesundheitswesen immer mehr Bürokratie auf. Die Ökonomisierung untergräbt systematisch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.
Es bleibt nur eine Möglichkeit: Wollen sich die Patienten das nicht länger gefallen lassen, müssen sie sich zusammenschließen und die Missstände öffentlich machen. Sie dürfen nicht aus der Verantwortung entlassen werden.
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