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Demografie - Warum die Schrumpf-These ein Märchen ist

Deutschland muss sich als größte EU-Volkswirtschaft zum Einwanderungsland weiterentwickeln. Seit Jahrzehnten hat die Politik die Gesellschaft darauf eingeschworen, dass wir ein Demografieproblem haben. Das war ein Fehler

Autoreninfo

Rinke, Andreas

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Es ist ein Kampf zwischen Zahlen und Prognosen: Deutschlands Gesamtbevölkerung wächst das dritte Jahr in Folge, allein 2013 um 300.000 Menschen. Doch Demografieexperten wie Reiner Klingholz vom Berlin Institut für Bevölkerung und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel sagen weiter den unabwendbaren demografischen Niedergang der Bundesrepublik voraus. Zu Unrecht – denn die Annahmen, auf denen frühere Prognosen beruhten, erweisen sich als allzu statisch gedacht. Sie entsprechen kaum noch der Realität.

Im Juni 2013 titelte der Cicero: „Hurra, wir wachsen!“ Dass das Statistische Bundesamt die offizielle Bevölkerungszahl nach unten korrigieren würde, weil Karteileichen aus den Bevölkerungsregistern getilgt werden, hatte in dem Text schon vorab gestanden. Als kurz nach der Veröffentlichung das Ergebnis des Zensus bekannt wurde, demzufolge statt 81,7 Millionen Menschen nur 80,2 Millionen Menschen in Deutschland leben, sahen viele das aber als Bestätigung früherer Schrumpfungsprognosen.

Angela Merkel bleibt bei der Schrumpfungsthese


Inzwischen klagen zahlreiche Kommunen gegen den Zensus, weil sie die Methodik für sehr fehleranfällig halten und erhebliche Zweifel am Ausmaß des statistischen Schwundes haben. Viel wichtiger ist aber, dass der seit Jahren andauernde Bevölkerungstrend sich weiter nach oben fortsetzt – ein Ende ist nicht in Sicht. Anfang 2014 bezifferte das Statistische Bundesamt den Bevölkerungsstand mit 80,8 Millionen Menschen, angetrieben von einer massiven Zuwanderung.

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Doch Kanzlerin Angela Merkel bleibt bei den seit Jahren eingeübten Formeln vom schrumpfenden Deutschland. Eine Standardformel in ihren Reden über Demografie ist etwa die Warnung, dass der deutschen Wirtschaft bald weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen dürften. „Wir werden in etwa 14, 15 Jahren bis zu sechs Millionen weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im erwerbsfähigen Alter haben“, lautet eine dieser Formeln. Die Warnung bildet nicht nur frühere Annahmen der Bevölkerungswissenschaftler und des Statistischen Bundesamtes ab – sie hat auch eine politische Funktion. Die Kanzlerin hält an der Schrumpfungsthese fest, weil sie Wirtschaft, Gewerkschaften und den Rest der Gesellschaft damit darauf einschwören will, dass Reformen nötig sind. Die Wirtschaft soll bisher ungenutzte Arbeitskraftreserven wie Frauen, Ältere oder Menschen ohne Ausbildung nutzen. Die Deutschen insgesamt sollen sich an den Gedanken gewöhnen, dass die Bundesrepublik sich zu einem Einwanderungsland wandeln muss.

Niedrige Reproduktionsquote


Bevölkerungswissenschaftler wie Reiner Klingholz beharren aus anderen Gründen auf ihren Prognosen. So hat der Leiter des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung jüngst im Spiegel betont, dass auch die derzeit steigenden Einwohnerzahlen in Deutschland nichts an der langfristigen Schrumpfung ändern würden. Als Hauptgrund dafür wird stets die tatsächlich sehr niedrige Reproduktionsquote deutscher Frauen bzw. Familien angesehen. Die Zahl der geborenen Babys ist in den vergangenen Jahren drastisch gefallen. Und weil nun die Baby-Boomer-Jahre selbst langsam aus dem Alter ausscheiden, in dem sie überhaupt noch Nachwuchs bekommen können, stehen – statistisch gesehen – immer weniger Frauen zur Verfügung, die Kinder gebären können. Doch auch die, die weiter an Schrumpfung glauben, werden vorsichtiger. Die extremste Prognose, der zufolge die Bevölkerung bis 2050 auf 64 Millionen Menschen schrumpfen könnte, wird im Gegensatz zu früher kaum noch erwähnt. Das vorsichtigere Szenario mit 70 Millionen gilt nun offenbar als neuer Referenzpunkt.

Klingholz glaubt nicht, dass Einwanderung den Schwund stoppen kann. Um die wachsende Zahl an Sterbefällen und die sinkende Zahl an Geburten auszugleichen, bräuchte man im Jahr 2030 ein Zuwanderungssaldo von 600.000 und 2050 sogar von 700.000 Menschen. „Solche hohen Zahlen hat es dauerhaft noch nie gegeben. Sie sind deshalb sehr unwahrscheinlich“, sagt er dem Spiegel.

Die Netto-Zuwanderung wurde in den früheren Prognosen mit durchschnittlich 100.000 Menschen pro Jahr angesetzt. Sie liegt nun aber seit dem Jahr 2000 im Schnitt um 50 Prozent darüber und steigt seit einigen Jahren steil an – und das, obwohl Deutschland sich gegen einen zu starken Zustrom aus Kriegsländern wie Syrien und Afrika massiv zur Wehr setzt. Hauptgrund für wachsende Zuwanderung ist, dass vor allem Menschen aus den EU-Krisenländern und aus Südosteuropa die Freizügigkeit innerhalb der EU nutzen.

In großer Zahl machen sich junge, oftmals gut gebildete Menschen auf der Suche nach Jobs und Perspektiven auf den Weg in das wirtschaftliche erfolgreiche Deutschland, wo immer noch zahlreiche Ausbildungsplätze und im Süden der Republik auch Arbeitsplätze unbesetzt sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Einwanderer weiter steigen wird, wenn Deutschland erst einmal auch international als neuer „Melting Pot“ wahrgenommen wird. Auch Länder wie Australien, Kanada oder die USA verzeichnen sogar über Wirtschaftskrisen hinweg starke Zuwanderungszahlen.

Anhaltender Zustrom von Ausländern


Deutschland ist als größte EU-Volkswirtschaft geradezu prädestiniert dafür, sich als Einwanderungsland weiter zu entwickeln: Die Wirtschaft besitzt eine große Wettbewerbsfähigkeit und hohe Innovationskraft. Das Land kennzeichnet ein ruhiges soziales Klima, eine Konsenskultur und milde klimatische Bedingungen. Auch in der benachbarten kleinen Schweiz sorgen die gute wirtschaftliche Lage, der hohe Wohlstand und die Aussicht auf ein sicheres Leben für einen anhaltenden Zustrom von Ausländern. Die von Klingholz genannten Zahlen von 600.000 oder 700.000 Zuwanderern netto sind durchaus realistisch. Schon 2012 wanderte eine Million Menschen nach Deutschland ein, 712.000 wanderten ab.

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Nur scheint in den Köpfen deutscher Politiker und Wissenschaftler dieses Faktum noch nicht wirklich angekommen zu sein. „Wir müssten Jahr für Jahr immer mehr Zuwanderer gewinnen und sie dauerhaft halten, damit sie auch Familien gründen“, beschreibt Klingholz und führt dies als Argument gegen die Annahme eines weiteren Bevölkerungswachstums an. Aber genau das ist das – mittlerweile realistische – Ziel, nachdem die deutsche Lebenslüge beseitigt wurde, „Gastarbeiter“ würden nur für einige Jahre zum Arbeiten kommen. Hunderttausende in Deutschland geborene Migrantenkinder beweisen längst, dass das Land auch für viele Zuwanderer eine Art von „Heimat“ geworden ist. Eine bessere Integration und mehr Chancengleichheit können dafür sorgen, dass diese Menschen auch dauerhaft bleiben. Dann würde das Wanderungssaldo, also die Nettozahl der Einwanderer, noch positiver ausfallen. Dass es jährlich eine Million Menschen nach Deutschland zieht, zeigt, wie groß das Potenzial für Veränderungen ist.

Prinzip Staubsauger


Die wahre Herausforderung für Deutschland besteht also nicht darin, sich quer durch alle Politikbereiche vom Wohnungsbau bis zu den Sozialsystemen auf eine schrumpfende Bevölkerung einzustellen, sondern darin, endlich dafür zu sorgen, dass eine wachsende Bevölkerung möglich wird. Auch bei der Kinderzahl muss die gegenwärtige Entwicklung nicht so bleiben. Skandinavische Länder wie auch Frankreich haben gezeigt, dass junge Menschen durchaus wieder neuen Mut schöpfen können, mehr Kinder zu bekommen. Da die Zuwanderer im Durchschnitt jung sind, ziehen auch viele potenzielle neue Eltern nach Deutschland. Wenn die deutsche Wirtschaft sich darauf einstellt, Zuwanderer zu integrieren und wenn die Gesellschaft insgesamt familienfreundlicher wird, ist Schrumpfung alles andere als Schicksal. Gute Politik besteht schließlich nicht darin, sich in das scheinbar Unvermeidliche zu fügen, sondern das Wünschenswerte möglich zu machen.

Die Chancen stehen gut. Erfolgreiche Volkswirtschaften funktionieren nämlich in einer globalisierten Wirtschaft wie Staubsauger: Wohlstand und die Aussicht auf Jobs sorgen automatisch für Zuzug – den man nur zulassen und gestalten muss.

Eines muss man den hartnäckigen Schrumpfungs-Anhängern aber lassen: Ausgerechnet ihre permanenten Vorhersagen eines immer kleiner werdenden Arbeitskräftereservoirs in Deutschland, über die natürlich auch im Ausland berichtet wird, dürften bei vielen potenziellen Zuwanderern dazu beitragen, ihr Glück in Deutschland zu suchen. Die deutsche Angst vor der Schrumpfung hat weltweit Schlagzeilen gemacht – und wirkt zusätzlich wie eine Aufforderung, zu kommen. Experten wie Klingholz tragen deshalb vielleicht selbst durch allzu düstere Prognosen dazu bei, dass ihre langfristigen Annahmen der Schrumpfung nie Realität werden.

Hinweis: In einer früheren Version war fälschlicherweise vom „Mikro-Zensus“ die Rede. Korrekt heißt die Volkszählung aber Zensus.

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