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Debatte um Jobcenter-Spartipps - Naive Schonung von Hartz-IV-Empfängern

Die Aufregung um eine Hartz-IV-Broschüre des Jobcenters Pinneberg ist maßlos: Die Spartipps darin sind nicht nur vernünftig – zum ersten Mal nimmt die Arbeitsagentur ihren Beratungsauftrag ernst

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Katharina Schmitz ist freie Journalistin in Berlin. 

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„For You. Vor Ort.“ Zwei Jahre ist das her, da wollte sich die angezählte Drogeriekette Schlecker mit diesem Denglisch-Slogan noch einmal retten. Was gründlich in die Hose ging. Statt des erhofften Imagezugewinns sorgte „For You. Vor Ort“ erst für Unmut beim Verein für Sprachpflege, dann für kübelweise Häme, als Schlecker auch noch erklärte, man habe mit dem Motto den Durchschnittskunden mit „niederen Bildungsniveau“ ansprechen wollen, mit anderen Worten: die Doofen in Deutschland. Vieles davon erinnert nun an das Jobcenter im Kreis Pinneberg, dessen Broschüre für Bezieher von Hartz IV zu Aufwallungen führt.

Im 100 Seiten starken Leitfaden für Antragsteller von Hartz IV empören vor allem die läppisch und zynisch empfundenen Tipps zum Sparen. Harsche Kritik kommt seitens der Sozialverbände und aus den Medien von Focus über ntv, Bild bis Hamburger Morgenpost und Pinneberger Tageblatt (letzeres unaufgeregt). In den Foren findet man dagegen überraschenderweise viele pragmatische Stimmen. Was ist eigentlich so schlimm daran, dass das Jobcenter in prekären Zeiten Leitungswasser empfiehlt? Schon meine Großmutter empfahl „Kranenberger“ (sie wurde 84), wie sie auch zeitlebens bemerkte, dass unser Lebensstil zwar modern sei, aber weit entrückt von dem, was sie Lebenstüchtigkeit nannte. Dabei ist Wasser ja wirklich einfach billiger, gesünder und macht nicht dick. Mit Zitrone veredelt wird der Getränketipp jeden Sommer in gefühlt jedem Lifestyle-Magazin gegeben.

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Die Broschüre – einen ähnlichen Ratgeber gibt auch das Jobcenter Dortmund (in russisch und türkisch) heraus – empfiehlt Hartz IV-Beziehern auch, „Vegetarier“ zu werden. So wenigstens lautete eine andere Schlagzeile in der Welt. In Wahrheit aber wird nur zur Fleischreduktion angeraten. Was soll daran verkehrt sein? Auch dieser Tipp hätte man von Großmuttern bekommen, sie hätte ihn unter „Haushalten“ abgebucht. Sowieso: angesichts einer wachsenden Zahl kritischer Verbraucher und Standardplädoyers für Nachhaltigkeit ist diese Empfehlung doch fast überall Konsens. Aber eben nur fast – im Supermarktregal liegen Schweinekoteletts für lächerliche zwei Euro.

Schade eigentlich, dass es offenbar nicht geht, wenn sich das ach so böse Arbeitsamt lebenspraktisch artikuliert. Dass hier aber noch Handlungsbedarf besteht, das zu sehen, dafür reicht ein Besuch bei einem x-beliebigen Supermarkt, am besten Netto. Man findet hier, was der Mensch so einkauft. Pepsi und Fanta in 1,5 Literflaschen, Süßigkeiten in XXL-Tüten, Zigaretten, Wein, ein gutes Sortiment an harten Alkoholika, die sich ein Teil der Kundschaft wohl nicht nur für besondere Anlässe genehmigt, jede Menge Fernsehmagazine. Man kann aber auch durch die Fernsehkanäle zappen. Bei den Privaten laufen alle möglichen Doku-Shows über Familien, die in Schulden versinken, ihre Kinder vernachlässigen oder die Sendung „Frauentausch“ auf RTL II, in der das Drehbuch immer eine so genannte bildungsferne Familie vorsieht und grundsätzlich eine doofe Mutter, die nur Fertiggerichte kann und einen Mann zur Seite, dessen Habitus einer Hängematte gleicht. „Unterschichtenfernsehen“ wie zu Harald Schmidts Zeiten, alles Fiktion?

Die Sozialverbände, die ja auch Sprachpfleger sind, monierten auf der letzten nationalen Armutskonferenz, das Wort „arbeitslos“ sei unsozial. „Weil es viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern.“ Zwar findet man in der Skandal-Broschüre vom Jobcenter keine Infos über Möglichkeiten, zum Beispiel ehrenamtlich tätig zu werden. Aber solange das bedingungslose Grundeinkommen noch nicht eingeführt ist (kann ja noch dauern), überrascht das nicht.

Genauso wenig anmaßend mutet es an, wenn Erwerbslosigkeit dann immer noch als eine Art Übergangssituation verstanden wird. Eine Anleitung, zupackend mit dieser schwierigen Lebensphase umzugehen, ist doch für viele eine Chance, aus festgefahrenen Strukturen herauszukommen (nach einem Jahr ist man natürlich noch nicht in diesen Strukturen drin, dummes Arbeitsamt!). Der Volksmund spricht hier von Hängematte. Die Psychologen von Isolation, Resignation, am Ende von Depression. Die Agentur für Arbeit tut gerade genau das, was die Sozialverbände immer anprangern. Nach der rigiden 2010-Forderkultur verordnet sie sich Kundenfreundlichkeit. Da ist viel aufzuholen, zugegeben, das geschieht ausgesprochen unbeholfen, geschenkt.

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Aber ein Versuch war es wert und bis jetzt funktioniert zum Glück auch die Krisenkommunikation. Niemand redet sich in den Behörden um Kopf und Kragen. „Da ist die Debatte schräg, nicht die Broschüre“, äußerte sich Agenturvorstand Heinrich Alt gegenüber dem Spiegel. Trotzdem wird man den Verdacht nicht los, dass hier eine große Verklemmtheit spricht. Die Krux, den Hartz-IV-Bezug nicht zu diskreditieren, diskreditiert diesen erst recht. Hartz IV stigmatisiert alle, wenn man die schwierige Klientel verschämt adressiert, mit einer Sprache, die zu naiv ist für die zu Unrecht Diskreditierten und zu naiv, dass Leute mit handfesten Problemen gar nicht realisieren, dass sie gemeint sind. Vergessen wird, dass die Jobcenter Funktionen auch des früheren Sozialamts ausfüllen, das heißt sie sind auch dazu da, Fragen zur Miete, Kleidung etc. zu klären, im Jobcenter gibt es Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung und Suchtberatung. Beratung ist das Wesen der Jobcenter.

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