- Außen FDP, innen Grünen-Fundi
Der Grünen-Abgeordnete Sven-Christian Kindler ist einer Jüngsten im Bundestag und gilt schon als Krisenexperte. So stimmte er gegen seine eigene Fraktion. Doch ihm klebt ein nerviges Etikett an. Ein Porträt
„Bingo!“, ruft ein Störer. Sven-Christian Kindler stockt; der grüne Bundestagsabgeordnete spricht gerade zu Besuchern aus seinem niedersächsischen Provinz-Wahlkreis: Rotenburg I-Soltau-Fallingbostel. Der Zwischenrufer springt aus seinem Stuhl. Er hat beim „Bullshit-Bingo“ genau auf die drei Worte getippt, die in der Politiker-Ansprache gerade gefallen sind: „solidarisch“, „grün“ und „Wahlkreis“. Das freche Spiel hatten sich ein paar Vertreter der Grünen Jugend vor dem Rundgang mit dem Abgeordneten ausgedacht. Der Volksvertreter hält kurz inne, lächelt etwas gequält und redet dann weiter.
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Ist Kindler etwa das, als was die Grüne Jugend ihn entlarven wollte: ein angepasster Karrierist? Von außen betrachtet, wirkt er tatsächlich wie ein FDP-Verschnitt. Während der Sitzungswochen trägt der 27-Jährige Jackett und weißes Hemd. Er hat eine typische Frisur, die auch bei den Nachwuchsökonomen von McKinsey oder Ernst & Young häufig zu sehen ist. Zudem hat Kindler von 2004 bis 2007 an der Leibniz-Akademie in Hannover Betriebswirtschaftslehre studiert, als Controller bei Bosch prüfte er Arbeitsprozesse auf ihre Effizienz. Vom urgrünen Image scheint er sehr weit entfernt.
Doch der Eindruck trügt. Schon als Jugendlicher zeigte sich Kindler naturverbunden, engagierte sich bei den Pfadfindern. Noch heute, in der schnellen digitalen Welt, schätzt er den Ruhepol: „Man sitzt am Lagerfeuer, macht Musik, da guckt niemand auf sein Smartphone, um die neuesten Nachrichten zu checken.“ Von den Pfadfindern kam er 2003 zur Grünen Jugend und zur Partei. Kinderarmut in den Pfadfindergruppen motivierten ihn, politisch aktiv zu werden. Er zählt zum linken Parteiflügel: „Mich verbindet viel mehr mit Hans-Christian Ströbele als mit Philipp Mißfelder von der Jungen Union.“ Ein anfänglicher Stammtisch junger Abgeordneter sei ziemlich schnell eingeschlafen. „Es fehlten die politischen Gemeinsamkeiten.“ Auch Planspiele für eine schwarz-grüne Regierungskonstellation nach 2013 erteilt er eine klare Absage, er sehe auf zentralen Politikfeldern keine Gemeinsamkeiten, insbesondere mit einer europafeindlichen Partei wie der CSU sei keine Zusammenarbeit möglich.
Man merkt es ihm an, dass er mit den vermeintlichen Widersprüchen des äußeren Eindrucks und der inneren Positionen sehr gern lebt, damit gar kokettiert. Das hat nicht zuletzt mit seiner Rolle als Mann der Finanzen zu tun: Bei den Pfadfindern verwaltete er die Kasse, als BWLer Unternehmensbilanzen, bei Bosch wurden die Zahlen noch größer.
Aber das, was ihm seit 2009 im Haushaltsausschuss begegnet, stellt alles in den Schatten. In kürzester Zeit musste er Begriffe wie Six-Pack, EFSF, ESM und Fiskalpakt nicht nur pauken, sondern die Krisenursachen auch verstehen und mit der eigenen Politik verknüpfen. Er sitzt mit am Tisch, wenn es um Milliardenbeträge für spanische Banken geht. Man spürt, dass die Finanzkrise auch bei Kindler Spuren hinterlassen hat. Die frischen, adoleszenten Gesichtszüge vom Anfang sind einer gewissen Blässe gewichen. Kindler deutet auf mehrere dicke Aktenordner, die nur einen kleinen Teil seiner Arbeit abbilden.
Dabei führten die Farbe Grün und die Finanzpolitik lange Zeit ein herzliches Nichtverhältnis. In dieses Vakuum rückten Exzentriker wie Oswald Metzger, die sich in den rot-grünen Regierungsjahren mit extremen Positionen profilieren konnten. Mittlerweile ist Metzger bei der CDU.
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Kindler durchbricht auch hier die alten Grenzen: Zusammen mit wenigen weiteren Abgeordneten seiner Fraktion gehört er zur neuen finanzpolitischen Avantgarde. Nach Fukushima müssen die Grünen neue Politikfelder erobern. Ihr Markenkern ist ihnen über Nacht abhanden gekommen. In Zeiten, in denen Jürgen Trittin alles tut, der nächste Finanzminister zu werden, liegt Kindlers Engagement im Trend. Ihm könnte in Zukunft eine zentrale Rolle zukommen.
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Wenn er die schwarz-gelbe Krisenpolitik bewertet, geht er gleichwohl differenziert vor. Er hat fast alle Kriseninstrumente mitgetragen, auch den permanenten Rettungsschirm ESM. Kindler sagt, der ESM könne mittelfristig ein Europäischer Währungsfonds werden. Das würde auch südeuropäischen Staaten helfen.
Den Fiskalpakt aber lehnt er ab, er sei keine intelligente Schuldenbremse und würde die Schulden nicht begrenzen. „Es wird europäischen Finanzbeamten obliegen, wann in die Rezession geratene Krisenländer Schulden machen können. Deren Berechnungen waren bisher häufig ungenau. Sie ziehen nicht alle ökonomischen Parameter heran, auf die es dabei ankommt.“
Kindler versuchte, seine Partei davon zu überzeugen, nicht für den Fiskalpakt zu stimmen. Vergebens: Die Grünenspitze hatte vorher im Kanzleramt verhandelt – und musste nun Stimmen liefern, damit es für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit reichte. Kindlers war nicht dabei – ausgerechnet jene eines wichtigen Finanzexperten in der Fraktion. Bei der Abstimmung enthielt er sich. Damit gehörte er neben Ströbele zu den ganz wenigen grünen Abweichlern.
Kindler sagt, die Diskussion um Merkels Krisenpolitik verlaufe „unterkomplex.“ Ihre „einseitige Austeritätspolitik“ sei gescheitert. Und er warnt: „Wenn Griechenland aus der Euro-Zone geworfen würde, würden neben griechischen auch mazedonische, serbische und albanische Banken bankrott gehen.“ Der Balkan sei erst in den 1990er Jahren aus einem sehr blutigen Bürgerkrieg herausgekommen.
Als Kindler vor knapp drei Jahren erstmals am Redepult stand, traten die Politiker auf der Regierungsbank dem juvenilen Newcomer noch wohlwollend gegenüber. Seine Redebeiträge wirkten holprig unabgeklärt. Heute tritt er mit weit mehr Sicherheit auf. Auch die Zwischenrufe aus dem Plenum sind längst rauer geworden. Man nimmt ihn ernst. Kindler ist inzwischen eine nicht mehr wegzudenkende finanzpolitische Säule seiner Fraktion.
Kindlers Zeit mit der Besuchergruppe im Bundestag ist fast vorüber. Auf die Frage, ob er im nächsten Jahr wieder kandidiere, antwortet er: „Das entscheidet die Partei.“ Ein anderer widerspricht: „Entscheidet das nicht der Wähler?“
Tatsächlich ist der März 2013 für den Nachwuchspolitiker die wichtigere Hürde: Da stellen die Grünen in Niedersachsen ihre Landesliste für die Bundestagswahl auf. Die Chancen auf einen Wiedereinzug in den Bundestag stehen nicht schlecht für den linken Realisten.
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