- Agenda 2010: nicht exportgeeignet
Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosenzahlen sinken, Deutschland geht es blendend: Wäre das nicht ein Anlass, die Agenda 2010 auch in den Euro-Krisenländern einzuführen? Keineswegs, meint Gustav Horn, Makroökonom der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung
Dieser Tage ist den Feiern zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010 kaum zu entgehen. Was auf der einen Seite als die staatsmännische Leistung des vergangenen Jahrzehnts angesehen wird, gilt auf der anderen als das Erzübel in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte. Auch zehn Jahre nach ihrer Einführung lassen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen je nach Überzeugung die Wogen der Bewunderung oder der Empörung anschwellen. Zeit also, eine nüchterne Bilanz zu ziehen. Und zu fragen: Wäre die Agenda 2010 nicht für andere Länder des Euroraums zu empfehlen? Wäre sie vielleicht sogar ein Weg, die Krise zu überwinden?
Zunächst geht es um die Frage, ob die Agenda Deutschland genutzt hat. Die Befürworter der Agenda erwähnen in diesem Zusammenhang die gute Beschäftigungslage in Deutschland, die derzeit von Rekordwert zu Rekordwert eilt. Ebenso wird auf die im Vergleich zu vor zehn Jahren deutlich gesunkene Zahl von Arbeitslosen verwiesen. All dies wird auf die Agenda zurückgeführt. Die Gegner führen als Gegenargument die erhebliche gestiegene Ungleichheit in Verbindung mit dem Anstieg prekärer Beschäftigung für ihre kritische Würdigung der Reformen an.
Was ist nun wahr? Ziel der Reformen war in der Tat, die Beschäftigung zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit zu senken. Insofern könnte ein oberflächlicher Blick auf die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zu der weit verbreiteten Schlussfolgerung führen, dass die angestrebten Ziele erreicht wurden. So einfach ist die Antwort leider nicht. Denn sie basiert auf der allzu schlichten Logik, dass ein Ereignis, die Einführung der Agenda, das zeitlich vor einem zweiten liegt, der guten Arbeitsmarktlage, letzteres auch verursacht hat. Das ist schon deshalb zweifelhaft, weil es ja andere Ereignisse in dieser Zeit geben kann, die vielleicht sogar einen bedeutsameren Einfluss ausgeübt haben könnten.
Und diese Ereignisse gab es. Zum einen begann Ende 2005 ein Konjunkturaufschwung, der wie seine Vorgänger zu einer höheren Beschäftigung führte. Dieser Aufschwung dauerte bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise 2008 und war damit besonders lang. Deshalb entstanden auch besonders viele Arbeitsplätze in dieser Zeit. Aber dies war nicht nur in Deutschland so, sondern auch in anderen Volkswirtschaften, die keinerlei Arbeitsmarktreformen durchgeführt hatten. Es fällt also schwer, diese positive Entwicklung als Ergebnis der Agenda-Politik zu interpretieren.
Das eigentliche deutsche Arbeitsmarktwunder, bei dem die Beschäftigung in Deutschland sich merklich besser zu entwickeln begann als in anderen Ländern, begann inmitten der Krise 2009. Trotz des dramatischen Einbruchs der Produktion blieb die Beschäftigung robust, und stieg dann sogar rasch wieder. Die Arbeitslosigkeit nahm nur leicht zu. Dies ist vor allem auf die flexiblen Arbeitszeiten zurückzuführen, die in vielen größeren Unternehmen mit den Beschäftigten vereinbart worden waren. Im Aufschwung erlaubten sie den Unternehmen kostengünstig größere Auftragsmengen abzuarbeiten. In der Krise sicherten sie den Beschäftigten ihren Arbeitsplatz bei nahezu unveränderten Einkommen.
Diese Arbeitsmarktreformen, die aus Verhandlungen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten hervorgingen, haben in Kombination mit der staatlichen Förderung von Kurzarbeit das Beschäftigungswunder bewirkt. Es war also nicht die Agenda, sondern die Arbeitsmarktreformen von unten.
Seite 2: Warum wir Mindestlöhne brauchen
Es wäre aber falsch zu behaupten, die Agenda hätte überhaupt keine Wirkung gezeigt. Sie hat zu einem massiven Druck auf die Löhne primär im unteren Bereich und zu einer Ausweitung prekärer Beschäftigung geführt. Das hatte zwei Folgen. Zum einen verbesserte sich die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie. Zum zweiten wurde durch die geringen Lohn- und Einkommenssteigerungen der Beschäftigten die Binnennachfrage geschwächt. Ersteres führte zu höheren Exporten, letzteres zu niedrigeren Importen. Im Ergebnis hatte dies zur Folge, dass in Deutschland hohe Außenhandelsüberschüsse vor allem mit den übrigen Ländern des Euroraums entstanden, was einem Vermögensaufbau im Ausland gleichkommt. Zugleich bedeutete es aber, dass die Importe nach Deutschland relativ schwach waren, was zu entsprechenden Handelsdefiziten der übrigen Länder und damit zu einem Schuldenaufbau führte.
Diese Überlegungen legen den Schluss nahe, dass sogar, wenn Deutschland selbst keine positiven Erfahrungen mit der Agenda gemacht hat, sie für die Krisenländer ein geeignetes Instrument sein könnte. Daran ist richtig, dass die Krisenländer ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland und anderen verbessern müssen, um ihre defizitäre Außenhandelsbilanz wieder zum Ausgleich zu bringen. Insofern ist Lohnzurückhaltung gegenüber dem Durchschnitt des Euroraums angemessen.
Aber all dies wird nichts nützen, wenn nicht zwei Voraussetzungen erfüllt sind, und die betreffen Deutschland. Als erstes muss die deutsche Wirtschaftspolitik bereit sein, die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder zu akzeptieren, und nicht seinerseits mit erneuter Lohnzurückhaltung – durch erneute Runden von Arbeitsmarktreformen initiiert – all diese Bemühungen dieser Länder wieder zunichte machen. Dann wäre nichts gewonnen.
Die zweite Voraussetzung ergibt sich aus der negativen Nebenwirkung einer Agendapolitik. Sie belastet die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Wenn also viele Euroländer eine solche Politik verfolgen, wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage im Währungsraum schwach sein. In einem Umfeld schwacher Nachfrage können sich die Krisenländer nicht erholen. Die Einkommen der Beschäftigten würden sinken und diese Volkswirtschaften verharren in einer zähen Rezession mit unabsehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen.
Daher ist es erforderlich, dass Länder mit Handelsüberschüssen wie Deutschland eine für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage expansive Wirtschaftspolitik betreiben. Dies kann entweder über eine expansive Fiskalpolitik geschehen, jedoch sind deren Möglichkeiten angesichts der Schuldenbremse begrenzt. Daher bleibt nur eine Arbeitsmarktpolitik, die die Verhandlungsposition der Beschäftigten stärkt und auf diese Weise zu höheren Löhnen führt. Eine der sinnvollsten Maßnahmen wäre in diesem Zusammenhang, einen Mindestlohn einzuführen. Damit würde ein Beitrag zur Stärkung der europäischen Gesamtnachfrage geleistet, die den derzeitigen Krisenländern Exportmöglichkeiten bescherten.
Leider sieht es zur Zeit nicht danach aus, als würde die deutsche Wirtschaftspolitik auch nur eine dieser Voraussetzungen erfüllen wollen. Dann aber wäre der Export der Agenda nicht nur sinnlos, sondern sogar gefährlich.
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