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Datenschutz - Warum wir eine Politik der Skepsis brauchen

Inmitten der Wissensgesellschaft macht sich ein absolutistischer Schnüffelstaat breit. Das ist nur folgerichtig 

Autoreninfo

Thomas Palzer ist Schriftsteller und lebt in Leipzig. Zuletzt erschien sein Kriminalroman „Die Zeit, die bleibt“.

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Eine Gesellschaft, die sich selbst als Wissensgesellschaft apostrophiert, will alles wissen. Sie wird von einem grenzenlosen Datenhunger getrieben, der auch dann nicht gestillt ist, wenn alle Daten erhoben sind. Daten können nämlich veralten, sich als falsch erweisen oder gefälscht werden. Sie besitzen ein Verfallsdatum. Sie müssen ständig neu erhoben werden. Und sie sind unvollständig – grundsätzlich. Daten bilden eine Menge, die sich nicht selbst enthalten kann. Jeder Programmierer weiß, dass nur mehr Daten gute Daten sind. Dieser Prozess gelangt niemals an ein Ende.

Die besten Daten, über die wir theoretisch verfügen könnten, sind bekanntlich in einem Datum gespeichert – dem Big Bang. Im Urknall müssen alle Informationen über unser Universum enthalten gewesen sein. Deshalb besitzt es seinen eigenen Charme, dass der Anfang trotz aller Bemühungen ein kosmisches Geheimnis bleibt, ein Staatsgeheimnis gewissermaßen. Wüssten wir das genaue Datum, wüssten wir prinzipiell alles von allem. Aber an den Urknall kommen wir nicht heran, wir können ihm uns nur auf die soundsovielte Stelle hinter dem Komma annähern, auch wenn wir „wissen“, dass er eine messbare Zeit in der Vergangenheit gewesen ist.

Snowden erschüttert „freie Welt“ mit Enthüllungen


Am 1. Juni 2013 empfing ein US-Amerikaner namens Edward Snowden in einem Hongkonger Hotelzimmer britische Journalisten. Bald darauf wurde die „freie Welt“ von einer Reihe von Enthüllungen erschüttert. Man erfuhr, was die „unfreie Welt“ immer wusste: dass Staaten über ihre Bürger Daten sammeln. Was nun aber Europa erfuhr, war, dass offenbar auch Freunde Freunde bespitzeln. Eine unerfreuliche Situation, die geradewegs in die Paranoia führt. Europa erfuhr, dass der amerikanische und britische Geheimdienst in einem Programm namens Tempora kooperierten. Man hörte von Prism. Man las, dass Glasfaserkabel angezapft und der Internet- und Telefonverkehr überwacht und dass Wanzen in EU-Vertretungen und Botschaften installiert worden waren. Nach und nach bekam eine erstaunte Öffentlichkeit vom ganzen Ausmaß der Observation und Spionage Wind.

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Es war fast wie einst bei René Descartes, der an all seinen Sinnen zweifelte, um sich endlich auf seinen Verstand zurückzuziehen, cogito ergo sum: „Und wenngleich der ganze Geist mit dem ganzen Körper verbunden zu sein scheint, so erkenne ich doch, dass, wenn man den Fuß oder Arm oder irgendeinen anderen Körperteil abschneidet, darum nichts vom Geiste weggenommen ist.“

Die Feinde meiner Feinde sind auch meine Feinde


Descartes’ Paranoia war damals vielleicht der Ahnung geschuldet, dass bald das berüchtigte cabinet noir, von Ludwig XIV. etabliert, den Postverkehr seiner Bürger flächendeckend überwachen würde. In den „Schwarzen Kabinetten“ wurden Briefe im Auftrag der Staatsmacht systematisch geöffnet, abgeschrieben und wieder verschlossen. Seitdem steht jeder unter dem Verdacht, dass man womöglich selbst dann bespitzelt wird, wenn man miteinander befreundet ist. Um mit Rainald Goetz zu sprechen: Die Feinde meiner Feinde sind auch meine Feinde. Dass der deutsche Geheimdienst bei dem Ganzen irgendwie mitmischte, hat man schnell vermutet. Russische und chinesische Geheimdienste machen bekanntlich sowieso, was sie wollen. Nur mehr Daten sind gute Daten.

Jetzt ist er also da, der kartesische Verdacht – allumfassend und unstillbar, wie der Hunger nach Daten. Seit Juni 2013 gehört es zum Allgemeinwissen, dass alle von allen Daten sammeln, um von allem und jedem alles, was die Form von Wissen hat, zu wissen. Vorratsdatenspeicherung wird zur vollumfänglichen Inventur dessen, was der Fall ist. Wenn schon nicht beim Urknall, dann zumindest auf der Erde.

 

1625 hatte der englische Philosoph Francis Bacon einen Gedanken geäußert, der das nahende Zeitalter des Absolutismus klug vorwegnahm: Dass nichts den Menschen argwöhnischer mache als fehlendes Wissen. Tatsächlich war es der absolutistische Staat, der die Arkantradition begründete, weil er sich an nichts so stieß wie an fehlendem Wissen. Und Wissen fehlt immer. Seiner Natur nach ist Wissen genau das, was sich abhebt von dem, was beim Wissen nicht gewusst wird. Der Geheimdienst war geboren.

Daten nichts anderes als Hörrohre in die Wirklichkeit


Die größte Sorge des absolutistischen Monarchen bestand darin, nicht zu wissen, was die Untertanen dachten und wie aufrichtig sie wirklich waren. Die Sekretäre, die er beschäftigte und die bis heute beschäftigt werden, leiten sich nicht von ungefähr vom lateinischen secreta ab, von Geheimnis. Der Jesuit Athanasius Kircher schlug 1684 vor, das gesamte Mauerwerk des fürstlichen Palasts mit Hörrohren zu durchziehen, um die Gespräche der Besucher zu belauschen. So gesehen sind Daten nichts anderes als Hörrohre in die Wirklichkeit. In Daten wird seit dem 17. Jahrhundert Wissen repräsentiert.

Das Labor gleicht einem Folterkeller


Das Labor ist der moderne Wissensproduzent schlechthin. Im Labor wird eine hypothetische Natur befragt. So forderte es Francis Bacon, freilich mit dem Ziel, die „Ressourcen der Erde auszubeuten“, was nur mit einem Wissen gelingt, das instand setzt, Materie zu manipulieren. Das Labor gleicht einem Folterkeller. In ihm werden die Dinge gezwungen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Martin Heidegger hätte davon gesprochen, dass das Labor die Dinge stellt – so wie der Staat den Whistleblower. Im Labor werden Daten auf inquisitorische Weise gesammelt. Die Inquisition, die unnachgiebige, insistierende Befragung, ist der eigentliche Skandal am Boden der Wissensgesellschaft. An der Inquisition klebt genau jenes Blut, das nach Nietzsche den Grund einer Kultur ausmacht.

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Bis auf den heutigen Tag legt der Staat Wert darauf, mehr zu wissen als seine Bürger. Zu den von ihm sorgfältig gehüteten Geheimnissen gehört, was er zum Staatsgeheimnis erklärt, zur Verschlusssache. Der Staat weiß, dass derjenige, der weiß, was geheim gehalten wird, auch weiß, wonach er suchen muss. Man sieht: Das Geheimnis steht quer zur Wissens- und Transparenzgesellschaft. Und zwar gerade deshalb, weil die heutige Transparenz- oder Wissensgesellschaft den absolutistischen Staat in dessen Drang, von allem Kenntnis zu bekommen, beerbt hat. Alles soll transparent sein, alles soll gewusst werden. Staatsgeheimnisse sind letztlich ebenso unmöglich wie Datenschutz.

Daten und Datenschutz = ein Selbstwiderspruch


Man denke nur an das jüngste Beispiel absolutistischer Wissensvermehrung: Eine nationale Gesundheitsstudie für Deutschland wurde angekündigt, die 200 000 Menschen umfassen und 20 Jahre dauern soll. Naturgemäß wird das Forschungsprojekt damit begründet, dass es einen Wissensschub auslösen soll – in diesem Fall im Hinblick auf Volkskrankheiten wie Krebs, Diabetes, Demenz. Aber das ist ein Vorwand. Man sieht das schön an einem anderen Beispiel: an Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland, zu deren Praxis es mittlerweile gehört, illegalen Datenhandel partiell zu legitimieren. Es muss sich nur um „Steuersünder-CDs“ handeln. Auch hier wird – wie bei der Gesundheitsstudie – moralisch argumentiert. Wo das Recht zum Spielball einer Situation wird, ist es außer Kraft gesetzt. Im Grunde ein unglaublicher Vorgang, ausnahmsweise tatsächlich unmoralisch bis in die Haarspitzen hinein.

Zugegeben ist damit in jedem Fall, dass Daten und Datenschutz ein Selbstwiderspruch sind. Erinnern wir uns: Auch die katholische Kirche hintertrieb den von ihr errichteten Schutz des Beichtgeheimnisses, wenn es darum ging, die Glaubenslehre zu verteidigen. Das Erbe der Inquisition ist ungeahnt vielfältig.

Zeit für eine Politik der Skepsis statt der Zuversicht


Ausgerechnet die Wissensgesellschaft hat also den Absolutismus und dessen Arkantradition beerbt. Das ist, wenn man so will, auch ihr am besten gehütetes Geheimnis. Vielleicht setzt sich allmählich wieder die Erkenntnis durch, dass die Wirklichkeit da draußen nicht so umfassend überwacht und ausspioniert werden kann wie das Netz. Schließlich ist es nach dem „Tod Gottes“ allein das Netz, das über uns alle Buch führt. Und das vermag es besonders effizient, weil Daten die Sprache sind, die Maschinen lesen können.

Der englische Philosoph Michael Oakeshott sagt es so: „Ohne die Telegrafie, die dem osmanischen Sultan Abdul Hamid ermöglichte, die Armenier mit unvergleichlicher Effizienz abzuschlachten, und ohne das Telefon hätte die Politik der Zuversicht längst die Hälfte ihrer Anziehungskraft eingebüßt.“ Deshalb ist es Zeit für eine Politik der Skepsis statt der Zuversicht. Daten werden missbraucht, das ist ihnen gewissermaßen intrinsisch; da helfen gute Worte wenig. Die Fürsten bauen immer und überall Hörrohre in die Wände.

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