- „Da kriege ich das Kotzen“
Die Welt, nicht das Theater, ist der Spielplatz des Zynischen. Warum es einer als politisches Statement versteht, sich auf der Bühne als anarchistischer Querulant zu geben und trotzdem alles Geld einzusacken, das er kriegen kann. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf über Obdachlose, Macht, Merkel und die DDR
Paris. Montmartre. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf studiert in Frankreich eine neue Inszenierung ein. Hier in der Ferne hat er Zeit. Zu Hause in Berlin ist es zu hektisch für lange Gespräche. Wir treffen uns in seinem Apartment, ziehen durch die Straßen, landen in einer Kneipe. Castorf bestellt Weißwein. Einen. Und noch einen. Sein Leben ist so widersprüchlich wie seine Sechs-Stunden-Aufführungen von Dostojewski. Aber Widersprüche gehören für ihn zur Normalität. Ein Gespräch, das nüchtern begann und im Delirium endete.
Herr Castorf, genießen Sie es, in Frankreich zu
arbeiten?
Wenn ich in Paris die Avenue de Clichy entlanggehe, macht mich das
nicht glücklich. Überall sehe ich Bettler und Obdachlose. Gestern
hat es geregnet. Ich habe nur Beine gesehen, die aus den Hausfluren
schauten. Mich hat das an tote Ratten erinnert. In Berlin habe ich
bei den Obdachlosen irgendwie noch das Gefühl, dass sie Teil der
Gesellschaft sind. Und auch in Rio oder Caracas habe ich nicht
dieses erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit wie hier in
Frankreich. Nein, ich mag dieses Land mit seinem Napoleon-Pinocchio
an der Spitze nicht. Ich finde es in vielen Zügen asozial.
Asozialer
als Drogenkrieg und organisierte Kriminalität? Das ist nicht Ihr
Ernst.
Soziokulturell gesehen spüre ich in Südamerika eine
gesellschaftliche Wut, die dazu führt, dass sich Menschen zu
kriminellen Zwecken zusammenschließen. Mich erinnert das an Heiner
Müller, der einmal sagte, dass die Heimat der Schwarzen der
Aufstand sei. Das gefällt mir – dieses Vererben der Wut. Ich
überlege mir dauernd, wie es wäre, diese Wut in das Theater zu
lenken. Nicht auszudenken, wenn die Bühne so anarchisch, subversiv
und so wütend wäre wie die Drogenjünger in Caracas …
Herr Castorf, bitte – diese pubertären
Provokationen sind ja hübsch, aber ich würde gerne ernsthaft mit
Ihnen über das Theater in Deutschland reden. Darüber, warum es
politisch nicht mehr wirksam ist. Was tut die Bühne zum Beispiel
für einen Obdachlosen? Was geht die Armen Ihr Schickimicki-Publikum
in Berlin-Mitte an? Die kommen doch zum Partymachen ins
Theater.
Ist das so? Ich will Ihnen Ihre Meinung nicht rauben, glaube aber
nicht, dass sie stimmt, und gebe zu, dass ich einen Teil unseres
Publikums auch nicht mag. Und, ja, alles, was ich für einen
Obdachlosen tun kann, mache ich als Mensch, nicht als Regisseur.
Ich gebe ihm einen Euro – das ist schon mehr als ein guter
Grüner zu geben bereit wäre. Aber vielleicht schaffe ich es am
Theater wenigstens, meine Wut darüber zu formulieren, dass diese
Welt, durch die ich täglich gehe, nicht in Ordnung ist. Dabei ist
mir vollkommen klar, dass ich dabei keinen politischen Konsens mit
Leuten wie Klaus Wowereit oder Angela Merkel finde – die sind
und bleiben auf der anderen Seite.
Sie glauben nicht, dass Berlins Bürgermeister oder die
Kanzlerin sich auch schlecht fühlen, wenn Sie einen Obdachlosen in
Berlin sehen?
Das können die doch gar nicht, ihnen geht es lediglich um die
Erhaltung des Machtapparats. Nein, die stellen dann höchstens
irgendwann Kerzen auf, wenn mal wieder ein Ausländer totgeschlagen
wird. Und dann reihen sich die Theatermoralisten und
Strickjackenträger wie mein Freund Frank Baumbauer gleich mit ein.
Da kriege ich das Kotzen.
Theater und Politik dürfen also nicht solidarisch
werden?
Was ich meine, ist, dass es den alten Zadek und den Stuttgarter
Peymann nicht mehr gibt. Ich sehe überall nur noch diese jungen
Karriereregisseure, die schlecht abkupfern, was wir vor zehn oder
15 Jahren gemacht haben. Die haben keine Wut mehr, sondern
wollen im Apparat nach oben. Ihre Effekte sind blutleer. Das alles
ist große bürgerliche Kacke. Ich habe übrigens nichts gegen Frau
Merkel – sie hat Chuzpe, ist wach und für die aktuelle
Situation vielleicht nicht einmal die Schlechteste. Aber aus meiner
sexistischen Sicht ist sie eben auch verletzend, überheblich und
vernichtend. Letztlich ist sie wie Barack Obama: Er ist Schwarzer,
aber weiß wie kein Weißer. Merkel ist eine Frau, aber so männlich
wie kein Mann.
Was macht Sie denn besser als die
Politiker?
Ich unterscheide mich von ihnen durch meinen ausgeprägten,
pöbelnden Zynismus. Es gibt nicht viele Menschen, die sich leisten,
was ich mir leiste: Sie sagen nicht auf der einen Seite: „Ich nehme
alles Geld mit, das ich kriege“, und auf der anderen gebärden sie
sich als blöder, querulatorischer Anarchist. Ich habe mit diesem
ideologischen Widerspruch, der kein dialektischer ist, nicht einmal
ein Problem.
Mit Verlaub, das macht Sie für einen Spießer wie mich
nicht unbedingt zu einem besseren Menschen.
Das weiß ich doch. Und ich kann den Widerspruch auch nicht
auflösen. Aber ich kann wenigstens das Dreckige, das Eklige finden
und zeigen – und beweisen, dass es seinen Platz auf dieser
Welt hat, dass in jeder zwischenmenschlichen Beziehung der
Faschismus bereits angelegt ist. Auch bei mir.
Das Private also ist politisch, aber das Theater
nicht?
Schon der Begriff des politischen Theaters ist absurd. Theater ist
kein politischer Raum, sondern ein Raum der Freiheit. Wenn daran
überhaupt etwas politisch ist, dann der Raum an sich. So wie die
anarchische Republik Volksbühne, in der ich ein gut bezahlter
Deutschland-Exilant bin. Ich weiß, dass ich den Krieg längst
verloren habe, aber ich glaube noch daran, die eine oder andere
Schlacht gewinnen zu können. Ich bin in vielen Dingen Marxist,
erkenntnistheoretisch bin ich aber Agnostiker. Ich glaube nicht an
die Erkennbarkeit der Welt, und schon gar nicht an die
Beherrschbarkeit der Welt. Ein erkenntnistheoretischer Marxist ist
für mich Josef Ackermann von der Deutschen Bank – er glaubt,
dass er die Welt erkennen und beherrschen kann. [gallery:Die zehn
wichtigsten Regisseure]
Vielleicht sollten Sie Politiker werden, um das, was auf
der Bühne längst kein Skandal mehr ist, dort zu
institutionalisieren.
Das habe ich mir nur einmal angetan: auf dem Vereinigungsparteitag
der Linken. Da saß ich zwischen Lothar Bisky und Oskar Lafontaine
und habe all die alten Hausfrauen und die Arbeitslosenverbände
gesehen und wollte nur noch weg! Ich habe zu meinem Freund Gregor
Gysi gesagt, dass ich das nicht kann, weil ich noch etwas mit
meinem Leben vorhabe.
Aber ihr Freund Gregor Gysi fühlt sich da
wohl?
Der kann doch gar nicht anders. Er versteht sich als moderner Karl
Liebknecht. Und mit seiner jüdischen, großbürgerlichen Herkunft
eignet er sich auch dazu, genau das zu machen. Ich habe ihm viel zu
verdanken. Ich mag ihn. Und ich finde, er ist gut dort, wo er
ist.
Philosophen wie Guy Debord haben schon in den sechziger
Jahren behauptet, dass die Gesellschaft, dass Politik, Sport und
selbst die Darstellung des Einzelnen zum eigentlichen Spektakel
geworden sind. Muss das Theater da nicht umdenken und, statt die
Inszenierung zu pflegen, die Show der Wirklichkeit
dekonstruieren?
Sie haben ja recht: Wir müssen uns fragen, ob wir nicht längst
überflüssig sind. Das Theater vor 20 Jahren hatte die Kraft,
die Kommunikation zwischen den Systemen zu garantieren –
zwischen dem Osten und dem Westen, dem Kommunismus und dem
Kapitalismus, zwischen oben und unten. Das gibt es so heute alles
nicht mehr. Und es geht noch weiter: Inzwischen ist ja sogar der
Skandal vom Bürgertum vereinnahmt worden. Denken Sie nicht, dass
ich weiß, wie viele Menschen in meine Vorstellungen kommen, sich
langweilen oder schockiert sind – aber sich nichts anmerken
lassen, weil sie glauben, dass das modern sei? Aber ich möchte
nicht, dass die Welt untergeht. Ich finde, das Theater hat noch was
zu sagen. Außerdem habe ich sechs Kinder und muss noch ein bisschen
Geld verdienen.
Verdienen Sie nicht viel zu viel Geld?
Ich finde, dass ich ein oft beleidigter und viel gedemütigter
Regisseur bin – und damit viel zu schlecht bezahlt werde.
Welche Impulse wünschen Sie sich denn für das
Theater?
Man merkt auch heute durchaus noch, wenn jemand etwas tut, das
nicht seinen merkantilen Interessen entspricht. Schauen Sie sich
die alten Talkshows an, da wurden Schreibtische mit einer Axt
zerschlagen – das war narzisstisch, vielleicht sogar
inszeniert. Aber es war eine unglaubliche Explosion des Individuums
innerhalb des politischen Kontexts. Oder nehmen Sie einen
Schauspieler wie Klaus Kinski, der sich als paranoider Jesus
Christus mit der gesamten Deutschlandhalle angelegt hat! Das finde
ich stark. Und das vermisse ich im Theater.
Vielleicht, weil diese Gesten manchmal nur noch hilflos
und anachronistisch erscheinen. Weil sie heute lächerlich
wirken?
Umso größer muss der Mut sein, es wieder zu machen. Aber es macht
eben keiner mehr, weil jeder nur noch seine Produkte verkaufen
will. Die ganze Fernsehscheiße ist ja schon zur sozialen
Wirklichkeit geworden. Unsere ganze Welt ist ein Talk oder Quiz mit
vier Antwortmöglichkeiten. Die Möglichkeiten der Unendlichkeit
kennt das Fernsehen nicht mehr. Wer abhängig von diesem Suchtmittel
ist, denkt, das sei das Leben! Meinetwegen kann das Privatfernsehen
machen, was es will – von morgens bis abends Pornos senden.
Aber das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat damals Fassbinder
gesendet, sodass jeder Arbeiter und Prolet sich das ansehen
musste.
Aber die Hausfrau vom Linken-Parteitag wollten Sie eben
gar nicht haben …
Das unterscheidet das Theater vom Fernsehen: Das Theater ist ein
Freiraum, in dem ein Ensemble sich austoben kann – auch ohne
Rücksicht auf die Zuschauer. Hier ist der Sinn der Innenraum. Wenn
er gut ist, wirkt er. Das Fernsehen aber hat einen Kultur- und
Bildungsauftrag nach außen. Denken Sie an Löwenthal, an „Panorama“
und „Report“ – die konnten das einmal. Heute wechselt ein
Chefredakteur vom Spiegel zur Bild, und eine Lady, die einmal alle
Frauen der Welt befreien wollte, nur weil Sartre auf ihre Knie
geschaut hat, schreibt nun über irgendeinen Kachelmann im
Boulevard. Diese Art der Verlumpung ist mit mir nicht machbar.
Keine Hoffnung, nirgends?
Doch, mir gefiel zum Beispiel Sebastian Haffner und seine Sicht auf
Hitler. Solche Leute bewundere ich. Und natürlich Fidel Castro! Ich
trage diesen Adidas-Trainingsanzug, weil ich ihn verehre – den
gesponserten kubanischen Idealisten.
Nun reden Sie doch wieder fürs Feuilleton. Warum
sympathisieren Sie eher mit Fidel Castro als mit Angela Merkel? Das
ist menschlich einfach nicht zu legitimieren.
Das kann ich Ihnen genau sagen: In Kuba gibt es eine
funktionierende Kultur innerhalb des diktatorischen Rahmens.
Deshalb bin ich immer für Fidel Castro und Che Guevara. Ich würde
Castros Machismo immer stützen. Während Merkel ist, was von ihr
erwartet wird, ist Fidel Castro er selbst. Ein Protagonist der
Weltgeschichte. So wie Tito – er ist mein großes Vorbild. Dass
Genscher mir Jugoslawien zerschlagen hat, werde ich ihm nie
verzeihen. Klar, Tito war Stalinist, aber er hat das Land
zusammengehalten. Das war meine Hoffnung.
Sorry, aber da kann ich Ihnen nicht mehr folgen. Dann
muss Hitler auch eine Hoffnung für Sie gewesen sein – er war
auch er selbst.
Hitler war eine Fehlgeburt des apollinischen Theaters. Er war, wie
Brechts „Arturo Ui“ ihn zeigt: eine Kreatur. Leider hat man seine
missgeburtlichen Fähigkeiten nicht im Theater oder im Film genutzt.
Das hat dummerweise nicht einmal Piscator geschafft.
Herr Castorf, ich bin jetzt 40 Jahre alt und mit
den Opern von Peter Konwitschny und mit Ihren Aufführungen
sozialisiert. Ihre Inszenierungen hatten für mein Leben
existenzielle Bedeutung. Ich dachte immer, wir bewegen uns im
gleichen Geist. Nun hat Konwitschny mir kürzlich gesagt, dass die
Welt eh untergeht und er Theater nur noch macht, weil er Spaß daran
hat. Von Ihnen höre ich jetzt, dass sie eigentlich nur zynisch
sind. Habe ich Ihre Stücke vielleicht ernster genommen als Sie
selbst? Haben Sie mich am Ende nur verarscht?
Nein, natürlich nicht. Das mache ich nicht. Ich schwöre. Ich
glaube, Sie haben das damals schon richtig verstanden. Es geht um
einen Geist. Und es geht darum, Menschen, die bereit sind,
existenziell zu fühlen, abzuholen.
Haben mich Ihre Produktionen deshalb
berührt?
Vielleicht auch, weil Sie Schauspieler gesehen haben, die am Ende
waren. Ich hatte es immer nur mit diesen Borderline-Leuten zu tun.
Das war schon in meinem ersten Theater, in Anklam, so: Meine
Schauspieler waren Trinker, Menschen, die mit allem sehr freizügig
umgegangen sind, die auf der Grenze des Lebens tanzten. Und ich
wollte das kanalisieren mit dem Theater, in dem man eine asoziale
Grundausrichtung in eine Haltung und eine Politisierung überführen
kann.
Ich weiß nur, dass mich all das heute langweilt –
ich schreibe seit Jahren keine Kritiken mehr, weil ich den Schrott
auf der Bühne nicht mehr sehen kann!
Bravo! Das finde ich konsequent. Schreiben Sie
Reiseberichte – da verdienen Sie auch besser. Schauen Sie doch
meinen geliebten Feind Gerhard Stadelmaier an. Der ist ja auch nur
gut, weil es mich gibt – er schreibt fantastisch, wenn er
wütend ist und Verrisse produzieren kann. Wenn er ein Buch
schreibt, schreibt er nur Schrott.
Sind die Schauspieler bei Ihnen denn gut aufgehoben?
Einer Ihrer Schauspielerinnen, Maria Kwiatkowsky, konnte die Bühne
im vergangenen Jahr nicht mehr helfen. Sie starb mit 26 Jahren
in ihrer Wohnung in Berlin.
Das sind Momente, an denen auch ich ratlos und unendlich traurig
werde. Maria war traurig in ihrer Welt, die mit Drogen durchsetzt
war. Irgendwann hat sie den Glauben daran verloren, dass man eine
Schlagkraft entwickeln kann, wenn man sich in einer Gruppe
zusammentut. Ich habe viel versucht, um sie zu integrieren, sie von
unserer Idee zu überzeugen. Sie war lustig und fröhlich. Und ich
war eine Art Vaterfigur für sie – sie hat mich immer wieder
nach meinem Leben und meinen Kindern gefragt. Aber wenn ich nicht
da war, fing die dunkle Seite in Berlin wieder an. Da wird
inzwischen auf jeder verdammten Toilette gekokst, so sehr, dass ein
normaler Mensch, der auf Klo will, stört. Maria ist in diese
Toilettenwelt gerutscht. Dann hat sie den Film gemacht, und alle
waren begeistert. Ich habe ihr gesagt: „Wenn du weitermachst mit
dem Film, musst du genau sortieren.“ Und sie wollte auch zurück in
den Schoß der Familie, an die Volksbühne, wollte den Sommer vorher
noch einmal genießen – aber das war dann zu viel. Nur so kann
ich mir das erklären.
Fordert Ihr Theater am Ende vielleicht doch zu
viel?
Es fordert die Existenz, ja. Aber sein Zweck ist gerade, das
Abrutschen im Leben zu vermeiden. Auf der Bühne entsteht erst aus
der Überforderung Wahrheit. Und, klar, es geht um die absolute
Selbstzerstörung. Ich verstehe das Theater als Ort, an dem wir
unsere Dunkelheit ausleben können, um nicht von ihr in den Tod
gerissen zu werden.
Auch Volksbühnen-Held Christoph Schlingensief ist –
so hat er es empfunden – letztlich am Theater, an Bayreuth,
zugrunde gegangen…
Der hat sich wirklich in der Kunst zerrieben, er hat die vielen
Plattformen irgendwann nicht mehr kontrollieren können, ist zum
Kunstwerk geworden. Und, ja, wenn Sie so wollen, zu einem
Opfer.
Einigen Ihrer alten Schauspieler an der Volksbühne
scheinen die Opfer des Theaters zu groß geworden zu sein – sie
stehen nicht mehr bei Ihnen auf der Bühne.
Inzwischen können einige Schauspieler meine Inszenierungen auch gar
nicht mehr spielen. Ein Henry Hübchen oder ein Martin Wuttke –
die können es nicht mehr leisten, sich sechs Stunden lang permanent
zu überfordern.
Kann es sein, dass Sie von Ihren Schauspielern mehr
verlangen als von sich selbst?
Ich mach das doch alles mit ihnen zusammen. Ich brülle bei den
Proben, laut, leise, schnell, langsam, nehme die Schauspieler,
reiße sie über die Bühne, schubse sie von links nach rechts … Ich
geh da schon von Marx aus. Mein Produkt hat mit mir zu tun.
Entfremdete Arbeit lasse ich nicht zu. Und ich habe das Privileg,
dass die größten Egoisten und Narzissten, so wie Sophie Rois, sich
diesen katholischen Exerzitien zur Verfügung stellen.
Ah, das ist auch so ein Thema: Sie sehnen sich schon
nach der DDR, oder?
Wir hatten in der DDR eine gute Zeit. Ja, das muss ich sagen. Bei
meinem ersten Job in Anklam war es so, dass die Damen und Herren
von der Staatssicherheit in der Ellenbogenstraße saßen. Ich habe
damals gerade „Trommeln in der Nacht“ inszeniert. Da gibt es den
schönen Satz: „Ja, Ellenbogen muss man haben, um auf den grünen
Zweig zu kommen.“ Der Schauspieler, der diesen Satz damals
gesprochen hat, Horst-Günter Marx, ist zwei Tage vor der Premiere
in die Ellenbogenstraße abgeführt worden und für zwei Jahre nicht
mehr aufgetaucht. Ich habe später in meiner Stasi-Akte gelesen,
dass auch gegen mich die Anklage schon lief.
Hatten Sie in der DDR, was Sie in der Bundesrepublik
nicht haben müssen: existenzielle Angst um Ihr Leben?
Nein, merkwürdigerweise nie. Zum einen, weil die Prominenz schon zu
groß war, und weil da die Gysis waren. Ich wusste, dass die
Schlinge baumelt, aber dass es schwer ist, sie zuzuziehen. Ich
wurde von der Selbstverständlichkeit, dass mir nichts passiert,
getragen. Vielleicht auch, weil meine Eltern mir beigebracht haben,
dass ich keine Angst haben musste. Mein Vater kommt auch heute, mit
fast 90 Jahren, noch in seinem Mercedes zu meinen
Premieren – er war früher mal Rallye-Meister der DDR.
Er scheint Sie sehr geprägt zu haben.
Mein Vater hat im Maschinengewehr-Kessel des Krieges gesessen. Auch
wenn ich heute oft mit den „Stahlgewittern“ kokettiere und
behaupte, dass wir manchmal eine solche Erfahrung brauchen, um an
unseren Kern zu stoßen, weiß ich, dass es letztlich nur ein
philosophischer Gedanke ist. Am Ende des Krieges ist mein Vater
desertiert, und meine Großmutter hat ihn vor den Russen in einem
Uhrkasten versteckt. Nach dem Krieg hat er geschmuggelt, Geld
verdient und gut gelebt. Er wollte immer, dass wir unser Leben nach
unseren Bedürfnissen strukturieren. Und letztlich waren meine
ersten theatralen Erfahrungen unsere Familienfeiern, wenn der Onkel
Werner der Tante Erna nach vier Flaschen Bier an die Brüste gefasst
hat. Da war der zwischenmenschliche Faschismus bereits
erkennbar.
Familie scheint Ihnen wichtig zu sein. Haben Sie
eigentlich zu Ihren Ex-Freundinnen ein gutes
Verhältnis?
Für die eine bin ich nur ein Arschloch, die andere fühlt sich
schlecht behandelt, und noch eine will mehr Geld. Aber was will man
machen. Wenn Geld mit Genuss vernichtet wird – wunderbar!
Sind Sie denn ein Arschloch?
Ja – aber das sage ich auch.
Haben Sie kein Bedürfnis, Frieden zu
schließen?
Ich muss das von eben zurücknehmen: Ich bin kein Arschloch. Ich
weiß, wie vielen Leuten ich politisch, finanziell oder einfach nur
als Freund geholfen habe. Aber, wenn ich heute, mit 60 Jahren,
ernsthaft nachdenke, wie ich Menschen durch eine Geste ins Unglück
getrieben habe, an einige meiner Kinder denke, um die ich mich nie
gekümmert habe, merke ich schon, dass es nicht schlecht gewesen
wäre, wenn ich es getan hätte. Nein, ich habe Menschen extrem
verletzt. Ich habe sie in einer Art allein gelassen, die ebenfalls
zwischenmenschlicher Faschismus ist.
Suchen Sie Versöhnung?
Das kann man doch nicht. Aber ich bin dankbar, wenn Menschen wie
meine zweitälteste Tochter irgendwann kommen und sagen: „Ach, Papa,
ich habe es nicht so schlecht gehabt. Ich hatte meine Großeltern.
Das ist alles nicht so schlimm. Du brauchst dir darüber keinen Kopf
zu machen.“ Dann bin ich ein bisschen froh für den Moment. Aber ich
weiß auch, dass ich diese asoziale Komponente habe. Vielleicht bin
ich als psychischer Modellverlauf interessant.
Ziehen Sie denn Konsequenzen aus Ihren
Gedanken?
Ich habe jetzt eine Freundin, die mich zwingt, kinderlieb zu sein.
Und ich merke, wie ich plötzlich mit meinem Zweijährigen bei seiner
Mutter mit zwei Tüten aus dem Ökoladen im Prenzlauer Berg stehe.
Das ist gut für mich. Das habe ich früher nie getan. Ich bin 60 und
ein bisschen wie Napoleon. Wenn den Kindern die Schokolade nicht
schmeckt, die ich nach Hause bringe, hole ich eben neue. Ich nehme
das als Strafe für mein sündiges Leben an. Und manchmal sitze ich
dann da und denke, dass mein Leben im Alter das wahre Vaudeville
ist. Ich hab’s nicht anders verdient!
Werden Sie einmal in Frieden sterben?
Nö, ich will sterben, wie ich immer war: großmäulig, treibend,
echt. Ich will auch nicht auf den Dorotheenstädtischen
Friedhof – ich will irgendwo verscharrt werden. Was das
anbelangt, bin ich vollkommen unsentimental.
2013 werden Sie Richard Wagners „Ring“ in Bayreuth
inszenieren. Zum 200. Jubiläum des Komponisten. Was genau
werden Sie machen?
Ich denke noch nach. Zunächst habe ich beim „Ring“ an Öl gedacht,
an die Route Sixtysix, an eine Tankstelle, und im Hintergrund an
einen großen, blauen Pool. Aber der Dirigent Kirill Petrenko ist
noch nicht überzeugt und hat mir in einer sehr zuvorkommenden Art
zu verstehen gegeben, dass das nicht alles sein könne. Nun denken
wir weiter. Ich habe auch über diesen wundersamen Ort Bayreuth
nachgedacht, der die deutsche Geschichte aufgesogen hat. Es ist
nicht leicht, eine Interpretation zu finden.
[video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn]
War Wagner nicht der Castorf des 19. Jahrhunderts?
Einer, der eine 17-Stunden-Oper hingeworfen hat. Der das Extreme
forderte, das Unmögliche, das Große und Pathetische.
Vielleicht haben Sie recht: Da ist viel von meinem Theaterleben
drin. Von meiner Theaterästhetik. Ich will auch weitergehen als
eine Ruth Berghaus, mich interessiert die intensive Zusammenarbeit
mit den Sängern, dem Dirigenten, dem Orchester. Ich denke an die
Rheinnixen, die tauchen auf und ab und singen dabei – das ist
theatraler Aktionismus! Da kommt der Drachen, der
Weltuntergang – ja, der „Ring“ ist eigentlich eine
Volksbühnen-Oper.
Eben waren Sie für einige Momente sehr nachdenklich.
Könnte die große Oper auch eine Art Alterswerk werden?
Ich glaube nicht – darüber bin ich schon hinweg. Bis 1998 habe
ich radikales, anarchistisches Theater gemacht, dann habe ich
Dostojewski entdeckt und gemerkt, wie groß er ist. In diesem Moment
habe ich die Demut kennengelernt und gemerkt, wie es ist, sich als
Künstler einem anderen Künstler komplett zur Verfügung zu stellen.
Demut bedeutet, dass man das, was andere tun, versteht, ohne selbst
daran zu partizipieren. Und so ist es bei Wagner auch. Ich komme
durch diese Meister wieder zu meiner Jugend zurück. Ich bin wieder
am Anfang, beim Ausrutschen auf der Banane, beim
Auf-die-Fresse-Fallen – bei der alten Wut.
Das Gespräch führte Axel Brüggemann
Fotos: picture alliance
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
Liebes Cicero Team
macht bitte ein neues Interview mit Frank Castorf über die aktuelle - inzwischen aufgelöste - Besetzung der Volksbühne - oder über Theater im Allgemeinen.
Danke
Cecilia Mohn