Bewaffneter Soldat und Anti-Putsch-Demonstrant auf dem Taksim-Platz in Istanbul / picture alliance

Türkei - Die Hoffnungen auf Rechtsstaatlichkeit sind gestorben

Nach dem gescheiterten Putschversuch des Militärs stellen sich zwei Fragen: Wer waren die Putschisten? Und was bedeutet ihre Niederlage für das Land?

Melih Cilga - Kopya

Autoreninfo

Melih Cilga ist freier Datenjournalist und lebt in Istanbul.

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Der jüngste Putschversuch in der Türkei ist nach zehn Stunden gescheitert. Die Erdogan-Regierung gewinnt die Kontrolle zurück. Polizei und regierungstreue Militärs sollen fast 3000 Putschisten festgenommen haben.

Erdogan machte sofort die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Die Gülen-Bewegung hat jedoch diesen Vorwurf zurückgewiesen und den Putschversuch verurteilt.

Wenn es richtig ist, dass die Putschisten tatsächlich Anhänger der Gülen-Bewegung sind, dann stellt sich selbstverständlich eine Frage: Wie konnte der Regierung entgehen, dass solch ein Putschversuch vorbereitet wurde? Sie hatte die Gülen-Bewegung vor einem Jahr als eine Terror-Gruppe eingestuft und sie zur Zielscheibe zahlreicher Ermittlungen gemacht.

Wir wissen nicht, ob die Putschisten tatsächlich Angehörige der Gülen-Bewegung sind. Was wir aber wissen, ist, dass die Putschisten nur eine relativ kleine Gruppe innerhalb der türkischen Armee waren. Das war vielleicht einer der am schlechtesten vorbereiteten Putschversuche in der türkischen Geschichte.

Hintergründe zur Gülen-Bewegung

Bis Dezember 2013 waren Erdogan und Gülen noch enge Verbündete. Erdogan hatte jahrelang gezielt Gülen-Anhänger in fast alle Ämter des Staates gebracht. Dann aber fingen diese 2013 als Polizisten und Staatsanwälte damit an, Korruptionsvorwürfen gegen den inneren Zirkel Erdogans zu erheben und zu ermitteln. Das war das Ende der Partnerschaft.

Die Gülen-Bewegung war zu dem Zeitpunkt so fest im Staat - besonders in Polizei und Justiz - verankert, dass sie es wagte, die Regierung zu stürzen und die ganze Staatsmacht zu übernehmen.

Die Armee war damals nicht in ihrer stärksten Verfassung, weil fast alle hochrangigen Generäle wegen der berühmten Ergenekon-Ermittlungen schon inhaftiert worden waren. Natürlich steckten Gülen-Angehörige hinter diesen Ermittlungen. Die Verhaftungen mehrerer Generäle als vermeintliche Mitglieder der „Ergenekon-Gruppe“ hatten Anfang Juli 2008 angefangen und ungefähr fünf Jahre angehalten.

Nach den Korruptionsvorwürfen gegen sich betrieb Erdogan eine massive Hexenjagd auf die Gülen-Bewegung. Mehr als 40.000 der Gülen-Bewegung angehörige Staatsbeamte wurden in den vergangenen drei Jahren verhaftet, entlassen oder zwangsweise in andere Ämter verlegt. Gülen wurde zum größten Widersacher von Erdogan. Im April 2016 hob der Oberste Gerichtshof dann die 275 Verurteilungen im Ergenekon-Prozess auf.

Ein Erfolg für die Demokratie?

Aber noch eine weitere Frage muss man sich nun stellen: Ist der Sieg über die Putschisten auch ein Sieg für die türkische Demokratie? Leider sieht es nicht danach aus! Was wir jetzt erwarten können, ist eine weitere „Säuberung“ gegenüber allen Opponenten der Regierung. Erdogan wird seinen Plan von einer autoritären Präsidentschaft demnächst wohl verwirklichen.

Wir sind glücklich, dass der Putschversuch gescheitert ist. Wäre er erfolgreich gewesen, hätte das wahrscheinlich einen Bürgerkrieg verursacht. Gestern Abend haben wir gesehen, wie Erdogan seine Anhänger aufgefordert hat, sich auf den Straßen und den zentralen Plätzen zu versammeln und gegen den Putsch zu demonstrieren.

Jetzt aber leben wir in einer Illusion von einer Demokratie mit einem Regime, das jeden Tag autoritärer wird. Wir leben in einer Gesellschaft, die jeden Tag mehr auseinanderfällt. Beide Alternativen, Militärputsch oder autoritäre Präsidentschaft, sind unangenehm. Doch der Militärputsch wäre sicher der schlimmere Ausgang.

Die Armee hält sich traditionell für den Schutzherrn der säkularen Türkei. Erdogan aber wendete die Staatspolitik in Richtung des konservativen Islam. Keine der Seiten, weder Armee noch Erdogan, kümmert sich um die Demokratie. Gestern Abend sind alle Hoffnungen auf Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gestorben.

 

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Petra Wilhelmi | Sa., 16. Juli 2016 - 15:47

Welche türkische Demokratie? Diese Frage sei gestattet. Ich sehe keine. Nach der letzten Wahl in der Türkei mit gekauften Stimmen? Nach dem Rausschmiss der kurdischen Parlamentarier? Welche Demokratie? Die Türkei ist eine Autokratie, die mit Riesenschritten in einen "Gottes"staat verwandelt wird. Das Parlament ist nur noch Staffage. Erdogan kommt mit diesem Putsch, soweit es wirklich einer wahr, diesem Ziel immer näher. Wir sollten uns Antworten darauf geben, was die tausenden Pro-Erdogan-Bekundungen der türkischen Gemeinde für unsere Demokratie zu bedeuten haben. Ist deren Staatsoberhaut nicht Gauck? Erdogan auf keinen Fall. Nur tun sie so, als ob sie noch zur Türkei gehörten, genau wie Erdogan es angekündigt hat, dass das seine 5. Kolonne sei. Darum müssen wir uns hier sorgen.

Diana Weisheit | Sa., 16. Juli 2016 - 16:39

Ist der Sinn eines Putsches nicht, das Staatsoberhaupt zu stürzen, ihm den Prozess zu machen (oder möglicherweise auch "kurzen Prozess mit ihm zu machen)?

Wenn ja, wer verübt dann einen Putsch, wenn das Staatsoberhaupt gar nicht da ist, sondern gerade Urlaub macht?

Merkwürdig, sehr merkwürdig.

Ulrike Samson | Sa., 16. Juli 2016 - 17:04

Die deutsche Politik war hinsichtlich der inneren Machtkämpfe in der Türkei von jeher mit bezeichnender Dummheit geschlagen. Wer erinnert sich nicht an den frenetischen Applaus deutscher Politiker, als Erdogan die kemalistischen Generäle entmachtete unter Hausarrest stellte, sie inhaftierte oder sonst wie entmachtete. Ein Erfolg für den Frieden, die Demokratie und ein weiterer Schritt auf einen EU Beitritt hieß es von den geistig verwirrten in Berlin. Nun setzt die zweite Säuberungswelle ein und schon wieder stärken westliche Politfunktionäre diesem Mann den Rücken, bezeichnen ihn als zuverlässigen und treuen Bündnispartner und rufen die türkische Bevölkerung auf sich hinter diesen zu stellen. Da ist das dümmliche Ukraine/Russland Geschachere gefolgt vom syrischen Fiasko dieser Politiker noch in den Köpfen präsent und schon greift man wieder tief in den Locus der Bündnisdiplomatie ohne Rücksicht auf demokratische Glaubwürdigkeit. Aber so kennt man die EU und unsere Politik.

Eberhard Mälzer | Sa., 16. Juli 2016 - 17:41

Was bedeutet der gescheiterte Putsch (egal ob dilettantisch oder sogar inszeniert) für unser Land. Gestern strömten nach einem Erdogan-Aufruf an seine Anhänger in aller Welt binnen zwei Stunden 3000 Türken in Berlin-Mitte vor der türkischen Botschaft zusammen und skandierten "Allahu akbar". Die jetzt unvermeidliche weitere Islamisierung in der Türkei zur Machtabsicherung Erdogans wird sich über seine Anhänger auch auf unser Land auswirken. Und bei unseren Eliten in Politik, Kirchen, Gewerkschaften, Kunst und Medien ist so gut wie kein Problembewußtsein dafür zu spüren. Man wird auf die immer robuster vorgetragenen Forderungen muslimischer Geistlicher und Funktionäre zumindest teilweise eingehen, nach dem Motto "Wer öffentlichen Einfluß genießt, integriert sich eher". Stichworte: Moscheebau, staatliche Zuwendungen, islamischer Religionsunterricht, muslimische Feiertage, Verbreiterung religiöser Symbole (Kopftuch) auch im öffentlichen Dienst. Deutschland verändert sich – leider!

Jacqueline Gafner | Sa., 16. Juli 2016 - 18:09

Das ist so, wie bereits die ersten Reaktionen von Erdogan zeigen, namentlich die Suspendierung von über 2700 Richtern. Vielleicht will er deren Job in Zukunft ja auch gleich selber machen? Das käme seinen Allmachtphantasien doch entgegen, deren Umsetzung er dank des Putsches, den er post festum als "Geschenk Gottes" bezeichnet haben soll, einen grossen Schritt näher gekommen ist. Und das im Wissen, dass dies weder die USA noch die EU und die NATO darin hindern wird, weiter mit ihm zu geschäften und die Türkei als wertvollen Partner im Kampf gegen den Daesh und bei der Regulierung der sogenannten Flüchtlingskrise zu bezeichnen. Ihnen fehlt Russland in der Aufzählung? Echt jetzt? Auf der Strecke geblieben ist in der letzten Nacht nicht nur die Aussicht auf eine Türkei, die sich selbst als Teil dessen sieht, was "Europa" im Kern ausmacht; auf der Strecke geblieben ist auch die Hoffnung, dass der "Westen" den eigenen Werten auch dann verpflichtet bleibt, wenn es ernst gilt.

Peter Bigalk | Sa., 16. Juli 2016 - 22:14

Die Putschisten hätten wissen müssen,dass sie nur einen Schuss haben. Ohne Erdogan von Anfang an festzunehmen war klar, das es so kommen würde. Damit hat sich die Türkei endgültig aus den demokratischen Staaten verabschiedet, der Islamismus blüht!

Gudrun Philipp | Sa., 16. Juli 2016 - 23:13

ist ein Paradoxon so wie blühende Landschaften am Südpol. Doch viele europäische "Granden" sehen das anders und haben sich beeilt, dem "Sultan" vom Bosporus lautstark zu bescheinigen, daß er ganz und gar demokratisch gewählt worden ist und alle offensichtlich sehr froh sind, daß er die Geschicke seiner Untertanen weiterhin in seiner festen Hand hält. Eine Hand, die ohne Skrupel in den kommenden Tagen und Wochen tausende in die Gefängnisse schmeißen wird, aus denen es sicherlich kein Entkommen mehr geben wird. Es wäre doch mal ganz interessant, zu erfahren, wieviel Prozent der türkischen Bevölkerung unter welchen Umständen ihr Leben in Gefängnissen fristet im Vergleich zu den europäischen Ländern. Mögen wir Europäer davor bewahrt bleiben, daß dieser Sultan nicht eines Tages auf die Idee kommt, europäische Gefängnisse in seinen Herrschaftsbereich einzubeziehen. Böhmermann, Holland und die Schweiz sind hoffentlich nicht die Anfänge seines ungezügelten Machtstrebens.

peter hauser | So., 17. Juli 2016 - 16:47

Ich erinnere mich wage, daß von russischer Seite auf die Bemerkung zu Merkels Äußerung : " er lebt in einer anderen Welt" , geantwortet wurde, : "ja in der Realistischen".
So ähnlich kommt man sich z.B. vor, wenn heute Deutschland mit der Türkei Verhandlungen führt, die in idealistisch moralichen Ambitionen die Wirklichkeit <ausblendet > und primär auf einer Metaebene versucht, die Flüchtlingsproblematik zu lösen.

Eigentlich fast jeder empfindet, daß die Türkei eigentlich noch lange nicht (wenn überhaupt), "europatauglich" ist.

Müssen denn erst Fakten, die der letzten Zeit so wirkmächtig aufgetreten sind sich ereignen, um im politischen "Elfenbeinturm" wahrgenommen zu werden ?

Karola Schramm | So., 17. Juli 2016 - 17:27

Trauriges Fazit: "Gestern Abend sind alle Hoffnungen auf Rechtsstaatlichkeit in Türkei gestorben."

Doch mal abwarten. Die Türkei ist angewiesen auf Touristen. Schon jetzt melden die Urlaubsregionen "Land unter." Es kommen keine Touristen mehr.

Vieles in der Türkei wird sich zum Nachteil verändern durch das Fehlen von Touristen.

Wie es aussieht, hat Erdogan viele Menschen getäuscht. Erst den Demokraten geheuchelt, dann sein wahres Gesicht gezeigt. So machen es die Psychopathen.
Ich will einfach nicht glauben, dass eine ganze Bevölkerung psychopathisch veranlagt ist & Erdogan folgen wird. Sie müßte, allein aus der Vergangenheit der Deutschen wissen, dass so etwas nie gut geht.

Wir sehen doch, dass es überall brodelt, die Menschen frei sein wollen von Diktatur & Machtmissbrauch. Mit Erdogan hat sie einen Namen, somit ist nichts auszuschließen.

In der EU heißt sie "Markt", was Proteste schwieriger aber nicht unmöglich macht.

Also, liebeR AutorIn, alles ist offen.

Sabine Bock-Hanci | So., 17. Juli 2016 - 18:31

Ich kann Frau Wilhelmi nur zustimmen - Demokratie existiert in der Türkei schon seit einiger Zeit nicht mehr. Presse und Meinungsfreiheit wird so beschnitten, dass am Ende nur noch eine Erdogan freundliche Berichterstattung übrig bleibt.
Und das hier bei uns gleich in mehreren Städten Türken - wahrscheinlich viele mit deutscher Staatsangehörigkeit - auf die Straße gehen, um ihrem "Idol und Herrscher" zu unterstützen, ist für mich gruselig.......ich bin 1957 geboren und habe immer nur Freiheit kennengelernt - aber das Machverhalten von Erdogran erinnert mich an Jemanden der auch Deutschland mal voll vor die Wand gefahren hat.

Helmut Bachmann | So., 17. Juli 2016 - 18:36

lieber Unterwerfung als Militärputsch? So ein Quatsch.

Bernhard K. Kopp | So., 17. Juli 2016 - 18:38

Die kurzfristige Betrachtung ist natürlich legitim. Aber, es hat in der Türkei noch nie eine nennenswerte Rechtsstaatlichkeit (Gesetzgebung-Gesetze-Verwaltung-Gerichtsbarkeit, und alles in Verbindung mit unabhängiger Presse und informierter Öffentlichkeit ) gegeben. Nur partielle Ansätze. Ohne solide ausgebaute Rechtsstaatlichkeit gibt es keine Demokratie. Wahlen sind noch lange keine Demokratie, nur der erste Schritt. Für Rechtsstaatlichkeit als auch für Demokratie, müsste die Mehrheit der staatlichen und wirtschaftlichen Eliten dies wirklich wollen, und sich dabei auf die breite Zustimmung der Bevölkerung stützen. Beider war noch nie der Fall und wird auch nicht so bald der Fall sein. Die Eliten wollen mehrheitlich einen autoritären Staat, und die Bevölkerungsmehrheit, einschliesslich vieler Anhänger in Europa, wollen einen 'grossen Führer',fast wie in Nordkorea. Demokratiepilitisch ist die Türkei vielleicht auf einem Entwicklungsstand wie 'Deutschland' vor 200 Jahren.

Lieselotte Bauer | Di., 19. Juli 2016 - 10:14

Erdogan hat sich auch in der Vergangenheit als Vertreter des staatlichen Islams erwiesen, weit entfernt vom säkularen Staat, wie ihn dessen Gründer vertreten hat. Gefährlich dabei ist, dass er keinerlei moralischen Hemmungen kennt, seine hemmungslosen Machtansprüche zu verfolgen. Eine Kanzlerin wie Merkel ist ihm nicht gewachsen. Nur Politiker wie Putin können ihn zu einer Entschuldigung bewegen.
Weit gefährlicher ist noch, dass seine türkischen Unterstützer in Deutschland auf die Straße gehen. Ein Teil von ihnen hat die doppelte Staatsangehörigkeit und geriert sich als Interessenvertreter des türkischen Staates.
Nach meiner Meinung sollte man die doppelte Staatsangehörigkeit abschaffen. Sie birgt für die aufnehmende Gesellschaft erheblichen Konfliktstoff und einen Hinweis darauf, dass der Inhaber alle Vorteile abgreifen möchte.