Es müssen ja nicht immer Weihnachtslieder sein unterm Weihnachtsbaum / dpa

Musikempfehlungen für Weihnachten - Eine Südstaaten-Rockband, Indie-Pop und Helge Schneider

Von „Leise rieselt der Schnee“ bis Whams „Last Christmas“: Es gibt Lieder, die lassen sich zur Weihnachtszeit kaum umgehen. Aber es gibt auch die anderen Stücke, jene, die einen zurückblicken lassen auf das zu Ende gehende Jahr – und ruhig auch an Heiligabend gespielt werden dürfen. Hier kommen die Musikempfehlungen der Redaktion für das Jahr 2022.

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Für Nostalgiker

Für einen Essay zu dem in diesem Jahr so oft und leidenschaftlich diskutierten Thema „Cultural Appropriation“ habe ich vor Wochen meine alten Jazz-Platten aus dem großen Schrank im Esszimmer holen müssen. Schließlich gibt es kaum ein Genre, in dem so innovativ und leidenschaftlich geklaut, zitiert oder angeeignet wird, wie im Jazz. Dabei fiel mir jedenfalls auch Miles Davis' Klassiker aus dem Jahr 1961 wieder in die Hände: „Someday My Prince Will Come“.

Ursprünglich einmal war das eine coole, leicht erotisierende Interpretation jener märchenhaften Liebesschnulze, die eine heute längst vergessene weiße Sängerin namens Adriana Caselotti 1937 einer angehenden Prinzessin aus Diseneys Klassiker „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ auf die Trickfilmlippen gelegt hatte. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten indes wirkt das Stück wie eine wunderbare Persiflage, ja Verkehrung unserer so absurd wie neurotischen Aufgeregtheit.

Miles‘ Trompete spielt hier nicht nur mit den Zeichen der weißen US-Mehrheitsgesellschaft und persifliert sie, obendrein hat „Mr. Cool“ auch noch viel Geld mit dieser kleinen Aneignung verdient. Niemand indes wäre je auf die Idee gekommen, Miles Davis für diese Platte einen Aneignungsversuch vorzuwerfen. Und ich übrigens, das merke ich jedes Mal, wenn ich diese einmalige Aufnahme aus dem New Yorker Columbia Studio mal wieder auf den Plattenteller drehen lasse, ich schon gar nicht. That’s what Jazz is all about! 
Ralf Hanselle
 

Für unterbewusste Gefühle

Das Bewusstsein ist bekanntlich nur die Spitze, unter der Wasseroberfläche bildet das Unterbewusstsein den überwältigen Großteil des Eisbergs. Es gibt Popmusik, mit der man nach unten sinken kann, während man an der Oberfläche ist. Die Dream-Pop-Band „Beach House“ hat in den vergangenen rund 15 Jahren mit Orgel, Synthesizer, Slide-Gitarre und viel Hall auf der rauchigen Stimme von Sängerin Victoria Legrand ätherische Songs geschrieben, die unterbewusste Gefühle, Sehnsüchte, Ängste, Spannungen adressieren.

Legrand ist die Nichte des französischen Komponisten Michel und der Jazz-Sängerin Christiane Legrand. Dieses Jahr hat sie mit ihrer Band ihr achtes Album veröffentlicht: „Once Twice Melody“. Nach dem zweiten Durchgang habe ich es, enttäuscht vom zähen Sound, beiseitegelegt und bin zurückgekehrt zu ihren längst zu Indie-Klassikern gewordenen Alben „Teen Dream“ und „Bloom“, mit denen man noch unter den Eisberg sinken konnte. Hier finden Sie das großartige „Myth“ vom 2012 erschienenen Album „Bloom“. 
Ulrich Thiele


Für Rocker

Schon vor zwei Jahren wäre es für mich das Konzertereignis überhaupt gewesen: Die Südstaaten-Rockband „The Black Crowes“ hatte sich nach langer Zeit wieder zusammengerauft und ging auf Welttournee, um das 30-jährige Jubiläum ihres sensationellen Albums „Shake your Money Maker“ auf der Bühne zu begehen. Doch Corona machte den Robinson-Brüdern einen Strich durch die Rechnung.

Diesen Oktober war der Nachholtermin, und ich konnte die Crowes im Berliner Tempodrom endlich live erleben. Was natürlich großartig war. Übrigens ist auch die 1990er Plattenaufnahme „Shake your Money Maker“ extrem gut gealtert und längst ein Klassiker, den man sich immer wieder anhören kann – und muss! 
Alexander Marguier
 

Für Freiheitsliebende

Der US-Amerikanische Sänger Pharrell Williams hat 2015 mit „Freedom“ eine Hymne auf die Freiheit veröffentlicht. Zugegeben, um einen Geheimtipp handelt es sich bei diesem Titel mit seinen 123 Millionen Klicks auf YouTube nicht, aber der ein oder andere dürfte dieses Lied trotzdem verpasst oder nicht mehr auf dem Schirm haben. Was dieses Stück so besonders macht, ist neben seiner wichtigen Aussage und der bewegenden musikalischen Inszenierung, das bildgewaltige Musikvideo.

Zu sehen sind unser Planet aus der Weltraumvogelperspektive, Tier und Natur, Metropolen und Menschen. Ganz viele Menschen. Irgendwie sind wir doch alle im selben Team, eine Gemeinschaft. Herrschende Missstände werden kritisiert, aber auch davor gewarnt, die teilweise hart erkämpften Errungenschaften der individuellen Freiheit nicht leichtfertig wegzuwerfen. Denn allem Leben ist der naturgegebene Wunsch nach Freiheit gemeinsam – „It's in every living thing“. Der Song verrät außerdem, wie dieses geliebte Gut erreicht und beschützt werden kann: „Mind, use your power / Spirit, use your wings“ (durch Geist und Verstand). 
Robert Horvath


Für Aussteiger

Nach fast zwei Tagen bei bis zu 34 Grad mit dem Rad, zu dem Zeitpunkt bereits 3200 Höhenmeter in den Beinen, war ich Ende August gut zehn Kilometer vor La Spezzia, Italien, auf einer viel befahren Straße unterwegs. Meine Single-Tour von Genua bis Pisa war grandios bisher, aber auch eine ordentliche Strapaze. Wenn der Körper schwach ist, muss der Geist beflügelt werden, dachte ich. Und kam das erste Mal in den vergangenen 48 Stunden auf die Idee, dass Musik helfen könnte. 

Ich steckte meine Kopfhörer ins Ohr, rief Spotify auf meinem Smartphone auf – und ein Lied, das für mich zum Soundtrack meiner Radtouren geworden ist. Es heißt „Hypnotized“ und stammt von der Band „Purple Disco Machine, Sophie and the Giants“. Die ersten Zeilen lauten: „Feel buried alive / This city is uptight / Suffocated and lonely in the crowd / I'm surrounded by / All the screens of their life / Screaming in to space to draw them out.“

Nach meiner Interpretation ist „Hypnotized“ ein Appell ans Ausbrechen, daran, den Alltag hinter sich zu lassen, weil zu viel Monotonie auf Dauer dumm und ungehalten macht. Der Song ist daher universell anwendbar. Ob auf der Abfahrt nach La Spezzia. Oder einfach für ein bisschen motivierende Musik im Ohr. Wer sich lebendig begraben fühlt („buried alive“) sollte sich freischaufeln. „Purple Disco Machine, Sophie and the Giants“ helfen dabei. Übrigens auch mit anderen Songs. 
Ben Krischke
 

Für Zeitgeistreisende

Bereits mit dem Debütalbum „Blinder Fleck" zeigte Kowsky wie unbeschwert und selbstverständlich sich musikalische Genres miteinander vermischen lassen. Dabei schwingen die deutschsprachigen Texte elegant im Einklang mit der Musik, deren musikalische Eltern unüberhörbar mit den Beatles verwandt sind. 

Sein neues Album „Krokus Pokus" hat er mit Band und Chor unter einem alten Kirschbaum in einem magischen Garten in Erfurt aufgenommen. Kowsky ist Zeitgeistreisender. Nach dem coronainfizierten „Standby“, warf er kurz vor der Bundestagswahl die Single „Herz aus Stroh“ in den Ring. Eine surreal wehende Brise durchzieht die Geschichten seiner Lieder. Kowsky zieht mit „Krokus Pokus" ein optimistisches Kaninchen aus dem Winter-Blues-Zylinder, das fröhlich dem Mainstreamtrott  entgegen hoppelt. 
Dominik Herrmann


Für Unerschütterliche

Spotify sagt mir, ich hätte in diesem Jahr nicht genug bekommen von Helge Schneiders „Heute hab ich gute Laune.“ Wie kann das sein, denke ich mir, in diesem Kriegsjahr, angesichts all der Schrecken, die ich mit eigenen Augen als Kriegsreporter gesehen habe? Dann erinnere ich mich an meine letzte Reise in die Ukraine Ende September.

30 Kilometer von der Front feierten Menschen Hochzeiten, genossen in Parks und Restaurants das Leben, obwohl morgens zwischen fünf und sechs Uhr regelmäßig russische Raketen irgendwo in der Stadt einschlugen. „Carpe diem“ sagten mir die Ukrainer, weil du nicht weißt, was morgen ist. Einige Tage später begannen die russischen Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur, die Zeit der Restaurants und Hochzeiten war vorbei. Nutze den Tag, davon singt auch Helge. 
Moritz Gathmann
 

Für Melancholiker

Ursprünglich wollte ich das Lied „Waisting my young years“ der englischen Gruppe London Grammar empfehlen. Ein bezaubernder Song, melancholisch und zart, der mit warmen Streicherklängen einsetzt. Und dann erklingt die mitreißend charismatische Stimme von Sängerin Hannah Reid, erst dunkel und voll, dann glasklar in die Höhe steigend. Doch wahrscheinlich wäre diese Empfehlung eine allzu wehmütige Rückschau auf jüngere Jahre, als die Zeit noch so endlos schien, dass man sie lustvoll verschwenden konnte.

Und dann, ja dann kam auch noch Kim de l‘ Horizon. Der nonbinäre Schriftsteller hob auf der Verleihung des Deutschen Buchpreises, den er für seinen Roman „Blutbuch“ erhielt, überraschend an zu „Nightcall“, einem  Song von London Grammar aus dem Jahr 2013. Und zeigte damit, wie vieldeutig diese Piano-Ballade ist, tröstlich und tottraurig zugleich.

„Nightcall“ ist eine Cover-Version des gleichnamigen Songs des französischen House-Musikers Kavinsky, Soundtrack des Films „Drive“. Aber London Grammar finden ihre ganz eigene Deutung. Sie nehmen den kühlen, rauen Elektrobeats von Kavinsky ihre Schärfe und geben dem Song dafür eine alptraumhafte Düsternis und tiefe Melancholie. Er erzählt von einer Person, die etwas in sich trägt, was sich jeder Beschreibung entzieht. „There's something inside you / It's hard to explain /There's something inside you, boy / And you're still the same“. Und wenn die Musik ganz hinter Reids überwältigende Stimme zurücktritt, entsteht ein Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit. Und Schönheit. 
Ulrike Moser

Noch mehr Musiktipps gewünscht? Hier geht es zum Artikel aus dem vergangenen Jahr. 


 

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Sabine Lehmann | Di., 13. Dezember 2022 - 19:33

Mit solchen, die Welt bewegenden Fragen muss man rechnen, wenn man sich auf Helge Schneider einlässt. Ich muss sagen, anfangs habe ich mich mit diesem grotesken Nonsens etwas schwer getan. Inzwischen gibt es viele Auftritte von ihm, die ich einfach zum beömmeln finde. Und auch wenn er oft so albern ist, er ist ein toller Musiker......In diesem Sinne, Doc Snyder hält die in Atem;-)

Gabriele Bondzio | Mi., 14. Dezember 2022 - 09:14

Unzweifelhaft ein bildgewaltiges Video und eine der wichtigsten Aussagen im Text.

Heute noch viel zutreffender als vor sieben Jahren.

"Der Deutsche hat Freiheit der Gesinnung, und daher merkt er nicht, wenn es ihm an Geschmacks- und Geistesfreiheit fehlt."
-Johann Wolfgang von Goethe

Bernd Windisch | Do., 15. Dezember 2022 - 19:49

Pharrell Williams 2015 „Freedom“

Vielen Dank für dieses tolle Video. Wie klug die Menschen doch sind (sein könnten)!!!!