Sektgläser
Zum Jubiläum zwei Gläser „Crémant blanc brut“ / dpa

100. Genusskolumne - Trotz Corona und Kriegsgefahr: Es lebe der Genuss!

Heute veröffentlicht unser Genusskolumnist die 100. Ausgabe dieser Reihe, die im März 2020 im ersten Corona-Lockdown als praktische Lebenshilfe für die häusliche Krisenküche begann. Doch längst hat die Kolumne den Krisenmodus verlassen und wurde zum Streifzug durch die Höhen und Tiefen der Genusskultur.

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Ab Anfang 2020 überschlugen sich nicht nur in Deutschland die Ereignisse. Am 27. Januar gab es den ersten bestätigten Corona-Fall in Deutschland. Bald wurde deutlich, dass das „neuartige Virus“, wie es zunächst genannt wurde, zu einem ernsthaften Problem werden könnte. Die Infektionszahlen stiegen sprunghaft an, die Infektionsketten waren nicht mehr lückenlos nachvollziehbar. Am 26. Februar sprach Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erstmals von einer „Corona-Epidemie“, Anfang März gab es die ersten Todesfälle in Deutschland. Wenig später wurde erstmals die Notbremse gezogen. Der erste Lockdown begann am 22.März und umfasste neben rigiden Kontaktbeschränkungen auch die Schließung aller Gaststätten und Geschäfte, außer denen der Grundversorgung. Es kam zu regelrechten Hamsterkäufen und temporären Engpässen, vor allem bei Klopapier. Aber auch haltbare Lebensmittel aller Art wurden in beträchtlichen Mengen gehortet. Wer es gewohnt war, viele Mahlzeiten außer Haus einzunehmen, musste sich schließlich was einfallen lassen

Von den Hamstervorräten zum Kreuzzug gegen „Food-Hipster“

Das alles brachte einen Cicero-Redakteur auf die Idee, den geschockten Lesern mit einer gleichermaßen praktischen wie unterhaltsamen Artikelserie über Rezepte für die Corona-Krise zur Seite zu stehen – eine Aufgabe, die ich sehr gerne übernahm. Am 27. März erschien der erste Artikel der Reihe „Coronakrisenküche“, der sich mit der genussvollen Verwendung von Fischkonserven beschäftigte. Und so ging es weiter, jeden Sonnabend.

Irgendwann war der erste Lockdown vorbei, es sollte nicht der letzte bleiben. Und irgendwann wollte auch jeder wenigstens ein Stück weit raus aus dem permanenten Krisenmodus. Von dem emanzipierte sich allmählich auch die Kolumne, die seit dem 6. Juni 2020 mit dem Titel „Genuss ist Notwehr“ erscheint. Manchmal fröhlich, manchmal auch bitterböse, mit angedrohten Maßnahmen der Geschmackspolizei und immer neuen Fatwas gegen allzu arge gustatorische Verirrungen. Aber meistens sehr bodenständig, in bewusster Abgrenzung zu dem Distinktionsgetue von Food-Hipstern á la „persisches Blausalz“ für 50 Euro oder sündteuren „Jahrgangssardinen“ aus der Dose. Aber und zu auch ein bisschen „exotisch“, oder auch etwas „edler“ mit Austern oder ein paar abgefahrene Ideen jenseits des Koch-Mainstreams. Doch besonders große Resonanz fanden stets Artikel zu Themen wie Kartoffelsalat oder Spaghetti aglio e olio. Und seit September 2020 steuert auch der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl regelmäßig seine Expertise und die eine oder andere bissige Bemerkung zu der Kolumne bei.  

Genuss ist Notwehr – immer und überall

Passt sowas denn in unsere Zeit? In ein politisches Magazin? Ja, ja und nochmals ja. Ohne Lust am und Fähigkeit zum Genuss lassen sich die vielen kleinen und großen Bekümmernisse und Sorgen, die kleinen und großen Streits über die herrschende Politik und den Zustand unserer Gesellschaft und der Welt noch schwerer ertragen und verarbeiten. Und das betrifft noch viel mehr, als „nur“ Essen und Trinken. Was natürlich nicht heißt, dass ich mich – auch bei Cicero – nicht gerne auch zu „hochpolitischen“ Fragen äußere. Aber es bleibt dabei: Genuss ist Notwehr!

Zweifellos seien gerade schwere Zeiten für unbeschwerten Genuss, räumt Kofahl ein. „Ob Kriegsgefahr, steigende Lebenshaltungskosten oder Political-Correctness-Wahn, alles scheint dafür zu sprechen, dass Selbstdisziplin, Selbstoptimierung und Entbehrungstraining gerade eher dem Zeitgeist entsprechen als entspannter, reflexiver oder gar ekstatischer Genuss.“ Doch auch in harten Zeiten sei Genuss Notwehr „gegen die Zumutungen, die das Weltgeschehen, autokratische Eliten oder autoritäre Hobbyinquisitoren des Alltags einem entgegenbringen. Auch in harten Zeiten ist es wichtig, Genuss zu verteidigen, zu suchen, zu pflegen und zu zelebrieren, um das gute Leben selbst am Leben zu erhalten“, so Kofahl.

Zur Feier des Tages ein Glas Sekt

Warum ich das heute hier schreibe? Ganz einfach: Heute erscheint diese Kolumne zum 100. Mal. Und es wird immer weiter geschnippelt, gerührt, gebraten, gekocht und probiert, denn hier wandert kein Rezept in die Tasten, das ich nicht selber ausprobiert habe. Und darauf gönne ich mir heute 1–2 Gläser von meinem Lieblingssekt, dem „Crémant blanc brut“ von Stephan Steinmetz, ein reinsortiger Elbling-Sekt mit feiner, dezenter Frucht und knackiger, belebender Säure. Getreu meinem anti-elitären Motto: „Es muss nicht immer Champagner sein“. Aber solche und ähnliche Fragen behandele ich dann wieder in den nächsten Kolumnen.

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Robert Hans Stein | Sa., 26. Februar 2022 - 09:25

zuerst und vor allem dafür, dass er unsere Blicke darauf lenkt, dass es noch anderes gibt als das tägliche Hauen und Stechen.
Zunächst für die Tipps, die sich seinen Beiträgen entnehmen lassen, auch wenn man seinen Geschmack nicht in jedem Falle teilen mag.
Insbesondere aber für die Art und Weise, wie das Ganze aufbereitet und an den Konsumenten gebracht wird - ich lese die Kolumnen sehr gern.

Achim Koester | Sa., 26. Februar 2022 - 10:15

für Ihre Kolumne und Gratulation zur hundertsten. In Zeiten, in denen die Medien fast nur noch Katastrophenmeldungen veröffentlichen, sind gute Rezepte und gutes Essen vielleicht der einzige Ausweg aus der medialen Depression, die unser Land ereilt hat. Der Begriff der Notwehr trifft den Nagel auf den Kopf, gegen Ernährungsfundamentalisten wie Veganer, Vegetarier und unzählige Ernährungsberaterinnen, die uns diese harmlose Freude auch noch vergällen wollen. Bitte weiter so!

Jens Böhme | Sa., 26. Februar 2022 - 10:45

Seit Weltuntergängen, Virenentdeckung und Krieg-woanders muss jeglicher Genuss, jegliche Freude und Frohsinn auf Eis gelegt werden. Weg mit den Kindergeburtstagen solange irgendwo ein anderers Kind hungern muss! Unterdrückt die Gefühle, die andere verletzen könnten! Der planmäßige Untergang der einstmals gerühmten und zu verteidigenden Zivilisation schreitet unaufhaltsam voran. Es regiert die Gleichschaltung von Gefühlen, Meinungen und Weltanschauungen. Karneval, Fasching? Das war einmal. Moralinsaure Solidarität wohin man blickt. Als Ex-DDRler bin ich an längst überwunden geglaubte Zeiten zurückversetzt, als diese ein Westberliner Oberbürgermeister den Ossis und Wessis mit "Berlin, nun freue Dich!" beendete.

gabriele bondzio | So., 27. Februar 2022 - 08:16

Da ichzu den Leuten gehöre, die täglich selbst kochen. Hat mir ihre Kolumne ab und an Anregungen geliefert.

Herzlichen Dank und weiter so.

„Alles, was ich wirklich brauche, ist ein Lied in meinem Herzen, Essen in meinem Bauch und Liebe in meiner Familie.“ (Unbekannt)

Es ist so wunderschön, dass ihr im Cicero so vielseitig aufgestellt seid.

DANKE HERR BALCEROWIAK.

Mein Spruch in der Küche:
Man soll dem Leib etwas gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.

Und mein Gro0vater wie Vater pflegten zu sagen:
Genieße das Leben ständig, denn du bist länger Tod als lebendig

Ich wünschen allen eine wunderschöne Woche voller genüsslichkeiten.

Gott schenkte uns seine Schöpfung & unseren Genuss dazu:

"Denn ein jeglicher Mensch, der ißt & trinkt & hat guten Mut in all seiner Arbeit,
das ist eine Gabe Gottes.
Pred. 3:13/LUT