- „Corona hat die Schwachstellen im Gesundheitssystem offengelegt"
Ein Berliner Hausarzt hat in den letzten Jahrzehnten erleben müssen, wie die Gerätemedizin und die Pharmalobby das Arzt-Patienten-Verhältnis verändert haben. Auch die Behandlung von Covid-19 habe darunter gelitten. Ein Gespräch über den Unterschied von Körper und Mensch sowie über die fehlende Moral in der Medizin.
Mit seinem Buch „Medizin ohne Moral" geht der Berliner Internist Erich Freisleben hart mit der aktuellen Gesundheitspolitik und mit dem Menschenbild der modernen Medizin ins Gericht. Der Mensch sei mehr als sein Körper, lautet eine zentrale These aus Freislebens Buch, das den Einfluss von Pharma- und Digitalisierungslobby in der Medizin zurückdrängen möchte.
Herr Dr. Freisleben, Sie sind seit 35 Jahren als Internist und Hausarzt in Berlin-Wedding tätig. Welche Veränderungen haben Sie im Laufe der Zeit in Ihrem Praxisalltag beobachtet?
Der Arbeitsdruck hat enorm zugenommen. Früher konnten Hausärzte viel mehr Zeit für ihre Patienten aufbringen. Doch um eine Praxis wirtschaftlich zu halten, muss man heutzutage die zwei- bis dreifache Menge an Patienten in gleicher Zeit behandeln. Diese Leistungsverdichtung in der ambulanten Medizin finden wir aber auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens wieder, etwa im Krankenhaus oder in der Pflege.
Woran liegt das?
Das Verständnis von Medizin bestand immer aus zwei Teilen: zum einen aus der persönlichen Arbeit und den damit einhergehenden Erfahrungen der Ärzte, Therapeuten und Pfleger und zum anderen aus Technologie und Pharmazie. Die Gewichtung dieser beiden Kräfte hielt sich immer die Waage, auch finanziell. Doch vor etwa 25 Jahren haben sich in der Gesundheitspolitik die Prioritäten verschoben und das System wurde neu justiert.
Inwiefern?
Die Politik hat dem technologischen Fortschritt die absolute Priorität eingeräumt. Das hat sich für uns Ärzte beispielsweise ganz stark in der Bezahlung bemerkbar gemacht. Alles, was zur persönlichen Zuwendung des Patienten gehört wie etwa das Patientengespräch oder Hausbesuche, spielt finanziell keine Rolle mehr. Die Gewinner dieser Veränderung waren vor allem die hochspezialisierten Ärzte. All jene, die die Basisarbeit machen, auch Fachärzte wie Augenärzte oder Dermatologen, fanden sich ähnlich wie die Hausärzte in der Situation, dass sie mit dem täglichen Geschäft gar nicht mehr lebensfähig waren. Sie mussten Ausweichstrategien entwickeln, gerade in Richtung Technik, um wirtschaftlich überleben zu können.
In Ihrem Buch prangern Sie an, die Medizin habe keine Moral und befände sich in einer Krise. Was meinen Sie damit genau?
Es soll aufzeigen, wo der Weg in der Medizin hingeht. Ich sage nicht, dass die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, keine Moral in sich hätten, doch systembedingt schlagen wir diese Richtung ein. Der Spielraum wird immer kleiner, als moralisch gefestigter Arzt seine eigenen Entscheidungen zum Wohle des Patienten treffen zu können.
Zum Arztbild gehört landläufig die Vorstellung des hippokratischen Eids.
Im Bewusstsein der Bevölkerung spielt der hippokratische Eid immer noch eine Rolle, auch wenn der Arzt diesen Eid nicht tatsächlich ablegt. Dennoch stellt er eine Art von ethischer Instanz dar, die seit 2.000 Jahren Bestand hat. Das Hauptelement des hippokratischen Verständnisses ist, dass der Arzt als Persönlichkeit uneigennützig seine Patienten behandelt, ein Schweigegelübde abgelegt hat und sich stets selbst schult, um den hohen Ansprüchen seines Berufs gerecht zu werden. Das ist das Besondere am Arztberuf im Gegensatz zum Händler oder Kaufmann.
Gelten diese Ansprüche heute denn nicht mehr?
Diese Vorstellung ist mittlerweile stark verwässert. Die Zauberformel der scheinbar richtigen Medizin lautet Evidenz. Die evidenzbasierte Medizin hatte vor 20 Jahren den Sinn, das Wissen aus der Erfahrung, aus der Theorie und den Wünschen des Patienten in Einklang zu bringen. Dieser Gedanke ist völlig verloren gegangen. Wir haben heute einen akademischen Prozess, der eine bestimmte Evidenz vorgibt. Und diese wird durch die praktische Erfahrung im Umgang mit dem Patienten kaum noch hinterfragt.
Worauf zielt die neue Medizin denn ab?
Vor allem auf die Hightechmedizin. Ein Konglomerat aus Pharma- und Technologiefirmen, die vornehmlich von finanziellen Interessen geleitet werden, gestalten gemeinsam mit der Politik diese Neuausrichtung. Der Arzt wird letztendlich zurückgestuft zum Erfüllungsgehilfen dieser vermeintlich als richtig etikettierten Medizin. Der Arzt kann nicht mehr sagen, er findet selbst im Prozess mit dem Patienten die beste Lösung, sondern er muss immer darauf schielen, was die Leitlinien ihm vorgeben. Das ist ein Verlust einer 2.000 Jahre alten moralischen Qualität, scheinbar aus einer wissenschaftlichen Notwendigkeit heraus.
Welche Moralvorstellung haben Sie denn?
Mein Verständnis vom Arztbild ist, dass wir losgelöst von der eigenen Weltanschauung oder den eigenen Präferenzen uns dazu verpflichten, dem Menschen zu helfen. Auch sollte der Verdienst nur dazu dienen, dass wir angemessenen entlohnt werden, um unsere Tätigkeit adäquat ausüben zu können. Der Patient hat die Möglichkeit der freien Arztwahl. Und wenn er sich für mich entscheidet, muss er sich darauf verlassen können, dass ich mich moralisch integer verhalte und nicht im Hinterkopf habe, eine Behandlungsmethode zu empfehlen, woran ich extra viel verdiene. Zu dieser patientennahen Arbeit gehört auch eine positive Empathie für die Menschen selbst.
Sie kritisieren, dass von der Schulmedizin abweichende Behandlungsmethoden wie etwa die des Heilpraktikerwesens oder der Naturheilkunde an den Rand gedrängt werden. Wieso?
Das ist im Grunde genommen unverständlich. Wenn ich das Gefühl habe, ich möchte nicht so starke Medikamente einnehmen und die Nebenwirkungen nicht riskieren, gibt es ein reichhaltiges Spektrum an natürlichen Behandlungsmethoden, die teilweise über Jahrhunderte gewachsen sind.
Welchen Stellenwert nimmt Corona in Ihrer Sprechstunde derzeit ein?
Im zweiten Quartal sind viele Patienten weggeblieben – aus verständlichen Gründen. Vor allem ältere Menschen haben sich gar nicht mehr in die Praxis getraut. Doch mittlerweile hat sich der Betrieb fast schon wieder normalisiert.
Und wie verhielt es sich in der Hochphase der ersten Welle?
Als ich beispielsweise einen Corona-Fall dem Gesundheitsamt gemeldet hatte, brauchte der Sachbearbeiter ganze vier Tage, bis er mir Antwort gab. Nicht etwa, weil er faul war, sondern weil sie dort gearbeitet haben bis weit über die Belastungsgrenzen hinaus. Das liegt daran, dass die Gesundheitsämter seit Jahren kaputt gespart werden, genauso wie in der Pflege oder bei dem Personal in den Krankenhäusern. Corona hat wie ein Kontrastmittel dafür gesorgt, die Schwachstellen im Gesundheitswesen offen zu legen. Wir hätten einen viel sanfteren Umgang mit der Krise gefunden, wenn wir diese Ressourcen noch gehabt hätten. Dann hätten wir diesen harten Lockdown und den damit verbundenen wirtschaftlichen Einbruch in der Form nicht haben müssen.
Birgt die Corona-Krise also auch eine Chance?
Ja, ich nehme viele nachdenkliche Reflexionen wahr. Auch Gedanken der Nachhaltigkeit und der großen Zusammenhänge erlangen wieder ein größeres Gewicht. Ich erlebe das als positiv und würde mir wünschen, wenn wir sagen, wir erkennen die Probleme und arbeiten daran, wieder eine vernünftige Balance zu finden. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch, dass verkündet wird, nur die Technologie und die Impfung werden uns helfen. Für extrem gefährlich halte ich eine gesellschaftliche Polarisierung. Genauso wenig wie die einen vorschnell eine Entdemokratisierung beklagen sollten, dürfen die anderen die Bedenkentragenden nicht in eine Schublade von Verschwörungstheoretikern und Esoterikern stecken. Denn so können dringend notwendige Debatten nicht mehr geführt werden.
Was raten Sie Patienten, die Zweifel an den Corona-Maßnahmen haben?
Ich finde, jeder sollte sich schützen. Der Mund-Nase-Schutz ist genauso gerechtfertigt wie die Abstandsregeln in der Öffentlichkeit und das Händewaschen. Auch Massenveranstaltungen, die nicht mehr zu kontrollieren sind, sollte man im Moment sein lassen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass sich Viren mit der Zeit verändern. Auch dadurch, dass wir unterschwellige Virusmengen aufnehmen und auf diese Weise bei einem möglichen nächsten stärkeren Kontakt den Verlauf abmildern können. Wer nicht unter Vorerkrankungen leidet, kann ruhig auch auf sein Immunsystem vertrauen, das uns bei vielen schweren Krankheiten hilft. Sicherlich sollte man nicht das Risiko von Spätfolgen unterschätzen, doch diese treten viel seltener auf, als ich es in der öffentlichen Wahrnehmung erlebe. Wenn ich zu viel Angst schüre, schwäche ich damit diesen wichtigen Faktor des Menschen, den er eigentlich dringlich braucht. Es wäre begrüßenswert, wenn wir ein bisschen mehr diesen Teil erzählen würden und nicht nur die Horrorgeschichten.
Wie beurteilen Sie die Gesundheitspolitik von Jens Spahn?
Es ist im Prinzip die Fortführung dieser altbekannten „Reformlogik“. Patienten bekommen keine Termine mehr, es tritt ein Terminversorgungsgesetz in Kraft. Das ist Symbolpolitik. Damit weiten sie nicht die Sprechstunden aus. Eine Verbesserung erreicht man nur, wenn man mehr Ärzte ausbildet, vor allem wenn man lukrative Anreize für den Hausarztberuf schafft. Nicht nur auf dem Land, selbst in einer Großstadt wie Berlin wird es sehr schwierig, einen Nachfolger für eine gutgehende Hausarztpraxis zu finden. Stattdessen treibt Spahn die Digitalisierung stark voran. Sollen wir in Zukunft von ärztlichen Callcentern statt in der Sprechstunde behandelt werden? Wer kann versichern, dass die digital gespeicherten Gesundheitsdaten tatsächlich vor Hackern oder Missbrauch geschützt sind? Das ist in unserer Welt völlig unmöglich und ein nicht tragbares Risiko.
2004 warnte Bundespräsident Johannes Rau vor einer Ökonomisierung der Gesundheit. „Gesundheit ist ein hohes Gut und keine Ware. Ärzte sind keine Anbieter, und Patienten sind keine Kunden.“ Rückblickend betrachtet, sind Raus Befürchtungen eingetreten?
Wir erleben im Moment noch etwas von der hohen Motivation derjenigen, die noch nicht ganz in diesem Prozess großgeworden sind. Doch das Maß an ethischem Potenzial und Empathie, was von den Helfenden ausgeht, nimmt aufgrund der sogenannten Reformzwänge enorm ab, und das merken die Patienten jetzt schon.
Die Fragen stellte Björn Eenboom.
Erich Freisleben: Medizin ohne Moral. Diagnose und Therapie einer Krise. Verlag: Freya. 432 Seiten 19,90 Euro.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
Dr.Frei(e)sleben erlebt wie andere Arbeiter*innen im Dienst der Gesundheit, dass sich Berufsbild und persönliche Auffassung desselben eben wie in allen Branchen stark wandelten. Wie er ganz richtig anmerkt ist es eben der Unterschied zwischen effektivem und effizientem arbeiten, der die individuelle Behandlung der Patienten und die Vorstellung des Behandelnden immer weiter einengt. Einmal hastig gemessener hoher RR, keine Zeit zu hinterfragen ob Patient nur aufgeregt ist oder gerade die Treppe unter Termindruck nahm,da gibt es was von ratiop... für die gesetzlich Versicherten;), der Private bekommt Höherpreisiges und 2 Sprechminuten mehr. Der Nächste bitte! "Wie, was ist mit den Nebenwirkungen? Im allgemeinen gut verträglich, wenn nicht gibt es dafür auch was."
Ist natürlich übertrieben dargestellt und wir haben GsD noch einen Hausarzt vom alten Schlag mit viel Zeit,aber ich habe selbst in so ziemlich jeder medizinischen Institution Dienst getan und meine Ein(An)sichten gewonnen. MfG
Zufällig habe ich morgen einen Termin bei meinem Hausarzt - ich habe ihm den Artikel gesendet, wir werden darüber parlieren.
Ich habe immer den "Toresschluss-Termin" = open end!
Einige Anmerkungen.
Zunächst das wohl Wichtigste.
"Auch sollte der Verdienst nur dazu dienen, dass wir angemessenen entlohnt werden, um unsere Tätigkeit adäquat ausüben zu können."
Nun ja Herr Friesleben, bekanntlich sind Ärzte und Rechtsanwälte quasi die Inkarnation eines Altruisten - jedoch, der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Eine langjährige hoch qualifizierte Ausbildung sollte wahrhaftig "angemessen" bezahlt werden - und die Mitarbeiter bitte nicht zum Mindestlohn!
Seit 2017 bin ich "KH-Experte", oft stationärer Aufenthalt.
Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht, mit ALLEN Mitarbeitern.
Trotz Stress (fast) immer freundlich.
Anregung:
Man sollte allen Patienten eine Rechnung schicken, zur Transparenz und Kontrolle.
Ich bin Kassenpatient und fühlte mich nicht diskriminiert, im Gegenteil.
Morgen mehr
für diesen mutigen Text ( muss man heute wohl leider sagen, es braucht Mut) .
aber zuallererst einfach die Wahrheit, werte Frau Miller.
Habe vor gut 15 Jahren ein aufschlussreiches Gespräch mit meinem Hausarzt.
Der Beklagte damals genau diese Dinge. Er lies auch kein gutes Haar an Montgomery (Radiologe). Der würde nur für die Fachärzte kämpfen und die Hausärzte fielen durchs Raster. Cui bono. Kam mir damals und heute bekannt vor. (Siehe Gewerkschaften für den Arbeiter und Angestellten. Wäre aber anderes Thema.) Die Budgetierung tut ein Übriges. Öffnungszeiten wurden reduziert und „ich mal mal öfter Urlaub“. Da ich quasi Altkunde bin, fühle ich mich bestens bei ihm aufgehoben. Neue Patienten werden abgelehnt.
Die Zukunft sieht düster aus in Deutschland. Egal welche Branche. Aber wir, nein, linksgrün (cducsu ist includiert) rettet die Welt.
Menschlichkeit, persönliche Nähe, Zeit für ein Hintergrundgespräch zur Anamnese, das alles ist nicht mehr gewollt. Schneller, effektiver, kostenorientierter Hausarzt ist gefragt. Noch.
In 20 Jahren rufen wir einen Medizincomputer an, schildern unsere Symptome und erhalten via MediDoc unsere Medikamente. Abgerechnet wird im voraus via Karte im Onlineverfahren.
Der Mensch spielt zunehmend keine Rolle mehr. Er soll schnell und effizient wieder arbeiten können oder falls zu kostenträchtig, schnell erkannt und ausgesondert werden.
Ich weiß, das hört sich übel an. Das wird aber so kommen. Die Jugend macht heute alles mittels App, Krankmeldung via Skype. Persönlicher Kontakt ist durch Corona eingeübt ohnehin nicht mehr zwingend nötig und gewünscht. Schöne, heile digitale Welt. Und diejenigen, die noch etwas idealistisches medizinisches Denken haben, die werden auf Linie gebracht, im Zweifel einfach ausgegrenzt. Die asozialen Medien und die bevormundende Presse und der ÖR sorgen schon dafür.
"Sie kritisieren, dass von der Schulmedizin abweichende Behandlungsmethoden wie etwa die des Heilpraktikerwesens oder der Naturheilkunde an den Rand gedrängt werden".
Zu Schade, dass Ärzte ihre Behandlung an wissenschaflichen Standards ausrichten sollenm stat zu machen was ihnen in den Sinn kommt (Evaluation ihre perönlichen Behandlungsfehler findet ja nie statt). Den anti-wissenschaftlichen Kampfbegriff "Schulmedizin" fanden Antisemiten und Nazis übrigens prima, lieber Cicero. Leicht zu recherchieren. Muss man nicht forttragen.
für ihre Patienten aufbringen.“ ...das Vertrauensverhältnis Arzt - Patient ist ja auch ein Wichtiges.
Da muss ich sagen, dass ich Glück hatte mit dem Meinigen. Nicht nur dass er ein tadelloses Bestellsystem pflegt. Nie mehr als 15 min gewartet. Es ist für mich die schlimmste Strafe, in einer Praxis stundenlang unproduktiv herum zu sitzen. Er kommt auch noch ins Haus, was im Fall meiner pflegebedürftigen Mutter, ein großes Plus ist. Weil Sie stark gehbehindert ist. Aber Solche sind eben selten.
Bei Fachärzten ist schon die Terminvergabe auf Monate ausgeplant, der Grund warum man gehen muss, hat sich da fast erledigt oder man ist abgenippelt in der Zeit. Man kommt sich da auch vor, wie am Fließband. Kaum eine Verbindung zum Arzt. Meine Tante, langjährige Krankenschwester und Stationsleiterin auf der Inneren. Hat das schon vor Jahren gesagt. Die Bürokratie frisst die menschliche Zuwendung auf.