- Ein prophetisches Vermächtnis
Norbert Blüm ist mit 84 Jahren verstorben. Der ehemalige Arbeitsminister ging mit dem Satz „Die Rente ist sicher“ in die Geschichte ein. Ein persönlicher Nachruf von Hartmut Palmer auf einen streitbaren Sozialpolitiker und eine Kämpfernatur.
Alle dachten, er sei über den Berg. Als ich Norbert Blüm vor drei Tagen in seinem Garten in der Bonner Südstadt besuchte, schien das Schlimmste überstanden: Er saß im Rollstuhl und bat energisch darum, nicht in den Schatten geschoben zu werden.
Er war so unendlich froh und dankbar, dass er draußen sitzen und die Sonne wieder spüren konnte, nach mehr als einem Jahr, das er teils im Koma in verschiedenen Krankenhäusern zugebracht hatte. Eine bösartige Sepsis hatte sein Immunsystem fast vollständig lahmgelegt und die Ärzte ihn schon aufgegeben. Aber er hatte die Attacken überlebt und saß jetzt vor mir, im Rollstuhl.
Jeder Millimeter ein Tagesmarsch
Er lebte. Und er redete wie früher, nur etwas leiser, weil das Sprechen ihn immer noch anstrengte. Aber in der gewohnten rheinhessischen Tonlage, klar in der Analyse, sicher im Urteil, angriffslustig wie immer und hellwach. Und er zeigte mir die Fortschritte, die er inzwischen gemacht hatte, winzige kleine Besserungen, die er sich mühsam antrainieren musste.
Jeder Millimeter ein Tagesmarsch. Jede noch so kleine Verbesserung, ein Triumph. Als er vor ein paar Wochen aus der Reha-Klinik nach Hause kam, konnte er weder die Arme heben noch die Hände bewegen. Alles war gelähmt, von der Schulter an abwärts.
„Was bedeutet mein Unglück“
Aber jetzt konnte er inzwischen die Arme wieder so weit hochheben, dass er sich mit dem Handrücken die Nase reiben konnte, wenn es ihn dort juckte. Eine Petitesse für jeden Gesunden. Aber für ihn ein gewaltiges, ein epochales Glück.
Er selbst hat seine Befindlichkeit vor ein paar Wochen in einem Bericht zum Ausdruck gebracht, den er mühsam seiner Frau Marita Wort für Wort diktierte. Dieser Text (Überschrift: „Was bedeutet mein Unglück“) erschien am 12. März in der Zeit. Es war mehr als nur ein letztes, erschütterndes Lebenszeichen.
Die Anwendbarkeit der Krise
Er offenbart, auch und gerade angesichts der Corona-Pandemie, eine bedrängende Aktualität. O-Ton Blüm: „Wenn ich meiner Hand den Befehl gebe, sich zur Faust zu ballen, ballt sie sich, und während ich den Triumph genieße, dass die Fingerspitzen den Handballen berühren, sodass die Faust geschlossen ist, stelle ich mit Schrecken fest, dass die tatsächliche Hand sich kein Jota bewegt hat. Ich bin also der Patient zweier Welten: einer, die von der Illusion genährt wird, ‚alles ist wie früher‘ – und einer anderen, die an die harten Realitäten stößt.“
Norbert Blüm war sich, als er diese Sätze formulierte, vermutlich eher als wir alle, bewusst, dass nie mehr etwas wie früher sein wird. Der Umbruch in seinem Leben fand nur früher statt, als der jetzt durch Corona bewirkte Umbruch der Gesellschaft. Aus seiner Perspektive war die Krise keine Überraschung, sondern folgerichtig. Sie entsprach seinem eigenen Erleben.
Prophetisch und bodenständig
„Die Krankheit erlaubt keine Flucht in Ausreden. Schnörkellos führt sie uns zu dem, was wir sind. Die Krankheit zerstört unsere Allmachtsfantasien und dämpft unsere versteckten Überheblichkeiten. Alle Prestige-Vehikel, Orden und Ehrenzeichen verlieren ihre Bedeutung. So sind wir, wie wir sind, mit der Krankheit allein.“ Ein prophetisches Vermächtnis.
Norbert Blüm gehörte zu den wenigen Politikern, die einen handwerklichen Beruf von der Pieke auf erlernt hatten. Er war stolz, dass er bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim zum Werkzeugmacher ausgebildet worden war. Genauso stolz aber war er auch, dass er hinterher das Abitur nachmachen und studieren konnte.
Seit 1950 CDU-Mitglied
Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie hörte er an der Universität in Bonn – letzteres unter anderem bei Joseph Ratzinger, dem späteren Papst. An der Werkbank in Rüsselsheim war es üblich, Mitglied der IG-Metall und Sozialdemokrat zu sein. Gewerkschafter war er selbstverständlich auch, aber schon 1950 wurde er Mitglied der CDU, deren Sozialausschüsse er von 1968 bis 1975 als Hauptgeschäftsführer und von 1977 bis 1987 als Bundesvorsitzender leitete.
In den Bundestag rückte er 1972 ein, zusammen mit Wolfgang Schäuble, nach einer für die CDU/CSU katastrophal verlorenen Wahl, aus der die SPD des Kanzlers Willy Brandt erstmals in ihrer Geschichte als stärkste Bundestagsfraktion hervorgegangen war.
Ein streitbarer Sozialpolitiker
Früh schon wurde man auf den rhetorisch Begabten aufmerksam, der sich nicht scheute, einige ihm sinnlos erscheinende Diskussionen, mit dem Streit der Scholastiker darüber zu vergleichen, wie viele Engel wohl Platz auf einer Nadelspitze hätten.
So lernte man ihn bald als einen streitbaren Sozialpolitiker kennen, der sich auch schon in der Opposition dadurch profilierte, dass er führenden Sozialpolitikern der SPD kompetent widersprechen konnte. Als Helmut Kohl 1982 Kanzler wurde, berief er Blüm zum Arbeits- und Sozialminister in sein Kabinett – und Blüm war der einzige CDU-Politiker, der bis zum Ende von Kohls Amtszeit dessen Minister blieb.
„Die Rente ist sicher“
1986 ließ Blüm sich mit Pinsel und Kleister vor einer Bonner Litfaßsäule abbilden, auf der er „Die Rente ist sicher“ plakatierte. Wie richtig er lag und wie falsch alle diejenigen, die später meinten, anstelle des Generationenvertrags eine von der Börse und vom Kapital abhängige Rente propagieren zu können, hat sich spätestens in der Finanzkrise vor zwölf Jahren gezeigt – und zeigt sich gerade in diesen Tagen, wo verkündet wird, welche Zuwachsraten die Rentner im kommenden Jahr – Krise hin oder her – erwarten dürfen.
Blüms größtes Verdienst aber ist die Pflegeversicherung, die er gegen mannigfache Widerstände auch in den eigenen Reihen durchboxte. Es tat ihm gut, dass sich in den letzten Wochen viele ehemalige Weggefährten bei ihm meldeten: Horst Seehofer, der einst bei ihm Parlamentarischer Staatssekretär war, gehörte zu ihnen aber auch Franz Müntefering, der ihm schrieb, man sei zwar auf verschiedenen Gleisen unterwegs gewesen, aber doch in derselben Richtung.
Der Abschied kam zu früh
Norbert Blüm fühlte sich, das zeigte sich in unserer letzten Unterhaltung und das war wirklich neu, zum ersten Mal seit langer Zeit gut regiert. Die Berliner Koalition mache gute Arbeit. Er fand vernünftig, was beschlossen war, die Debatten in Berlin verfolgte er genau. Er hörte Radio und weil er nicht lesen konnte, da seine Hände kein Buch halten konnten, konsumierte er Hörbücher: Schopenhauer, Nietzsche, die Scholastiker zog er sich rein.
Und er freute sich über die Buddenbrooks, die ich ihm mitbrachte und über eine CD, auf der berühmte Bundestagsreden zu hören sind. Er hatte noch viel vor sich. Wir hatten uns bereits für nächste Woche verabredet. Wir dachten, er sei über den Berg. Wir haben uns getäuscht. Sein Tod kam für uns alle überraschend. Sein Vermächtnis bleibt.
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Ich mochte Blüm immer, schätzte seine streitbare, aber immer nette und im zwischenmenschlichen Bereich gelebte Verbindlichkeit und anständigen Umgang mit politischen Gegnern. Ich habe ihm das auch abgenommen, dass die Rente sicher sei. Nur, wie sie inhaltlich sicher bleibt, da habe ich immer gezweifelt. Ja, die Pflegeversicherung war ein Erfolg für ihn. Nur, keiner in dieser Zeit war bereit, das Rentensystem neu zu denken oder fort zu entwickeln, in ein einheitliches System gerecht zu überführen und neue Wege zu gehen.
Stattdessen wurden Rentenkasse zweckentfremdet zur Finanzierung anderer "Ideen" benutzt. Der Mensch Blüm hat immer ehrlich gewirkt, überzeugt und lebensnah. Ich mochte den "Nobbi" und hörte ihm auch gerne zu. Sein manchmal spitzbübischer Humor erinnert mich an Heinz Rühmann. Ein Mensch mit Biografie, der seine Chancen im Leben genutzt hat und immer bürgernah geblieben ist. Ob alles richtig war? Wer weiß das schon. Nun hat er seine letzte Reise angetreten. Mach's gut.
Und wieder verlies ein erdgebundener Politiker die weltliche Bühne. Er vertrat die Sorte von Politiker, die auch das meinten, wie sie sagten. Schade, das diese Sorte ausstirbt. Der älteren Generation wird er im Gedächtnis bleiben, egal welchen Standpunkt man hatte.