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Weißwurst, FKK und LEGIDA - Wie ein junger Syrer Deutschland erlebte

Bei der Diskussion um die Integration von Flüchtlingen in die deutsche Gesellschaft kommen diese selbst oft gar nicht zu Wort. Für Cicero berichtet der Syrer Abdalla El-Dimagh von seinen persönlichen Erfahrungen

Autoreninfo

Abdalla El-Dimagh wurde 1988 als Palästinenser in Syrien geboren. Er kam 2012 nach Deutschland, studierte Germanistik u.a. an der Universität Bremen und promoviert derzeit an der Universität Leipzig im Bereich Literatur-Medienwissenschaft. Er betrachtet sich als Humanist, der sich gegen jegliche Art von Gewalt, Krieg und Diskriminierung einsetzt.

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[[{"fid":"68170","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":115,"width":149,"style":"float: left; margin: 5px 7px;","title":"Abdalla El-Dimagh","class":"media-element file-copyright"}}]]Beim ersten Besuch einer deutschen Universität bemerkt man den Unterschied.  In Syrien studiert man als Geisteswissenschaftler europäische Philosophie, Literatur und Geschichte. Begriffe wie Renaissance, Humanismus, Aufklärung und auch die Französische Revolution  sind uns bekannt. Aber diese Werte sollen nur in den Büchern bleiben. Die Universität in Damaskus war wie ein Gefängnis. Dort kann man lernen, aber man soll nicht denken.  Das spiegelt sich auch in der Architektur wider: Eine Mauer steht rund um die Uni-Gebäude. An den Eingängen besteht Vorzeigepflicht für den Studentenausweis. Alle haben Angst. Irgendwann könnte ein Bericht eines Studenten über einen anderen bei den Sicherheitsbehörden landen. In Syrien gibt es fast 13 Sicherheitsdienstabteilungen. Sie kontrollieren alles – Märkte, Moscheen, Universitäten, Theater und Kino, dazu kommen Spitzel in den Bussen und an den Haltestellen. Das Regime entwickelte sich innerhalb der letzten 50 Jahre zum allmächtigen Gott. Deswegen lernt man schon im Elternhaus das Schweigen.

Aus diesen menschenverachtenden Umständen wollte ich ausbrechen, ein freier Mensch sein. Ich kannte ja die europäischen Werte und wollte sie erfahren und leben. „Ein Mensch kann alles schaffen, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, so sagte ich mir. Robinson Crusoe und Faust waren mir Inspiration. Fleißig und ehrgeizig habe ich gearbeitet, bis ich die Chance hatte, durch ein Stipendium von Erasmus-Mundus nach Europa zu kommen. „Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem europäischen Steuerzahler. Ich will die Freiheit genießen. Freiheit bedeutet aber auch Selbstverantwortung und Integration in die Gesellschaft“, das waren meine Gedanken, als ich im Flugzeug saß. Integration ist ein einfaches Wort, aber ein schwieriger Prozess, der Zeit, Geduld, Offenheit und Lernen erfordert. Ich habe mir ein Zimmer zur Untermiete bei einer deutschen Familie in Bremen gesucht. Eine neue Welt war das – für beide Seiten, aber inzwischen lachen wir über die ersten Missverständnisse damals.

Entdeckung einer neuen Welt
 

Was prägte mein Leben als Neuankömmling? Da ist natürlich zuerst einmal das Essen. Kartoffeln.  Das ist es, was die Deutschen immer und überall essen, so dachte ich. Mit der Zeit lernte ich viel dazu: Auch Fleisch – viel und in vielen Variationen – prägt die deutsche Küche. Ich kaufte mir ein Kochbuch und lernte deutsche Spezialitäten und Köstlichkeiten kennen und lieben. Kartoffelsalat, Rotkohl, Kasseler mit Sauerkraut, bayerische Weißwurst, schwäbische Käsespätzle (sowie auch Döner) wurden neben Falafel, Schawarma und Couscous ein Bestandteil meiner Mahlzeiten.

Das A und O für die Integration sind natürlich die Sprache und Kontakte zu den Einheimischen. Deutsch hatte ich bereits in Damaskus gelernt und mit der Zeit konnte ich viele Bekanntschaften und Freundschaften schließen und so lernte ich viele für mich fremde Riten und Gebräuche der Deutschen kennen: Ich esse Spekulatius und trinke Glühwein auf den Weihnachtsmärkten. Ostern suche ich Eier. Und ich verkleide mich an Fastnacht. Apropos Fastnacht: Das war mein erster richtiger Kulturschock in Deutschland. Auf einem hessischen Dorf mit verkleideten Menschen aller Generationen, die lauthals Stimmungsmusik grölten, stand ich mit meiner grünen Perücke knapp drei Minuten stillschweigend in der Ecke, um die Situation zu verstehen. Solche Feste haben wir bei uns nicht. Aber ich muss zugeben, es fing an, Spaß zu machen.

Erste Begegnung mit einem Juden
 

Im Sommer: Besuch am FKK-Strand. Nackt sein in Anwesenheit von Fremden, ist in den arabischen Ländern moralisch untersagt. Und trotzdem hat mich die Idee irgendwie fasziniert. Ich ging hin, gemeinsam mit einigen Bremer Freunden. Später haben sie mir verraten: Sie hatten heimlich diskutiert, wie sie Abdalla beibringen können, dass man eigentlich dort keine Badehose tragen sollte. Wir kamen an und ich habe mich sofort ausgezogen. Das war schön und einfach. Ich hatte das Gefühl, aus dem Kollektiv der arabischen Gesellschaft auszubrechen. Ich habe innerlich geschrien: „Ich bin frei, ich bin nackt unter dem Himmel, ich bin ein nacktes Individuum. Ich bin Teil der Natur und eins mit ihr“. Ein bisschen komisch war es dann doch, als ich am Strand entlanglief, um Eis zu holen. Mit viel Sympathie und Erstaunen blickten mich viele Besucher an. „Das ist der Hammer, endlich mal sehe ich einen Araber, der sich hier auch nackt zeigt. Hut ab!“, sagte ein Passant.

Meine erste Begegnung mit einem Juden war in Deutschland: Studentenjob bei einer IT-Firma in Leipzig. Am ersten Tag komme ich rein und stelle mich vor: „Ich heiße Abdalla. Ich bin Palästinenser und komme aus Syrien“. Der Kollege erwidert: „Ich bin Florian, ich bin Jude“. Mit großen Augen gucke ich ihn an und frage mich: „Warum betont er das so? Ich bin doch aufgrund meiner Abstammung nicht automatisch ein Antisemit!“ Inzwischen sind wir gute Freunde geworden, Florian, der Jude und Jurastudent, und Abdalla, der Palästinenser und Germanistikstudent, sitzen zusammen im Büro und machen gemeinsam Witze über Araber und Israelis.

Irgendwann erzählt mir Florian die Geschichte seiner Großmutter. Sie hat sich im Keller versteckt, als die Nazis im Dritten Reich durch Rostock marschierten. Ich berichte ihm von den Erlebnissen meines Vaters bei der Gründung Israels in den Vierzigerjahren. Ich sage: „Die schlechten Erfahrungen gehören zum Lebenslauf meines Vaters, nicht zu mir. Frieden erreichen wir nur, wenn wir aufhören, das Leid unserer Mütter und Väter gegeneinander aufzuwiegen.“ Nach Feierabend stoßen wir bei einem Glas Wein auf unsere ganz persönliche Friedenserklärung an.

Zwischen den Fronten
 

Bei der ersten LEGIDA-Kundgebung hatte ich Angst. Polizeiwagen, Rettungsdienste und  Hubschrauber dominierten plötzlich die Leipziger Innenstadt. Ich hatte das Gefühl, dass sich das Land in einer Art Kriegszustand befindet. Ein Krieg zwischen dem demokratischen Deutschland, das ich bereits in vielen Facetten kennen und lieben gelernt hatte, und einem fremdenfeindlichen, antidemokratischen Deutschland. Fast 10.000 Menschen versammelten sich direkt vor meiner Haustür im Leipziger Stadtzentrum. Wem gehört Leipzig, wem gehört Deutschland? Florian machte den Vorschlag: Mit weiteren Kollegen und meinem französischen Mitbewohner machten wir uns auf den Weg, um gegen die menschenverachtenden LEGIDA-Parolen auf die Straße zu gehen.  Fast 30.000 Leipziger standen da mit uns, die LEGIDA „nein“ und einem weltoffenen Deutschland „ja“ sagen wollten. Ich war von der Leipziger Zivilcourage sehr beeindruckt. Ich bekam Gänsehaut. Mit der Zeit wurde LEGIDA zu einer wöchentlichen Normalität. Jeden Montag haben wir die Abendspaziergänge, die immer weniger Anhänger finden, und jedes Mal sagen die Leipziger „nein, Danke“.

Die Katastrophe kam Anfang des Jahres. Wie jeden Morgen lese ich die deutschen Online-Zeitungen. Überall Berichte von Arabern, die Frauen in der Silvesternacht in Köln sexuell belästigt und sich extrem danebenbenommen haben. Ich war schockiert und wollte laut schreien und sagen: „Ihr Idioten, was habt ihr euch dabei gedacht?!“

Und gleichzeitig die eigene Betroffenheit: Nun werden wir alle über einen Kamm geschert. „Jetzt kann ich doch nicht mehr ausgehen, was werden die Leute denken, wenn sie mich sehen? Kann ich mir überhaupt noch ein Bier oder ein Abendessen in einem deutschen Restaurant genehmigen?“, fragte ich mich. Die Leute werden Angst vor jedem haben, der arabisch aussieht. Ich habe mich diskriminiert gefühlt und hatte Angst vor Ausgrenzung. Deswegen appelliere ich an die Deutschen: Diejenigen Flüchtlinge oder Migranten, die Gesetze verletzen, müssen hart und selbstbewusst nach deutschem Recht bestraft werden. Aber werft uns nicht alle in einen Topf! Wenn ein Migrant einen Fehler macht, dann ist das seine persönliche Schuld und nicht die Verantwortung aller Angehörigen seiner Nationalität. Wir sind genauso wenig alle gleich, wie alle Deutschen gleich sind.

Gebt den Neuankömmlingen Zeit
 

Die Integration kann gelingen. Wenn beide Seiten mitmachen. Wenn die Neuankömmlinge die Sprache lernen und die Werte der deutschen Gesellschaft annehmen; man kann das von ihnen erwarten, denn sie wurden hier von der Gemeinschaft aufgenommen. Und wenn auch die Einheimischen ihnen ohne Feindseligkeit, dafür mit viel Offenheit und auch Geduld gegenübertreten. Wir brauchen Projekte für Integration und gegenseitiges Kennenlernen, Kommunen, Länder und Bund müssen sie initiieren, fördern und die Aufgabe nicht nur der Zivilgesellschaft überlassen. Und mein Appell an die Medien: Hört auf zu pauschalisieren, geht zu den Migranten, lasst sie zu Wort kommen. Wir sind Individuen,  einzelne, unterschiedliche Menschen, und haben – genau wie ihr – unseren eigenen, ganz persönlichen Hintergrund.  An der Entstehung von Parallelgesellschaften sind immer zwei Seiten schuld.

Deutschland ist mir eine neue Heimat geworden. Das hat Zeit, Geduld und Nerven gekostet. Es war nicht immer einfach – nicht nur für mich, auch für mein Umfeld. Meine Bitte: Hört den Neuankömmlingen zu, sprecht mit ihnen, seid offen, gebt ihnen Zeit – so können wir alle gemeinsam zu einer erfolgreichen Integration und einem freundschaftlichen Miteinander beitragen.

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