Anhänger des tunesischen Präsidenten Saied skandieren am Montag während einer Demonstration vor dem Parlamentsgebäude / dpa

Unruhen in Tunesien - „Empfindlichster Moment in der tunesischen Geschichte“

Seit Monaten tobt an der politischen Spitze Tunesiens ein Machtkampf. Jetzt scheint Präsident Saied nach dem Zepter zu greifen, offenbar mit Rückendeckung des Militärs. Er beteuert, sich im geltenden Rahmen der Verfassung zu bewegen, doch Kritiker sprechen von einem Putsch.

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Tunesiens Präsident Kais Saied hat Ministerpräsident Hichem Mechichi in einem überraschenden Schritt seines Amtes enthoben und die Arbeit des Parlaments vorerst ausgesetzt. Er selbst werde die Regierungsgeschäfte gemeinsam mit einem neuen Ministerpräsidenten übernehmen, kündigte Saied am Sonntagabend nach einem Krisentreffen mit Vertretern von Militär und Sicherheitsbehörden an. Zudem werde die Immunität sämtlicher Abgeordneter aufgehoben. Die Arbeit des Parlaments soll laut Präsidialamt für 30 Tage ausgesetzt werden.

„Wir erleben einen der empfindlichsten Momente in der tunesischen Geschichte. Es sind in der Tat die gefährlichsten Minuten“, sagte Saied in einer Video-Ansprache. Dabei war er am Kopfende eines Konferenztischs zu sehen, gemeinsam mit einigen Militärs und Beamten und neben ihm die tunesische Flagge. „Wir arbeiten innerhalb des rechtlichen Rahmens“, versicherte Saied.

Größte Partei spricht von „Staatsstreich“

Die islamisch-konservative Ennahda, die größte Partei im Land, sprach von einem „Staatsstreich“. Die Tunesier würden die Erfolge ihrer „Revolution“ aber verteidigen, teilte Ennahda-Chef Rached Ghannouchi bei Facebook mit – offenbar in Bezug auf die arabischen Aufstände von 2011. Es handle sich um einen „Putsch“ gegen die Verfassung. Am Abend gab es Berichte über Angriffe auf mehrere Büros der Partei. In Tunis verhinderte die Polizei einen Angriff auf deren Parteizentrale.

Unterstützer Saieds zogen am Abend jubelnd auf die Straße. Im Zentrum von Tunis feierten Hunderte, die Leuchtfackeln und Feuerwerkskörper zündeten, Fahnen schwenkten und die Nationalhymne anstimmten. In mehreren Teilen der Hauptstadt waren laut Augenzeugen Soldaten der Armee im Einsatz, um öffentliche Einrichtungen zu schützen. Über dem Parlament in Tunis kreisten in der Nacht Militärhubschrauber.

Die Ankündigungen folgen auf regierungskritische Proteste in mehreren Teilen des Landes wegen stark steigender Corona-Fallzahlen und einer anhaltenden Wirtschaftskrise. Die Demonstranten forderten dabei den Rücktritt der Regierung und die Auflösung des Parlaments. Tunesien erlebt derzeit einen starken Anstieg der Corona-Fallzahlen. Bisher wurden 555.000 Corona-Infektionen und etwa 18.000 Todesfälle gemeldet. Die Impfungen kommen nur langsam voran.

Vertrauen in politische Elite verloren

Zwischen dem früheren Juraprofessor Saied, seit Oktober 2019 im Amt, sowie Mechichi und dem Parlament tobt seit Monaten ein Machtkampf. Saied erklärte, die von ihm angekündigten Schritte bewegten sich im rechtlichen Rahmen der Verfassung. Artikel 80 räumt ihm das Recht ein, bei drohender „schwerer Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes“ außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen.

Viele Tunesier haben das Vertrauen in die politische Elite verloren und dürften in Saieds Ankündigungen ein längst überfälliges Handeln erkennen. Kritiker fürchten dagegen eine Rückkehr zur autoritären Herrschaft wie unter Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali, der in Tunesien mehr als 20 Jahre an der Macht war und der 2011 nach Massenprotesten gestürzt wurde.

Tunesien hat seit den arabischen Aufständen als einziges Land der Region den Übergang in die Demokratie geschafft. Es kämpft aber weiterhin mit einer Wirtschaftskrise, hoher Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Korruption. dpa

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Enka Hein | Mo., 26. Juli 2021 - 16:42

...da sind die Tunesier in dieser Welt nicht alleine.
In Buntland auch mindestens seit 2015.
Dank der Unfehlbaren und ihrer politischen Eunuchen.

Rob Schuberth | Mo., 26. Juli 2021 - 19:09

Alle die noch wissen wie der sogn. "Arabische Frühling" hier seinen Anfang genommen hatte, die wissen auch, dass die Opposition u. ihre Unterstützer gescheitert sind.

Warum, woran...ist doch im Grunde egal.

Es sind die Tatsachen die zählen.
Man hat sich nicht einigen können.
Und die eher bequeme Mentalität (die ich hier ausdrücklich nicht als Vorwurf sehen, sondern nur beschreibend erwähnen möchte) die tut dann ein Übriges.

Es braucht eben für einen erfolgreichen Protest auch immer Menschen die bereit sind viel, sehr viel, auf ihre eigenen Schultern zu laden.

Auch daran ist man in Tunesien gescheitert.

Yvonne Stange | Mo., 26. Juli 2021 - 20:04

Noch mehr "Flüchtlinge", die man nicht abschieben darf!!

Ernst-Günther Konrad | Di., 27. Juli 2021 - 08:24

So, so. Korruption (wo kommt die inzwischen nicht mehr vor?) und natürlich Corona sind also der Grund für diese Maßnahme? Einige begrüßen das und haben es gefordert, andere naturgemäß sind dagegen oder haben Befürchtungen. Wie soll ein interessierter Leser dazu eine eigene Meinung generieren, wenn keinerlei Hintergründe geliefert werden?
Dieses Artikels hätte es aus meiner Sicht nicht bedurft. Das konnte ich bereits bei den Msm quer lesen. Etwas mehr Recherche und Informationen wären künftig wünschenswert. Okay. Wir haben mal darüber gesprochen.

helmut armbruster | Di., 27. Juli 2021 - 12:24

in Tunesien muss man - wie in anderen arabischen Ländern auch - als Kind privilegierter Eltern geboren werden, wenn man in diesem Leben eine reelle Chance haben will.
Hat man dieses Glück nicht, gehört man zu der Masse der vielen, die keinen Einfluss, kaum Geld und oft auch keine Arbeit haben.
Die nach dem arab. Frühling die Macht übernommen haben, haben den Unterprivilegierten jahrelang vorgegaukelt, dass sich etwas verbessern würde.
Getan hat sich nicht Wesentliches. Die Zustände sind nach wie vor wie sie waren. Für viele Jugendliche gibt es kaum Hoffnung auf eine einigermaßen erträgliche Zukunft.
Oberflächlich sieht es jetzt so aus als hätten die Privilegierten gesiegt, weil Präsident Saied jetzt diesen Schritt unternommen hat.
So lange sich aber grundsätzlich nichts ändert, also die Privilegierten eine geschlossene Gesellschaft bleiben, so lange wird kaum Ruhe in Tunesien einkehren.