- „Deutschland darf es nicht allein machen“
Kanzlerin Angela Merkel hat in der Flüchtlingskrise unilateral entschieden, kritisiert die Europaabgeordnete Sylvie Goulard im Interview. Doch nun müssten alle in Europa mitziehen, so die Französin, die für die Liberalen im Europaparlament sitzt. Die größte Gefahr für Europa gehe derzeit aber von Großbritannien aus
Europa taumelt von einer Krise in die nächste. Wird die EU in ihrer heutigen Form am Ende dieses Jahres noch bestehen?
Ich bin keine Hellseherin. Aber die EU steckt in einer sehr komplexen Situation, wir erleben eine Interaktion verschiedener Krisen. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein, auch bei der Kritik. Viele Regierungen, die die EU kritisieren, übersehen geflissentlich, dass sie selbst ein Teil Europas sind und eine Verantwortung für die Schwierigkeiten tragen.
Meinen Sie Großbritannien, das von der EU Reformen verlangt und mit dem Austritt droht?
Ich meine alle EU-Länder, auch mein eigenes, Frankreich. Aber die Drohung mit dem EU-Austritt, dem Brexit, macht mir schon große Sorgen. Die Art und Weise, wie Cameron es managt, ist chaotisch - denn er stellt es jedem Minister frei, für oder gegen den Brexit zu stimmen. Die britische Regierung wird am Ende nicht einig sein, wie können wir mit ihr verhandeln? Ich hoffe, dass Deutschland sehr deutsch sein wird, zum Beispiel in Bezug auf die Freizügigkeit.
Kanzlerin Merkel will dem britischen Premier Cameron allerdings weit entgegenkommen. Ist das nicht auch ein Problem, schließlich könnten sich andere EU-Staaten ein Beispiel nehmen und ebenfalls Forderungen stellen.
Richtig. Wenn man einmal anfängt, einem Land das Cherry-Picking zu erlauben, gibt es kein Halten mehr. Das ist gefährlich. Deshalb ist es fast unmöglich, eine gute Antwort auf das britische Problem zu geben, wir stecken in einem Dilemma.
Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in der Krise? Ist es zu dominant?
Nein, ich habe keine Angst vor einem deutschen Europa, im Gegenteil! Merkel spielt eine hervorragende Rolle, sie hat in den letzten Jahren oft Führungskraft bewiesen und ist gerade in der Flüchtlingskrise sehr wichtig. Übrigens hat sie oft auf der europäischen Bühne gezeigt, dass sie kompromissbereit ist.
Das sehen aber nicht alle EU-Länder so, die Osteuropäer werfen ihr einen Alleingang vor…
Nun ja, Merkel hat in der Flüchtlingskrise unilateral entschieden, und erst danach um EU-Hilfe gebeten. Das ist nie eine gute Idee. Wenn ein Land in einem Raum der Freizügigkeit sagt ,,ich öffne meine Grenzen“, dann hat das natürlich Konsequenzen. Doch nun sollten auch alle mitziehen. Es ist nicht im deutschen Interesse, es allein zu machen! Auch die größten Mitgliedstaaten Europas können nicht mehr allein entscheiden.
Denken Sie dabei auch an die Übergriffe in Köln? Anders gefragt: Hat Köln alles geändert, muss Deutschland seine Flüchtlingspolitik neu justieren?
Nein. Man darf die Ereignisse in Köln weder über- noch unterschätzen. Von einer Million Menschen, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind, sind nach jetzigem Stand nur 30 oder 40 an den Übergriffen beteiligt. Und die sind auch nicht alle Flüchtlinge. Um die Täter wird sich die Justiz kümmern.
Und was macht das Europaparlament? Ist Köln dort kein Thema?
Doch, natürlich, das wird auch diskutiert. Das Europaparlament kämpft schließlich schon seit langem gegen Sexismus und für den Schutz der Frauen. Aber wir sollten auch nicht so tun, als sei Köln ein Fall für die EU. Wir müssen auch die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten achten, sonst heißt es wieder, die EU mischt sich in alles ein!
Ein anderes Thema in Straßburg ist der Streit um den Rechtsstaat in Polen. EU-Kommissar Oettinger hat gefordert, Polen unter Aufsicht zu stellen. Ist das angemessen?
Was in Polen passiert, macht mir große Sorgen. Wir waren mit Ungarn viel zu nachsichtig und müssen im Fall Polen ein klares Signal geben.
Also sind Sie für Sanktionen?
Sanktionen sind immer auch ein Misserfolg. Ich hoffe, dass es ohne gehen wird. Übrigens ist ja auch mein Land, Frankreich, nicht ohne Tadel.
Woran denken Sie?
Es ist bedenklich, dass wegen des Terrors in Paris nun der Ausnahmezustand verlängert wird. Es war auch nicht geschickt von Präsident Hollande, unilateral zu sagen, dass wir uns in einem Kriegszustand befinden. Für manche Partner in Europa hat das Wort „Krieg“ eine ganz andere Bedeutung als in Frankreich. Es macht es noch komplizierter für Merkel, Hilfe anzubieten.
Deutschland und Frankreich ergreifen bei unterschiedlichen Themen die Initiative. Hollande ist beim Thema Sicherheit und Terrorismusbekämpfung vorn; Angela Merkel beim Flüchtlingsthema. Ist das nicht auch ein Problem?
Ich finde das völlig normal, zumal sich Deutschland ja nun auch im Kampf gegen den Terror engagiert. Meine Sorge ist mehr, dass Deutschland und Frankreich, aber auch die gesamte EU, nur noch auf aktuelle Probleme reagieren, statt in die Zukunft zu schauen. Nehmen Sie den gemeinsamen Auftritt von Merkel und Hollande im Europaparlament in Straßburg im Oktober: Sie haben zwar zu allen wichtigen Themen etwas gesagt, aber es fehlte eine klare Botschaft und das Gefühl, dass wir jetzt gemeinsam anpacken. Die Lösungen, die vorgeschlagen wurden, sind nicht europäisch genug.
Was wäre denn zu tun?
Die EU-Staaten müssen jetzt endlich handeln und das umsetzen, was sie zum Teil schon vor Jahren als richtig erkannt haben. Zum Beispiel haben wir schon 1994 über ein Kerneuropa diskutiert, ich meine das Schäuble-Lamers-Papier. Bei der Einführung des Euro wurde gesagt, dass wir eine politische Union brauchen. Auch über den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen haben wir schon vor zehn Jahren diskutiert. Geschehen ist nichts.
Deutschland scheint trotz allem sehr gut mit der EU zu fahren, Frankreich weniger…
Wer nach Gewinnern und Verlierern fragt, hat nichts von Europa verstanden! Wir müssen endlich Bilanz ziehen und fragen: was hat funktioniert, was nicht. Danach müssen wir handeln. Die Kosten des Nichtstuns sind hoch, wie wir heute sehen.
Trauen Sie der aktuellen Führung in Brüssel zu, die Krise zu meistern?
Ob die aktuelle Mannschaft die beste ist, weiß ich nicht. Aber klar ist: Keiner kann allein die Vielfalt Europas vertreten und verteidigen. Es ist wie im Fußball: Wenn wir nicht im Team spielen, werden wir gemeinsam verlieren.
Die Fragen stellten Eric Bonse und Camille Le Tallec
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