- Vom Störfall zur Inspiration für die EU
Aus Angst vor ungebremster Zuwanderung und „Dichtestress“ haben nicht nur erzkonservative Rückwärtsgewandte, sondern auch wirtschaftsliberale Schweizer und Akademiker für die Initiative gegen Masseinewanderung gestimmt. Die EU könnte sich von der lösungsoffenen Initiative inspieren lassen
Die Schweiz stört. Diese kleine Alpenrepublik inmitten Europas will die Grenzen wieder dicht machen. Sie will selbst entscheiden, wer rein darf und wer nicht. Am Sonntag hat das Volk seiner Regierung und seinem Parlament den Auftrag erteilt, das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU „neu auszuhandeln und anzupassen“.
In der Bundesverfassung steht jetzt ein programmatische Satz: „Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.“ Und das bedeutet, die freie Wahl von Wohnsitz und Arbeitsplatz für EU-Bürger in der Schweiz ist Geschichte. In spätestens drei Jahren soll die Zuwanderung aus der EU mit Höchstzahlen und Kontingenten begrenzt werden.
Jetzt ist die Aufregung in der EU groß und auch das Unverständnis. Warum nur haben die Schweizer der Personenfreizügigkeit im Jahr 2009 noch mit fast 60 Prozent zugestimmt? Und warum haben sie nun, fünf Jahre später, mit 50,3 Prozent die Kehrtwende eingeleitet?
Es geht um Ängste, Sorgen und aber auch um Fakten.
Mobilisierung der Ewifgrustrierten und Zukurzgekommenen
Zu den Fakten: Es sind viel mehr Zuwanderer aus der EU in die Schweiz gekommen als erwartet. Jährlich würden rund 8.000 Menschen ins Land kommen, prognostizierte damals die Regierung. Tatsächlich kamen zehn Mal mehr. Jährlich 80.000 Zuwanderer. Die Schweiz zählt mittlerweile acht Millionen Einwohner. Ausländeranteil: 23 Prozent.
Die politische Rechte, die Schweizerische Volkspartei SVP, die mit ihrer Initiative „gegen die Masseneinwanderung“ die Mehrheit überzeugte, beackert seit Jahr und Tag beides – Bevölkerungswachstum und Ausländeranteil. Im Abstimmungskampf publizierte sie Schreckensszenarien einer 16-Millionen-Schweiz fürs Jahr 2060. Schlagzeile: „Bald mehr Ausländer als Schweizer“. Solche Parolen mobilisierten Ewigfrustrierte, Unzufriedene und Zukurzgekommene.
Die SVP, mit gegen 30 Prozent Wähleranteil die größte Partei der Schweiz, ist mit ihrem Angriff auf das Freizügigkeitsabkommen gegen den Rest der Schweiz angetreten: Gegen die politische Führung, die übrigen Parteien, die Wirtschaft und ihre Verbände und gegen die Gewerkschaften. Aber so klar die Fronten und Kräfteverhältnisse auf dem Papier waren, so verwischt sind sie in der gesellschaftlichen Realität.
Die Regierung hat ihre Glaubwürdigkeit in der Migrationspolitik verspielt
Mit der Fehlprognose von 2009 hatte die Regierung der Schweiz in der Migrationspolitik ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Da konnten die Minister im Abstimmungskampf Land auf Land ab noch so fleißig dagegenreden. Der Boulevard verhöhnte die vielen Auftritte als „Tour de Schiss“. Das Echo im Ohr der Leser tönte nach „Tour de Bschiss“. Und dies nicht nur in den Ohren von konservativen Geistern, die im Herzen Überfremdungsängste tragen.
Dass die SVP bei vielen Schweizern einen Nerv trifft, hatte sich zuletzt schon bei den Erfolgen der Zweitwohnungs- und der Kulturland-Initiativen, beim Kampf gegen kalte Betten in Tourismusregionen und gegen die Zersiedelung der Landschaften, eindrücklich erwiesen. Die Sorgen über ein ungebremstes Wachstum und dessen Folgen führen mittlerweile zu ungewohnten politischen Mehrheiten. Sie lassen sich nicht mehr mit einer heimattümelnden Geranien-Schweiz erklären.
Wertkonservative Grüne und andere ökologisch-bewahrende Kreise wehrten sich gegen Verkehr, Lärm und Beton schon lange, bevor der „Dichtestress“ die Runde machte. Jener aktuelle Kampfruf, mit dem gerne den Ausländern die Schuld an überfüllten S-Bahnen, Autostaus und Wohnungsnot untergejubelt wird.
Die Analyse der Abstimmungsergebnisse vom vergangenen Sonntag zeigt zwar, dass die Globalisierungsängste hauptsächlich dort grassieren, wo die Menschen wenig von der „Masseneinwanderung“ mitbekommen. In den urbanen Zentren, wo Einheimische und Ausländer zusammen leben, arbeiten und genießen, findet die Personenfreizügigkeit heute noch eine Mehrheit. Aber diese Mehrheit ist in den letzten fünf Jahren erheblich geschrumpft.
Auch Akademiker fühlen sich zunehmend als Globalisierungsverlierer
Es sind eben nicht nur die erzkonservativen, rückwärtsgewandten, sonderfall-verliebten Schweizer, die wieder Grenzen hochziehen und das Land abschotten wollen. Am Sonntag hat auch ein Teil des Mittelstandes, der Akademiker und der Wirtschaftsliberalen für die Volksinitiative „gegen die Masseneinwanderung“ gestimmt. Auch sie fühlen sich zunehmend als Globalisierungsverlierer. Denn top ausgebildete Zuwanderer machen ihnen Kaderjobs streitig, drücken auf die Lohnentwicklung und vertreiben die Gemütlichkeit.
Die Schweizer Elite muss - wie schon nach der Minarett- und der Abzocker-Initiative - zur Kenntnis nehmen, dass sie den Kontakt zur Bevölkerung verloren hat. Der Refrain „Erfolgsmodell Schweiz“ der Polit- und Wirtschafts-Leader hat nicht verfangen. Ebenso wenig die Schwarzmalerei über die Folgen des Verlusts der Bilateralen Verträge mit der EU.
Die offen formulierte Initiative lässt viele Lösungen zu
Der Schweizer Entscheid besitzt ohne Zweifel Störpotenzial für ganz Europa. Die Ängste und Sorgen, dies sich am Sonntag artikulierten, existieren überall in Europa. Ein Blick in die Internetforen sollte Brüssel aufschrecken.
Die EU könnte es sich jetzt einfach machen und den Kleinstaat in den Bergen für die direkt-demokratische Absage an die Freizügigkeit abstrafen. Schließlich liegt es angesichts des eigenen Streit über Migrationsfragen innerhalb der EU nahe, mit einer harten Haltung ein Exempel zu statuieren.
Dabei böte die Causa Schweiz auch die Chance auf einen Politikwechsel. Die sehr offen formulierte Masseneinwanderungs-Initiative lässt viele Lösungen zu. Sie lässt es vor allem zu, das Prinzip Personenfreizügigkeit für die gesamte EU zu modifizieren.
So könnte Schweiz für die EU vom Störfall zur Inspiration werden. Nicht zum Modell- aber zum Testfall, der zwar rechtspopulistischen Forderungen eine klare Absage erteilt, aber die Sorgen der Bürger gleichzeitig ernst nimmt.
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