- „London ist ein schwarzes Loch“
Schottland werde ein besseres Land sein, wenn es sich erst einmal von Großbritannien losgesagt habe, sagt Alex Salmond. Der Chef der der Scottish National Party findet die Haltung der Regierung in London antiquiert und unannehmbar
Am 18. September stehen die Schotten vor einer historischen Entscheidung. In einem Referendum können sie sich lossagen von dem Vereinigten Königreich Großbritannien – einer Einheit, die 1603 durch die Thronbesteigung von James I. Stuart begonnen und gut 100 Jahre später unter Queen Anne durch „The Acts of Union“ zementiert wurde. Alex Salmond, 59, Erster Minister Schottlands, Vorsitzender der in Edinburgh regierenden Scottish National Party und ein sehr witziger, geistvoller und charismatischer Mann, führt einen bitteren Kampf gegen die Elite von Westminster
Herr Salmond, kann es wirklich ein unabhängiges Schottland geben? Sie müssten Schätzungen zufolge Streichungen und Steuererhöhungen von bis zu 4,6 Milliarden Pfund im Jahr vornehmen.
Es geht nicht darum, ob es die Unabhängigkeit geben kann, sondern ob es sie geben soll. Meine Antwort ist in jeder Hinsicht: Ja. Die Unabhängigkeit würde dem demokratischen Defizit in Schottland ein Ende bereiten. 62 Prozent aller Schotten vertrauen unserer Politik verglichen mit nur 31 Prozent aller Briten und Westminster. Seit 32 Jahren tragen wir mehr zum britischen Haushalt bei als jeder andere Teil des Königreichs. Wenn wir unabhängig werden, dann unter glücklicheren Vorzeichen als je eine andere Nation. Unser Bruttoinlandsprodukt liegt nur knapp unter dem Neuseelands. Selbst die Ratingagentur Standard & Poor’s hat zugegeben, dass trotz aller Sorgen des Finanzsektors und trotz aller Kritik aus Westminster unser Alleingang nicht einfach, aber auch nicht unmöglich ist. Wir haben eine reiche, diversifizierte Wirtschaft, transparente Institutionen, einen flexiblen Arbeitsmarkt und hochwertiges Bildungskapital. Bei einer Unabhängigkeit 2016 ist unsere finanzielle Lage stabiler als die des Vereinigten Königreichs.
Standard & Poor‘s bindet diese Aussage aber zum großen Teil an eine Währungsunion mit England und Wales. Diese Union schlagen auch Sie vor, neben einer monarchischen und sozialen Union. Ist das eine Unabhängigkeit à la carte?
Die Queen wird unser Staatsoberhaupt bleiben. Unsere sozialen Verbindungen bleiben bestehen. Ja, derzeit wollen alle drei Parteien in Westminster uns das Pfund verweigern. Auf welcher Basis? Es ist auch unsere Währung, nicht nur die ihre. Die Rede des britischen Finanzministers George Osborne – The Sermon on the Pound (Die Predigt auf das Pfund) – wird sich als schwerwiegender Fehler für ihn herausstellen. Er bezeichnet darin Schottland als „fremdes Land“, sollten wir uns für die Unabhängigkeit entscheiden. Wir werden aber nie Fremde sein – wir sind hundertfach miteinander verbunden: durch Familie und Freundschaft; Handel und Wirtschaft; Geschichte und Kultur. Diese Faktoren nehmen keine Befehle aus Westminster entgegen. In Wahrheit wird ein starkes, unabhängiges Schottland dem Vereinigten Königreich zugutekommen. Die Haltung der regierenden Elite hier ist so antiquiert wie unannehmbar. Für sie ist der Schotte der Geringste unter Gleichen.
Wie sähe es mit der Mitgliedschaft des unabhängigen Schottlands in der Europäischen Union und der Eurozone aus? EU-Präsident José Manuel Barroso nennt sie „schwierig, wenn nicht unmöglich“.
Eine Mitgliedschaft in der EU ist in unserem besten Interesse. Wo bitte steht es in den Statuten der EU geschrieben, dass über fünf Millionen Mitglieder von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt werden können? Auch Barrosos Worte sind mittlerweile als „inakzeptabel“ kritisiert worden. Ich nenne es den „Barroso-Backlash“ (Alex Salmond lacht). Ein unabhängiges Schottland wird jedoch kein Mitglied der Eurozone sein.
Was genau also bringt eine Unabhängigkeit den Schotten?
Die Wahl am 18. September ist vor allen Dingen die Wahl zwischen zwei möglichen Formen der Zukunft. In der einen Zukunft geht alles so weiter wie bisher: Das Vereinigte Königreich gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht. London ist wie ein schwarzes Loch, das Ressourcen, Talente, Energie aufsaugt und alles andere desolat zurücklässt. Die andere Zukunft erlaubt es uns, ein besseres Land zu formen. Wir wären ein neuer Nordstern, gerade auch für unsere Nachbarn im Norden Europas.
Wie genau müssen wir uns diesen „Nordstern“ vorstellen?
Schottland würde endlich von all dem profitieren, was es generiert, und eine Politik schaffen, die auf das Land zugeschnitten ist. Schottische Steuern verschwinden auf Nimmerwiedersehen in Westminster. Für grundlegende Verbesserungen der Infrastruktur wurden zum Beispiel in London 2600 Pfund pro Einwohner aufgebracht. Im Nordosten der Insel aber nur 5 Pfund. 5 Pfund! Die Maßnahmen der Koalition sind nicht für uns bestimmt, aber wir leiden darunter: In den achtziger Jahren mit der „Poll Tax“ und heute mit der „Bedroom Tax“ (ein Gesetz, das das Wohngeld limitiert, wenn ein Empfangsberechtigter ein überzähliges Schlafzimmer hat, Anm. d. Red.). Es ist auch kein Wunder: Im House of Parliament sitzt gerade mal ein einziger schottischer konservativer Abgeordneter! Das war bereits bei den vergangenen drei Regierungen so, davor gab es sogar keinen einzigen Abgeordneten. Wir weisen seit Generationen Westminster an der Wahlurne zurück. Schottland braucht grundlegende Reformen.
Haben Sie ein Beispiel für diese Reformen?
Zum einen möchte ich die Zahl berufstätiger Frauen durch eine radikale Reform der Kinderbetreuung steigern – derzeit zahlen Eltern in Großbritannien mehr für diese als irgendwo sonst in der Europäischen Union. Schon heute arbeiten mehr schottische Frauen als in England, Nordirland oder Wales. Mein Ziel aber sind schwedische Verhältnisse, was pro Jahr etwa 700 Millionen Pfund Steuergelder generieren würde. 700 Millionen Pfund, die nicht nach Westminster fließen, sondern in Edinburgh bleiben. Gleichzeitig möchte ich nach dem Beispiel Irlands die Unternehmenssteuer wie auch die Abgaben auf internationale Flüge senken. Insgesamt soll der Arbeitsmarkt noch flexibler und attraktiver werden.
Weshalb drängen Sie David Cameron zu einer TV-Debatte? Der hat Ihr Anliegen doch wiederholt abgelehnt.
Der Premier hat mehrere Male versucht, das Terrain für die Debatte um die schottische Unabhängigkeit zu definieren, nun soll seine „Better Together“-Kampagne von rein wirtschaftlichen Argumenten auch noch die Köpfe und Herzen berühren. Aber er weigert sich, so viel demokratische Verantwortung zu übernehmen und sich mir in einer Debatte zu stellen. Westminster sieht sich als Dammbrecher: Cameron tut schön, ehe Osborne uns den Magenschwinger verpasst.
Wie wird die Wahl am 18. September ausgehen? Bei den bisherigen Umfragen haben Sie seit September vergangenen Jahres pro Monat je einen Prozentpunkt zugelegt und liegen nun bei geschätzten 42 Prozent Ja-Stimmen. Bei dem Tempo würden Sie die notwendige Mehrheit verfehlen.
Am Wahltag wird eine sehr andere Demografie an den Urnen vertreten sein. Dieses Referendum hat nichts mit einer normalen Wahl zu tun. Ganz Schottland, und ich meine ganz Schottland, wird auf den Beinen sein. Zum ersten Mal wird dieses Land über seine Zukunft frei entscheiden können. Es gibt auf dieser Welt keine absolute Souveränität. Aber es gibt den absolut magischen Moment, über sein Schicksal zu entscheiden (Salmond hat Tränen in den Augen). Glauben Sie mir: Mein Land wird so viel besser sein, wenn es stark und unabhängig ist. Um so unglaublich vieles besser!
Das Interview führte Ellen Alpsten.
Alex Salmond bleiben noch rund drei Monate, um die Schotten von seinem Anliegen zu überzeugen. Für die heiße Phase des Wahlkampfs hat die Scottish National Party 2,5 Millionen Pfund an Werbeetat zur Verfügung. Bei den Parlamentswahlen 2011 sicherte sich Salmonds Partei nach zunächst enttäuschenden Umfrageergebnissen mit einem Monat leidenschaftlicher Kampagne die absolute Mehrheit. Auch die britischen Stars nehmen an der Debatte teil: Sean Connery beschwört die Schotten, für die Unabhängigkeit zu stimmen; während David Bowie seine Dankesreden bei Preisübergaben mit dem Slogan beendet: „Scotland, stay with us!“
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