Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
Virge Viertek

Russisches Fernsehen in Estland - Mit Lifestyle gegen Putin

Darja Saar ist 35, Managerin und russischstämmige Estin. Mit Medien hatte sie bislang nichts am Hut. Nun soll sie mit einem TV-Sender die russische Propaganda neutralisieren

Autoreninfo

Andreas Theyssen ist einer der beiden Gründer der Website opinion-club.com, eines digitalen Debattierclubs, der auf Kommentare, Analysen und Glossen spezialisiert ist.

So erreichen Sie Andreas Theyssen:

Kasan. Jedes Jahr Kasan. Immer im Sommer macht sich Darja Saar im estnischen Tallinn auf den knapp 2000 Kilometer langen Weg zu der Stadt an der Wolga, Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan, Geburtsstätte der Tupolew-Passagierjets. Verwandte besucht sie dort, ihre halbe Familie lebt in Russland. Diesen Sommer fällt die Visite aus, zum ersten Mal seit Jahren. „Ich weiß nicht, wann ich wieder Urlaub machen kann“, sagt sie. „Hoffentlich Weihnachten. Vorher definitiv nicht.“

Saar, 35, steht vor einer Aufgabe, die kaum zu bewältigen scheint: Binnen sechs Monaten soll sie für den estnischen Fernsehsender ERR ein russischsprachiges Vollprogramm aufbauen. Im März wurde sie zur Chefredakteurin bestellt, am 28.  September soll die erste Sendung laufen. Ein gehöriges Tempo.

Die baltischen Länder, Mitglieder von EU, Eurozone und Nato, sind seit Moskaus Annexion der Krim zu Frontstaaten geworden. Nicht nur wegen ihrer Grenzen mit Russland, sondern auch, weil gut ein Drittel ihrer Bevölkerung russischsprachig ist. Dieses Drittel, das ist die Befürchtung, könnte Moskau als Einfallstor dienen. Ähnlich wie in der Ukraine.

Gegenspielerin der Putinmedien
 

„Ich habe Staatswissenschaften studiert“, sagt Darja Saar. „Schwerpunkt Krisenmanagement“, fügt sie grinsend hinzu. Mädchenhaft wirkt sie, jünger als ihre 35 Jahre. Ihr Erscheinungsbild kaschiert ihre neue Rolle: Sie ist eine neue Gegenspielerin der Putinmedien. Sie soll, so sieht es zumindest der Plan der estnischen Regierung vor, dessen Propaganda in Estland eindämmen.

Die russischsprachigen Minderheiten in Estland und Lettland – neben Russen sind dies auch Ukrainer und Weißrussen – informieren sich nahezu ausschließlich über die vom Kreml gleichgeschalteten russischen TV-Sender. In den Haushalten laufen sie den ganzen Tag, vor allem wegen der professionell gemachten Unterhaltungsshows. Ganz nebenbei erhalten Esten und Letten eine Dosis russischer Propaganda: über die News-Laufbänder am Bildschirmrand, über Nachrichten, Dokumentationen und Talkshows, in denen allein Moskaus Sicht der Ukrainekrise und des neuen Ost-West-Konflikts dargestellt wird.

Das hat Folgen. Obwohl Estland Mitglied der Nato ist, obwohl seit Beginn der Ukrainekrise dänische, deutsche, spanische und britische Piloten den Luftraum des Landes mit Eurofightern sichern und obwohl inzwischen US-Truppen im Land sind, sehen nur 30 Prozent der russischsprachigen Esten das Bündnis positiv. In der übrigen Bevölkerung sind es 90 Prozent. Das Hauptproblem sei, sagt Viktors Makarovs, für Medienpolitik zuständiger Berater des lettischen Außenministers, dass „die russische Propaganda unseren Leuten das Gefühl gibt, dieser Staat sei nicht sicher, und sie deshalb auswandern“.

Integration gegen Propaganda
 

Darja Saar, die an Estlands Universitäten und der Diplomatenschule sozialisiert und dort gegen Kreml-Verlautbarungen immunisiert wurde, sieht ihre Aufgabe dennoch nicht darin, Putins Propaganda zu kontern. „Unser Ziel ist es zu ändern, dass derzeit ein Drittel unserer Bevölkerung nicht richtig integriert ist.“ Das sind die russischsprachigen Esten in der Tat nicht. Da das Land insgesamt fast 50 Jahre von der Sowjetunion besetzt war, werden sie von Mitbürgern als „Besatzer“ beschimpft. Der Staat verlangt von ihnen Einbürgerungstests, bei denen unter anderem nachgewiesen werden muss, dass sie Estnisch in Wort und Schrift beherrschen. Wer sich weigert oder nicht besteht, muss als Staatenloser in Estland leben, hat schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. „Wenn die Menschen mit ihrem Leben unzufrieden sind“, sagt Saar, „dann fallen sie leicht auf Propaganda rein.“

Sie weiß, wovon sie redet. Darja Saar wurde 1980 im russischsprachigen Nordosten Estlands geboren, zog dann mit ihren Eltern nach Kasachstan und kehrte als 14-Jährige in das gerade wieder unabhängig gewordene Estland zurück. Die ersten Jahre in der alten Heimat seien eine harte Zeit gewesen. Aber: „Das war keine Diskriminierung, das war nur Selbstschutz. Die Esten brauchten Zeit, um erwachsen zu werden.“

5 Prozent News, 95 Prozent Unterhaltung
 

Mit ihrem TV-Programm will sie, die kaum Fernseherfahrung hat und zuletzt Chefin einer Organisation zur Förderung des Unternehmergeists war, nun nachholen, was 20 Jahre lang versäumt wurde. Ihre Startbedingungen sind nicht sonderlich gut: 35 Planstellen wurden ihr bewilligt, ihr Etat für dieses Jahr beträgt 2,5 Millionen Euro. Damit soll sie täglich 22 Stunden Programm liefern.

Unmöglich? Darja Saar glaubt zu wissen, wie ihre Landsleute ticken. „Für die russischsprachige Minderheit sind zwei Dinge besonders wichtig: Konsum und praktische Dinge.“ Entsprechend soll das Programm aussehen. 5 Prozent selbst produzierte News, 95 Prozent Unterhaltung.

„Was wir machen“, sagt die Chefredakteurin, „ist eine zweite Chance für die estnische Gesellschaft.“ Das Konzept dafür lag schon seit Jahren in den Schubladen der estnischen Regierung. Erst durch die Ukrainekrise wird es nun umgesetzt. Es ist der erste Punkt, den Darja Saar gegen Putin geholt hat.
 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.