- Ein löchriges Vertragswerk
Die Konfliktparteien im ukrainischen Kriegsgebiet Donbass haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt. Doch die Minsker Vereinbarung ist viel zu schwammig, um echten Frieden zu bringen
Europa atmet auf. Nach einem nächtlichen Verhandlungsmarathon haben sich die Verhandlungspartner auf einen Waffenstillstand geeinigt. Der wichtigste Punkt: Ab Mitternacht von Samstag auf Sonntag sollen die Waffen schweigen. Aber nach dem Aufatmen folgt die Skepsis: Was, wenn sich nun das wiederholt, was die Welt nach den ersten Minsker Vereinbarungen im September mit ansehen musste, als die Separatisten die vereinbarten Punkte weitgehend ignorierten und stattdessen weiter vorrückten?
Die neuen Vereinbarungen enthalten zu viele Unbekannte, um von echtem Frieden sprechen zu können.
Das fängt schon beim Wort „Verhandlungspartner“ an. Poroschenko weigert sich bislang, direkt mit den Separatistenführern zu verhandeln, für ihn sind sie Terroristen und Moskauer Marionetten. Putin dagegen erklärte vor der Presse, dass Kiew in direkten Kontakt mit den Separatisten treten müsse, um den Frieden zu sichern.
Umkämpfte Gebiete bleiben Teil der Ukraine
In Minsk umging man dieses Problem durch einen Trick: Parallel zu den Verhandlungen der vier Staatschefs aus Moskau, Berlin, Paris und Kiew verhandelten nur wenige Kilometer entfernt die Separatistenführer mit der sogenannten Minsker Kontaktgruppe, bestehend aus der stellvertretenden OSZE-Chefin Heidi Tagliavini, dem ehemaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und dem russischen Botschafter in der Ukraine Michail Surabow. Dabei ging es natürlich an beiden Orten um die gleichen Fragen.
Den größten Sieg hat Kiew damit errungen, dass die Grundlage des Friedensprozesses die Minsker Vereinbarungen von September bleiben. Das heißt konkret: Die Gebiete bleiben Teil der Ukraine und sollen sich in Zukunft wieder der ukrainischen Gesetzgebung unterordnen.
Zu den öffentlichkeitswirksamen Erfolgen für die Ukraine gehört außerdem eine Einigung über die baldige Freilassung der ukrainischen Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko, die seit dem Sommer in russischer Untersuchungshaft schmorte.
Dafür musste Kiew allerdings einiges opfern.
Ein wichtiger Erfolg der Separatisten ist etwa der Punkt der Vereinbarung, der die wirtschaftliche Blockade des Donbass beenden soll: Kiew verpflichtet sich, die ukrainischen Banken in den Separatistengebieten wieder zu aktivieren, und stellt in Aussicht, die Zahlungen von Renten und Gehältern an Staatsbedienstete wieder aufzunehmen.
Minsker Dokument sehr schwammig formuliert
Ein weiterer Erfolg der Volksrepubliken ist, dass ihre Einheiten sich nur von der im September vereinbarten Frontlinie zurückziehen müssen, die Ukrainer jedoch von der zum heutigen Tag faktischen Kontaktlinie. Das schreibt die Gebietsgewinne für die Separatisten fest, die sie über die letzten Monate gemacht haben.
Aus vielen Punkten des vierseitigen „Maßnahmenpakets zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“, wie es offiziell heißt, spricht jedoch das Ringen um Kompromisse. In einigen Fällen sind die Formulierungen deshalb so diplomatisch aufgeweicht, dass sie viel Raum für Interpretation und Streit lassen.
So muss das ukrainische Parlament innerhalb eines Monats festlegen, für welche Territorien das Gesetz über den Sonderstatus des Donbass gelten soll. Wird es für die gesamten Verwaltungsgebiete Donezk und Luhansk gelten, wie die Separatisten immer wieder gefordert haben? Das wiederum wäre für Poroschenko innenpolitisch kaum durchsetzbar.
Ähnliches gilt für die in Punkt 10 festgeschriebene „Entwaffnung aller ungesetzlichen Gruppen“: Die Volksrepubliken sehen ihre Kampftruppen inzwischen als reguläre Armeen an und werden einer Entwaffnung sicher nicht zustimmen.
Friedensvereinbarung könnte schon in den nächsten Tagen scheitern
Auch die Frage der Grenzkontrolle ist im Dokument sehr schwammig formuliert: Die Ukraine soll die Kontrolle über ihre Staatsgrenze zu Russland bis Ende 2015 zurückerlangen, allerdings unter einer Reihe von Bedingungen, zu denen die Abhaltung von Wahlen (aber erst nach einer Verfassungsreform) sowie eine „umfassende politische Regulierung“ gehört.
Und während in Minsk die politischen Führer zusammensaßen, sprachen und sprechen im Donbass weiter die Waffen. Es scheint, als würden die Kriegsparteien an verschiedenen Frontabschnitten versuchen, bis Sonntag noch Tatsachen auf dem Schlachtfeld zu schaffen.
Der wichtigste Streitpunkt ist in mehrerer Hinsicht der Verkehrsknotenpunkt Debalzewo, um den in den letzten Wochen heftig gekämpft wurde. Die Separatisten brauchen den Ort, weil über ihn die Verkehrsverbindung von Luhansk nach Donezk verläuft.
In den vergangenen Tagen haben sie hier mehrere Tausend ukrainische Soldaten eingekesselt und fordern sie dazu auf, ihre Waffen niederzulegen und abzuziehen. Kiew hingegen bestreitet, dass der Kessel geschlossen ist. Allein an der Causa Debalzewo könnte die Friedensvereinbarung schon in den nächsten Tagen scheitern.
Was bedeuten die Vereinbarungen für den „neuen kalten Krieg“ zwischen dem Westen und Russland?
Sanktionsfront in der EU bröckelt
Als Erfolg mag Putin verbuchen, dass er sich in der Abschlusserklärung zwar für die territoriale Integrität der Ukraine aussprechen musste, aber in Minsk die Causa der annektierten Krim mit keinem Wort erwähnt wurde. Mit seinem Auftreten in Minsk hat er zudem eine Eigenschaft gezeigt, die manch westlicher Politiker ihm in letzter Zeit schon abgesprochen hatte: Kompromissbereitschaft.
Für den Westen wird es vor diesem Hintergrund nun schwierig, Härte gegenüber Russland zu zeigen. Dazu gehören etwa neue Wirtschaftssanktionen, über die die EU-Chefs dieser Tage beraten wollen. Zumal die Sanktionsfront innerhalb der EU in den letzten Wochen ohnehin mehr und mehr bröckelt.
Bei aller Hoffnung auf ein „Einfrieren“ des Krieges im Donbass darf man eines nicht vergessen: Der Konflikt in der Ukraine ist ein Instrument Russlands, um den Westen zu Zugeständnissen zu zwingen. Das wohl wichtigste ist ein blockfreier Status der Ukraine. An einer Lösung dieser Frage hängen die zukünftigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen – und die Frage nach Krieg und Frieden in der Ukraine.
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