- Konturen einer neuen europäischen Flüchtlingspolitik ?
Niemand in Brüssel glaubt mehr an das marode Asylzuständigkeitssystem „Dublin“. Warum ein Quotenmodell das alte System verlängern würde und warum die die geplanten Militäraktionen gegen Schlepper ein Angriff auf Flüchtende wären
Die Europäische Flüchtlingspolitik ist in allen zentralen Aspekten gescheitert. Sagt Brüssel selbst – wenn auch zwischen den Zeilen. „Europa kann dem Sterben im Mittelmeer nicht tatenlos zusehen“, erklärte der zuständige EU-Kommissar Avramopoulos. Die am 13. Mai veröffentlichte europäische Migrationsagenda, sei „die konkrete Antwort auf das dringende Gebot, Leben zu retten und die Länder an den EU-Außengrenzen mit beherzten Maßnahmen zu unterstützen.“
Die Kommission erhöht den Etat für konkrete Lebensrettungsmaßnahmen. Und sie will mehr Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme in Europa und vor allem den bedrängten EU- Außenstaaten unter die Arme greifen. Sie will in Notfallsituationen – ein Dauerzustand in Italien und Griechenland – Flüchtlinge nach einem Quotenmodell verteilen.
So viel Geld für Grenzschutz wie für italienische Flüchtlingshilfe
Nachdem die EU und ihre Mitgliedstaaten die italienische Seenotrettungsoperation Mare Nostrum im letzten Oktober auslaufen hatten lassen, wurde nun einige Monate später und nach 2000 zusätzlichen Toten, die Geldmittel für die europäischen Operationen Triton und Poseidon unter der Ägide der Grenzagentur Frontex verdreifacht . Damit erhält Frontex für diese Operationen ungefähr das Budget, das der italienischen Marineoperation „Mare Nostrum“. Doch im Gegensatz zu Mare Nostrum sind die Frontex-Operationen nicht in erster Linie auf die Rettung von Flüchtlingen, sondern auf den Schutz der EU-Außengrenzen ausgerichtet.
Die Debatte über „gerechte Verteilung“ von Flüchtlingen, das vorgelegte Quotenmodell, machen deutlich, dass niemand mehr an das bestehende dysfunktionale marode Asylzuständigkeitssystem Dublin glaubt.
Die Vorschläge werden zum Teil als menschenrechtliche Kehrtwende gefeiert. Vieles – etwa der Vorschlag einer EU-Verteilungsregelung (Relocation) und die Aufnahme von 20.000 Flüchtlingen aus Drittstaaten (Resettlement) – sind jedoch sehr halbherzig. Aber selbst diese werden jedoch von zahlreichen Mitgliedsstaaten, allen voran Großbritannien, heftig kritisiert und zerschossen.
„Krieg gegen Schlepper“
Neben den zahlreichen mitfühlenden Worten in ihrer Agenda bleibt die EU-Kommission entschlossen „eine gefährliche Militärintervention“ in ihrem „Krieg gegen die Schlepper“ in internationalen und libyschen Gewässern durchzuführen. Die EU- Außenbeauftragte Mogherini kämpft seit Wochen um ein UN- Mandat, um „Boote zu zerstören, bevor sie von den Schleppern eingesetzt werden“. Ronen Steinke fragt in der SZ, sind den völlig erschöpfte Flüchtlinge auf Seelenverkäufer oder Schlauchbooten eine „Bedrohung für den Weltfrieden“ und eine „Gefahr für die internationale Sicherheit“ ?
Der Einsatz von Waffen stellt dabei eine unkontrollierbare Gefahr für Menschenleben dar. Die geplanten militärische Operationen werden auch und vor allem Flüchtlinge treffen – die „Schlepper“-Boote werden in der Regel von einfachen Fischern und Flüchtlingen gesteuert. Durch die Zerstörung der Boote und die avisierte militärische Seeblockade nimmt man außerdem den in Libyen gefangenen Flüchtlingen die letzte Chance, in die EU zu gelangen. Anstatt Kanonenboote zu schicken, wäre es ein Gebot der Menschlichkeit, die zehntausenden Schutzsuchenden, die im Bürgerkriegsgebiet um ihr Überleben kämpfen, zu retten und nach Europa zu evakuieren.
Der Europaabgeordnete Claude Moraes hat die Position der EU- Staaten folgendermaßen zusammengefasst: Es gibt eine sehr starke Unterstützung für Militäraktionen gegen Menschenschmuggler, aber eine sehr geringe für Relocation und Resettlement von Flüchtlingen.
20.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge aus Drittstaaten
Der Vorschlag 20.000 Flüchtlinge – wahrscheinlich mehrheitlich aus Syrien – über ein Resettlement-Programm aufzunehmen, ist zwar zu begrüßen. Das Sterben im Mittelmeer würde angesichts der geringen Aufnahmeplätze jedoch nicht verhindert. 2014 wurden rund 220.000 Menschen an den Seeaußengrenzen der EU registriert. Rund 110.000 von ihnen kamen aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Die Anzahl der Plätze reicht auch für diese Gruppe nicht einmal annähernd. Für die vielen Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea und Somalia wird überhaupt keine Lösung angeboten. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist zu Flüchtlingen und Vertriebenen geworden. Im Libanon ist mittlerweile jeder vierte Einwohner ein Flüchtling – insgesamt sind 1,2 Millionen Flüchtlinge dorthin geflohen, nach Europa bis jetzt lediglich knapp 200.000.
Die vorgeschlagen 20.000 Aufnahmeplätze wären ein Tropfen auf dem heißen Stein. Europa muss in der Lage sein, ähnliche viele Flüchtlinge wie der kleine Libanon aktiv aufzunehmen. Ansonsten werden die Boote voll bleiben.
Das innereuropäische Quotenmodell
Die Kommission schlägt eine Umsiedlung bzw. Verteilung (Relocation) von Flüchtlingen aus EU-Staaten vor, die sich „aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befinden (Art. 78 (3) AEU-Vertrag). Es werden also, wenn überhaupt, nur Flüchtlinge in bestimmten EU-Staaten betroffen sein – denkbar wären aktuell etwa Griechenland, Italien und Malta. Zudem soll das Programm zeitlich begrenzt sein. Die Umsiedlung dieser Menschen soll dann anhand eines Verteilungsschlüssel erfolgen. Es sollen zudem nur Flüchtlinge betroffen sein, die „offensichtlich Schutzbedürftig“ sind. Es bleibt damit völlig unklar ob und aus welchen EU-Ländern, welche Flüchtlinge, wann und wohin verteilt werden.
Klar ist jedoch: Eine Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen ist dringend notwendig. Bis 11.Mai 2015 sind nach Angaben des Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen in Italien 35.500 Bootsflüchtlinge angekommen und im kleinen Griechenland bereits 26.194. Dort stieg zum Beispiel 2014 die Zahl der Bootsflüchtlinge über die Ägäis auf 43.500 an. Für das Jahr 2015 werden weit über 100.000 Flüchtlingen erwartet. Neben der Ägäis ist der Weg über das Mittelmeer nach Malta oder Italien – noch – die wichtigste Fluchtroute in die Union. 2014 erreichten über diesen Weg 170.000 Flüchtende italienischen Boden.
EU-weite Asyl-Standards sind unrealistisch
Doch auch das vorgeschlagene Quotenmodell ist keine Lösung. Allen Quotenmodellen ist gemein, dass sie allein an den Interessen der Staaten – und nicht der Schutzsuchenden – orientiert sind. Sie alle würden nichts daran ändern, dass Asylsuchende in Länder gezwungen werden, wo sie keine menschenwürdigen Aufnahmebedingungen und Asylverfahren vorfinden. Darauf zu hoffen, dass perspektivisch EU-weit gleiche Asyl-Standards gelten, ist aus heutiger Sicht völlig unrealistisch.
Eine Quotenregelung würde – genau wie das geltende Dublin-System – soweit an den existenziellen Bedürfnissen der Betroffenen vorbei gehen, dass ihnen letztendlich nichts anderes übrig bleibt, als den „zuständigen“ Staat zu verlassen. An dem jetzigen Problem der umherirrenden Schutzsuchenden würde sich durch eine Quote nichts verändern.
Der Kommissionsvorschlag nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge. Diese wollen in der Regel zu ihren Angehörigen und Communitys, da sie dort Unterstützung erhalten können. Warum soll ein Syrer, dessen Schwester in Hannover lebt, nach Estland verteilt und nicht zu ihr geschickt werden? Flüchtlinge selbst entscheiden zu lassen, ist deutlich sinnvoller als eine Quotenlotterie.
Flüchtlingscommunitys als Integrationskatalysator
Im „Memorandum: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit“ haben PRO ASYL, Wohlfahrtsverbände, Richter- und Anwaltsvereine die Forderung nach dem Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates für Asylsuchende entwickelt. Demnach sollen diese selbst entscheiden können, in welchem EU-Staat sie ihr Asylverfahren durchlaufen. Für das Modell der freien Wahl des Asylortes spricht die schnellere Integration von Flüchtlingen. Denn diese gehen nach allen Erfahrungen dorthin, wo sie auf bereits bestehende Communitys treffen, die wie ein Integrationskatalysator wirken: Sie vermitteln Wohnungen, Jobs und geben eine Orientierung in der neuen Heimat.
Diesem Modell wird entgegengehalten, dass damit ein Ungleichgewicht bei der Verteilung der Flüchtlinge in der EU entstehen würde. Fakt ist: Das ist mit dem aktuellen Dublinsystem bereits der Fall. Ungleichheiten bei der Aufnahme von Asylsuchenden können durch finanzielle Ausgleichfonds zumindest teilweise kompensiert werden. Das Dublin-System ist ein Bürokratie-Monster- dies sollten wir nicht durch ein neues ersetzen.
Anstatt Kanonenboote zu schicken, wäre es ein Gebot der Menschlichkeit, die zehntausenden Schutzsuchenden, die im Bürgerkriegsgebiet um ihr Überleben kämpfen, zu retten und nach Europa zu evakuieren.
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