- „Kein anständiger Terrorist nutzt heute noch das Telefon“
Annie Machon war als frühere Geheimagentin beim britischen MI5 für die Aufklärung von islamistischem Terrorismus zuständig. Dann entdeckte sie illegale Machenschaften und floh quer durch Europa. Im Interview spricht sie über ihr Whistleblowing, Cyberterror und erklärt, warum Vorratsdatenspeicherung unverhältnismäßig ist
Frau Machon, seit den Terroranschlägen in Paris sind die Rufe nach schärferen Sicherheitsgesetzen lauter geworden – Kanzlerin Angela Merkel liebäugelt mit der Vorratsdatenspeicherung.
Politiker und Spione wollen immer mehr Wissen. Denn Wissen ist Macht. Dabei sind die bestehenden Gesetze völlig ausreichend, um Terrorverdächtige zu beobachten.
[[{"fid":"64679","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":194,"width":345,"style":"margin: 3px 6px; float: left; width: 300px; height: 169px;","class":"media-element file-copyright"}}]]Im Gegenteil: Kriminalbeamte beklagen, dass sie nicht nachträglich die Kommunikation eines Tatverdächtigen ausspähen und so seine Beziehungsnetze offenlegen können.
Das ist doch auch in der Vergangenheit möglich gewesen. Sobald man einen Durchsuchungsbefehl hatte, konnte man Telefonate und Internetdaten erfassen. Dafür müssen wir nicht die Daten aller Bürger für fünf oder mehr Jahre erfassen. Das ist für eine Demokratie völlig unverhältnismäßig.
Die Geheimdienste kannten die Kouachi-Brüder sehr genau. Weil sie aber ihren Job nicht richtig gemacht haben, wollen sie jetzt Paris als Vorwand für die weitere Einschränkung der Freiheit nutzen.
Wie sollte man also auf solchen Terror reagieren?
Wir brauchen weniger Technologie und dafür mehr menschliche Quellen. Infiltriert Terrorgruppen mit Agenten! Das ist zwar schwieriger und teurer, führt aber auch zu besseren Ergebnissen. Kein anständiger Terrorist würde doch heute noch Telefone oder das Internet benutzen!
Mit Verlaub: Die Bundesregierung schätzt, dass rund 400 Islamisten aus Deutschland nach Syrien und Irak gereist sind. Wie soll man die alle überwachen?
Das ist schlicht unmöglich. Man braucht mindestens 20 Leute, um eine Person 24 Stunden lang zu beschatten. Das wird also nicht passieren.
Zudem haben deutsche Sicherheitsbehörden von ausländischen Geheimdiensten den Hinweis bekommen, dass Anschläge auf Bahnhöfe oder „Pegida“-Demonstrationen geplant gewesen seien. Das hat man sicherlich nur durch technische Überwachung herausbekommen.
Das könnte sein. Ausländische Geheimdienste können ganz Deutsche legal ausspionieren. Die Agenten müssen sich lediglich außerhalb der Bundesrepublik befinden. Sie greifen viel Geplapper auf. Wahrscheinlich auch viele Gespräche von Leuten, die die Ideen der Terroristen unterstützen. Das heißt aber nicht, dass ein Anschlag auch definitiv geplant ist. Um konkrete Pläne zu erfahren, braucht man menschliche Agenten.
Die NSA führt einen regelrechten „Cyberwar“, wie der Spiegel jüngst enthüllt hat. Der US-Geheimdienst soll sogar das „Regin“-Virus programmiert haben.
Im Wesentlichen müssen wir zwei Akteure unterscheiden: Kriminelle Banden oder Nationen. Schon vor Snowden war sehr viel im Netz verfügbar und wer wollte, konnte dort viel lernen. Und das haben sie ja auch. Palästinensische Terroristen kannten schon in den 70er Jahren alle Tricks, dafür brauchten sie keinen Whistleblower. Und die Provisional IRA war eine der geschicktesten Terrororganisationen überhaupt. Ihre Mitglieder wussten, dass man Telefone und Post vermeidet, dass Wohnungen oder Autos verwanzt werden könnten. Wenn Sie etwas tun wollen, das Geheimdienste interessieren könnte, werden Sie sowieso ultravorsichtig sein – fast schon paranoid. Ich spreche aus eigener Erfahrung als Whistleblowerin. Aber die Frage ist auch, ob Geheimdienste überhaupt für Terrorismus zuständig sein sollten.
Wie bitte? Wer denn sonst?
Sie sind dafür da, Spionage und Staatsgefährdung abzuwehren. Sie sollen aufklären, beobachten, Nachrichten liefern. Sie sollen nicht Beweise sammeln und Menschen vor Gericht bringen. Das ist ein großer Unterschied.
Letzteres ist in Deutschland eine Aufgabe von Vollzugsbehörden. Nachrichtendienste und Polizeiarbeit sind getrennt.
Ja, die Polizei ist für diese Aufgabe auch viel besser geeignet: Organisierte Kriminalität, Geldwäsche, Drogen, Menschenhandel, Terrorismus! Seit dem 11. September 2001 mischen beim internationalen Terrorismus aber leider die Geheimdienste mit. Sie stecken Terrorverdächtige in dunkle Zellen und foltern sie. Dabei sind Terroristen schlicht Kriminelle. Mörder. Sie begehen große, schreckliche Straftaten, aber es handelt sich immer noch um Kriminelle, für die die Polizei zuständig sein sollte.
Was kann man denn als einzelner Bürger tun, um sich vor der Überwachung all unserer digitalen Kommunikation zu schützen?
PGP-Verschlüsselung ist sehr gut, der Tor-Browser, das Betriebssystem Tails. Aber es kommt natürlich auf Ihre Risikogruppe an. Wenn Sie Whistleblower, investigativer Journalist oder ein politischer Aktivist sind, sollten Sie besser Hardware nutzen, die älter ist als 2008. Seit jenem Jahr nämlich werden überall Hintertüren für die Geheimdienste eingebaut. Im Prinzip gibt es nur einen einzigen Weg, wie Sie wirklich sicher und geheim mit einem anderen Menschen kommunizieren können: Nehmen Sie ein Stück Glas und legen Sie Ihr Blatt Papier darauf – so hinterlassen Sie keine Abdrücke. Decken Sie das ab und schreiben Sie unter der Decke – so kann Sie niemand sehen oder hören. Dann wechseln Sie, und Ihr Gegenüber kann die Nachricht lesen. Anschließend zerstören Sie das Papier gründlich. Am besten verbrennen Sie es.
Haben Sie das mal gemacht?
Ohja, während meiner paranoiden Tage, als ich auf der Flucht war. Ich kommunizierte so mit meinem damaligen Kollegen und Lebenspartner David Shayler.
Warum sind Sie zur Whistleblowerin geworden? Was lief im britischen Geheimdienst schief?
Ich kam im Januar 1991 zum MI5 und ging Ende 1996. In jenem Jahr quittierten 14 Agenten ihren Dienst – normal waren ein bis zwei Leute. Und die Behörde hat nicht mal nachgefragt, was los war. David und ich wollten dann eine ganze Reihe an Straftaten offenlegen.
Zum Beispiel?
Unschuldige, die ins Gefängnis mussten – und der MI5 hielt die Beweise, dass diese Leute unschuldig waren, unter Verschluss. Bombenanschläge, die hätten verhindert werden können und sollen. Illegale Telefonüberwachung – da hat sich nichts geändert. Und ein MI6-Terroranschlag gegen den libyschen Machthaber Gaddafi. Der britische Geheimdienst hat Al-Qaida bezahlt, um ihn umzubringen. Leider ging der Anschlag daneben und tötete unbeteiligte Menschen. Das war unter britischem Recht illegal. Der Außenminister hat dazu keine Weisung gegeben. Wegen dieses Vorfalls entschied auch ich zu kündigen und an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Skandal führte zu Ermittlungen und einer Parlamentsanhörung. Aber wir machten es wie Edward Snowden: Wir verließen vorsorglich das Land und tourten durch Europa. Wir mussten uns fast drei Jahre im Exil verstecken.
Sie landeten schließlich in Frankreich.
Ja. Das stellte sich als großes Glück heraus: Frankreich musste dem Auslieferungsantrag Großbritanniens zwar zunächst stattgeben – und David für vier Monate inhaftieren. Man erkannte aber, dass die Vorwürfe haltlos waren. Von dem Zeitpunkt an konnten wir frei in Paris leben und mussten uns nicht mehr verstecken.
Wurden Sie denn so sehr von der britischen Regierung bedroht?
Sie wollten uns einschüchtern. Sie nannten David Shayler einen Fantasten, sein früherer Chef bedrohte ihn am Telefon. Einmal flog ich doch nach London zurück. Am Flughafen Gatwick verhafteten mich sechs Beamte. Sie verhörten mich dreimal in einer kameraüberwachten Anti-Terror-Zelle – konnten mir aber im Endeffekt nichts nachweisen. Unsere Familien waren traumatisiert, sie hatten ja alles nur aus der Zeitung erfahren. Spezialeinheiten stürmten auch unsere Wohnung… Sie rissen die Teppiche raus, hämmerten das Parkett auf, verwüsteten das Badezimmer und zerlegten unsere Möbel.
Wie im Agententhriller.
Ja. Es war grauenvoll. Und nichts davon war legal. Sie hatten nicht einmal einen Durchsuchungsbefehl gegen uns. Wir haben unsere Sachen übrigens nie zurück gekriegt – nicht mal meine Unterwäsche. Ich war wirklich sauer. Erst im Sommer 2000 konnte ich das erste Mal in meine Heimat zurückkehren.
Sie wollen heute anderen Whistleblowern helfen. Wie genau?
Das geht nur, indem man selbst als Beispiel wirkt. Man muss zeigen, dass man das überleben kann. Viele Whistleblower in Europa, die Versagen im Gesundheits- oder Bankenwesen, in der Regierung oder der Industrie offengelegt haben, haben alles verloren. Jobs, Geld, menschliche Beziehungen. Viele ihrer Geschichten sind herzzerreißend. Wir wollen ihnen auch beim Umgang mit den Medien helfen. Zudem vergeben wir jedes Jahr den Sam Adams Award for Integrity and Intelligence, weil wir diese Leute ehren wollen. (Zu Jahresbeginn ist der frühere NSA-Technikchef William Binney mit dem Whistleblower-Preis geehrt worden. Snowden, der 2013 ausgezeichnet wurde, hielt die Lobrede. Anm. der Redaktion.)
Warum sprechen Sie über Ihre Anliegen so häufig im russischen Staatsfernsehen? Sie sind gern geladene Expertin bei „Russia Today“.
Weil mir dieser Sender den Platz einräumt, meine Botschaften zu vermitteln. Allerdings war ich auch bei Sky News, der BBC und anderen großen Radiostationen in Großbritannien. RT ist einfach nur besonders gut darin, Clips auf Youtube zu stellen und in sozialen Netzwerken zu verbreiten. Deswegen erreichen sie die junge Generation zielgenauer als die traditionellen, westlichen Medien.
Sie haben jetzt auch eine Zweitwohnung in Berlin. Warum gerade hier?
Deutschland ist für viele Whistleblower oder „digitale Dissidenten“, wie wir sie nennen, sehr attraktiv. Das hat mit der hiesigen Verfassung zu tun, sicher auch mit den historischen Erfahrungen der Gestapo und der Stasi. Die Gesetze schützen die Bürger heute vor Eingriffen in ihre Privatsphäre, wie sie in totalitären Staaten üblich sind. Auch die Hackerkultur um den „Chaos Computer Club“ ist ein natürlicher Sammelpunkt. Allerdings beunruhigt mich der starke Einfluss der NSA auf den BND, welcher übrigens Schnüffelprogramme wie XKeyscore mitentwickelt hat. Das macht Deutschland immer weniger attraktiv.
Das Interview führte Petra Sorge.
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