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IS-Terror im Irak - Der Westen muss zum Kalten Krieg übergehen

Die USA gehen gegen die IS-Terroristen im Nordirak mit Luftangriffen vor. Auch andere Nato-Staaten sollten sich an der Militäraktion beteiligen, findet der Politikwissenschaftler Heinz Theisen. Denn gegen den Islamismus helfe nur eine Strategie aus dem Kalten Krieg: Eindämmung und Koexistenz

Autoreninfo

Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaften. Seit 2005 ist er Gastprofessor an der Universität Bethlehem. 2017 erschien sein Buch „Der Westen und die neue Weltordnung“ bei Kohlhammer.

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Wenn man das Schicksal von Juden und Christen im Nahen und Mittleren Osten betrachtet, zeigen sich erstaunliche Parallelen.

Mit der Staatsgründung Israels 1948 war es um das Verbleiben der Juden in der arabischen Welt geschehen. Sie wollten und mussten ihre angestammte Heimat verlassen und sich in Israel ansiedeln. Heute sind die Christen die Vertriebenen: Nach rund zweitausend Jahren, in denen sich orientalische Orthodoxe (Armenier, Syrier, Kopten und Äthiopier), Griechisch-Orthodoxe, Katholische Kirchen des Ostens (Maroniten, Melikiten, Chaldäer), Lateiner, verschiedene Evangelische Kirchen und freikirchliche Vereinigungen in der Region behauptet haben, neigt sich die Zeit des Christentums ihrem Ende.

Verfolgung im Islamischen Staat  


Unter dem Terrorregime des „Islamischen Staates“ (IS) breitet sich ein neuer Totalitarismus aus: Bei den Eroberungen der IS-Horden in Syrien und im Irak wurden Kirchen, Klöster und schiitische Glaubensstätten geschändet, Andersgläubige entführt und ermordet. Die Christen in den eroberten Gebieten wurden vor die Wahl gestellt, Muslime zu werden oder ihre Häuser zu verlassen. Die Flüchtenden wurden an den Checkpoints ihrer Habseligkeiten beraubt und hausen jetzt mittellos in Schulen und öffentlichen Gebäuden Bagdads. Im irakischen Mosul, in dem vordem 25.000 Christen lebten, gibt es heute – erstmals seit 1600 Jahren – keine Christen mehr. Nach der Übernahme der Stadt Sindschar sind zudem Tausende Jesiden in die nahen Berge geflüchtet und werden dort von den Terrormilizen umzingelt.

US-Präsident Barack Obama genehmigte Luftangriffe für den Fall, dass die sunnitischen Extremisten gegen US-Einheiten in der Stadt Erbil vorgehen. Am Donnerstag warfen Militärflugzeuge die ersten Bomben über Nordirak ab.

Der „Islamische Staat“ ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Extremistische Dschihadisten und Terrorgruppen machen sich in den letzten Jahrzehnten mit zunehmenden Erfolg im Nahen Osten breit. Der kämpfende Islamismus erstreckt sich bis in die kaukasischen Republiken, in die halbautonomen russischen Randgebiete und über die Uiguren bis nach China. In Afrika und Asien vermehren sich islamistisch motivierte Kämpfe in Mali, Senegal, Nigeria, Kenia, Tansania, Sansibar und Madagaskar wie bei einem Dominoeffekt. In Asien rückt der Islamismus in Pakistan, Nordindien, Afghanistan, Syrien und dem Irak vor. In Ländern wie Malaysia und Indonesien ist die frühere religiöse Toleranz dahin.

Im Norden  von Syrien und dem Irak nutzten die Islamisten ihre Chance für die Gründung eines Kalifats, in dem religiöse und politische Herrschaft zusammenfallen sollen. Erschreckend ist die Wehrlosigkeit gegenüber den nur etwa 15.000 Kalifatskämpfern. Zu ihnen gehören etwa 1000 Krieger aus der Türkei, ein Hinweis auf die Internationalität der Bedrohung.  Erschreckend ist auch, wie leicht sich diese Dschihadisten mit lokalen Stämmen und Ex-Militärs der Armee Saddam Husseins zu einer Koalition des Grauens zusammenfinden. Dass ihnen die reguläre irakische Armee mit ihren 300.000 Soldaten keinen Einhalt gebieten kann, sollte denjenigen zu denken geben, für die es sich bei militanten Islamisten um „verschwindend geringe Minderheiten“ handelt.

Schleichende Verfolgungen  


Der neuen Christenverfolgung stehen schleichende Formen der Verfolgung gegenüber, die mit zermürbender Diskriminierung einhergehen. Zermürbend ist vor allem die Angst vor einer Machtübernahme von Islamisten, die gerade jüngere Christen zur Auswanderung bewegt.

Im einstmals christlichen Libanon stehen den 84 Prozent Christen von 1926 heute nur noch 30,3 Prozent Christen gegenüber. Um 1900 waren noch etwa 30 Prozent der Palästinenser Christen. Heute sind es in den palästinensischen Gebieten nur noch 1,37 Prozent der Bevölkerung. Hunderttausende Kopten haben in Ägypten das Land verlassen. Für die Verbleibenden erwies sich die Machtübernahme des säkularen Militärs als begrüßenswerter Schutz vor den zuvor regierenden Muslimbrüdern und Salafisten.  

Halbe Anerkennung der Christen: Koexistenz statt Integration

 
Die frühere Koexistenz zwischen Muslimen und Christen hatte wenig mit den Idealen von Integration und Interkulturalität zu tun, mit denen heute die Europäer den Zusammenprall der Kulturen in einen Regenbogen verwandeln wollen. Schon der Begriff „Integration“ ist im Nahen Osten ungebräuchlich. Sie gibt es nicht einmal zwischen Schiiten und Sunniten.

Der Islam hatte immer ein zwiespältiges Verhältnis zu Juden und Christen gepflegt. Sie gelten im Islam als Empfänger der biblischen Offenbarung, die sich allerdings nicht entschließen konnten, die endgültige Offenbarung, den Islam, anzunehmen. Sie sind den Muslimen nicht ganz fremd, haben aber keine volle Gemeinschaft mit ihnen. Der Koran schreibt vor, Juden und Christen nicht zu integrieren. „O ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden. Sie sind untereinander Freunde. Wer von euch sie zu Freunden nimmt, gehört zu ihnen…“ (5,51).

Diese halbe Anerkennung als Andersgläubige durchzieht das Verhältnis des Islams zu den „Schriftgläubigen“ bis in die Gegenwart. Sie ermöglicht eine Strategie, die man durchaus als „clever“ bezeichnen muss. Alles Nützliche wird von den „Schutzbefohlenen“ angenommen, ob in Form ihres Know-how, von Schutzgebühren und Sondersteuern, von Entwicklungshilfe oder Integrationsbemühungen. Die Doppelstrategie von Distanz und Nutzung zeigt sich auch darin, dass Muslime christliche Frauen heiraten dürfen, da die Kinder Muslime sein werden. Umgekehrt ist den muslimischen Frauen das Fremdheiraten untersagt.

Unterschiedliche Maßstäbe gelten auch für Kritik und Selbstkritik. In der islamischen Welt löste eine Mohammed-Karikatur in einer dänischen Zeitung 2005 eine Empörungswelle aus, die 139 Tote forderte. Zu den Christenverfolgungen war bisher – auch von den vielen gemäßigten und friedlichen Islamverbänden in Deutschland – kaum eine Reaktion zu vernehmen.  

Demokratisierung des Orients?  


Die Islamisierungsschübe folgten jahrelanger westlicher Dominanz, Kolonialismus und den mit Interventionen einhergehenden Universalisierungen westlicher Strukturen. Der strikt säkulare Kemalismus und das Schah-Regime haben umso heftigere Islamisierungen  hervorgetrieben. Mit dem „Krieg gegen den Terror“, durch die Interventionen in Afghanistan, in den Irak und in Libyen verstrickte sich der Westen noch tiefer in die inneren Kulturkämpfe, Konfessionskriege und Stammesfehden des Orients.

Auch die neuen Christenverfolgungen sind aus dem Zusammenprall der Kulturen zu erklären. Es grenzt ans Absurde, dass die vom Westen demokratisierten Länder Irak und Afghanistan auf Platz vier und fünf und das mit dem Westen verbündete Saudi-Arabien auf Platz sechs der Verfolgerliste stehen. Die Todesstrafe für Konvertiten wurde in Afghanistan vom frei gewählten Parlament eingeführt. Im Irak wurden die einstmals 1,5 Millionen meist chaldäischen Christen als „Freunde des Westens“ schon vor dem Entstehen des Islamischen Staats geradezu dezimiert, nicht vom irakischen Staat, sondern von sunnitischen Islamisten, denen gegenüber der Staat ohnmächtig war. Nach neuesten Schätzungen sollen weniger als 200.000 Christen im Irak leben. Es ist eine Schande, wie wenig Aufmerksamkeit dieser „Kollateralschaden“ bei den für die Interventionen verantwortlichen Regierungen im Westen gefunden hat.

Die ideologische, fast schon religiöse Fixierung auf „die Demokratie“ übersieht, dass die parlamentarische Parteiendemokratie in Clankulturen oft mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Die liberale Demokratie ist eine kulturgebundene und nur in bestimmter Reihenfolge zu realisierende Errungenschaft. Sie ist gewissermaßen das Dach, welches nicht vor den Stockwerken Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft aufgesetzt werden kann. Vorzeitige Demokratisierungen erweisen sich für die Christen im Orient jedenfalls als Tragödie. Wo das Mehrheitsprinzip nicht mit dem Schutz von Minderheiten verbunden ist, sind ethnische oder religiöse Minderheiten gefährdeter als in säkularen Diktaturen.

Vom westlichen Universalismus zur Eindämmung und Koexistenz


Im Rückblick erweisen sich – vergleichbar dem Kalten Krieg – selbst autoritäre Diktaturen als das kleinere Übel gegenüber den totalitären Bewegungen der Islamisten. Insofern hätte der Militärputsch in Ägypten gegen die Muslimbrüder vom Westen begrüßt und nicht verurteilt werden sollen. Und eine künftige Interventionspolitik sollte sich statt um demokratisches Nation Building vor allem um den Schutz von Minderheiten, etwa durch eine Eindämmungsstrategie, bemühen.

Das Zeitalter der interkulturellen Illusionen ist vorbei. Jenseits einer bloßen Eindämmung des Islamismus wird sich der Westen mit einer Koexistenz selbst mit dem gemäßigten Islam zufrieden geben müssen. Mehr als neue Formen der Koexistenz ist auch für die Christen des Orients nicht zu erhoffen. Diese könnte der Westen fördern, indem er den meist sozial engagierten Minderheiten wie insbesondere den Christen hilft. Etwa in Palästina tragen sie einen überproportionalen Anteil an sozialer Arbeit und Bildung der Regionen und werden darüber respektiert oder zumindest geduldet.

Mit dieser nüchternen und defensiven Strategie befände sich der Westen auf dem vertrautem Terrain des Kalten Krieges, in dem weder Interventionen noch dritte Wege, sondern Eindämmung und Koexistenz den Westen zu behaupten und den Weltfrieden zu bewahren vermocht haben. Die Demokratisierung blieb den Völkern selbst aufgetragen.

Konturen einer neuen Eindämmungsstrategie gegenüber dem Islamismus zeichnen sich heute in Afrika ab, wo der Islamismus gegenüber christlichen Ländern und säkularen Regimen vordringt. Als in Nigeria der Kampf gegen die Christen zur Versklavung christlicher Frauen genutzt wurde, erregte dies selbst im Westen Aufsehen. Frankreich hat sich zu Recht aus Afghanistan zurückgezogen, weil dort keine westlichen Interessen verteidigt werden. Statt dessen wandte es sich der Eindämmung des Islamismus in Afrika zu. In Mali werden nicht demokratische Strukturen, sondern die Minima der Zivilisation verteidigt. Und in der Zentralafrikanischen Republik werden die Christen durch die koordinierten Anstrengungen der Franzosen und der Regierung geschützt.

Das Vordringen des Islamismus erzwingt ganz neue Bündnisse. Gegenüber dem sunnitischen Dschihadismus konvergieren plötzlich sogar die Interessen des Irans und der USA darin, der mehrheitlich von Schiiten gewählten Regierung in Irak beizustehen. In der Not finden die um ihre Pfründe gebrachten lokalen Sunniten, frühere schiitische Terrorgruppen, kurdische Peschmerga, Malikis gefürchtete Sondereinheiten und Elitetruppen aus dem Iran zusammen – und werden von Drohneneinsätzen der USA unterstützt. Eine unheimlichere Koalition gegen den Islamischen Staat lässt sich kaum vorstellen.

Trotzdem sollten derartige Bündnisse für den Schutz religiöser Minderheiten geschlossen werden, wo immer diese möglich sind. Entsprechende Anstrengungen gehören in den Mittelpunkt einer westlichen Außenpolitik: Kurzfristig muss unabdingbar die Zivilisation selbst verteidigt werden. Um universelle Werte darf es dabei allenfalls langfristig um gehen.

Fast 200.000 Menschen sind in den vergangenen Tagen nach UN-Angaben im Irak vor den Extremisten geflüchtet. Die Ebene von Ninive ist von den angestammten Christen entvölkert. Auch Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden sind auf der Flucht. 50.000 Menschen droht der Hungertod, eine humanitäre Tragödie zeichnet sich ab. Selbst die kurdische Peschmerga-Armee erweist sich den vorrückenden Islamisten gegenüber als zu schwach. In dieser Situation sind Luftschläge der Amerikaner zur Eindämmung der IS-Truppen geradezu eine humanitäre Pflicht. Im Grunde müssten sich alle Nato-Staaten, die durch ihre Intervention von 2003 für die Zerstörung des Iraks mitverantwortlich sind, jetzt an der Eindämmung des Islamischen Staates beteiligen. Dass sich unterdessen der Iran bereit erklärt hat, geflüchtete Christen in seinem Staat aufzunehmen, signalisiert wiederum eine dramatische Änderung der politischen Lage. Die gilt es jeneits alter Konflikte zu nutzen.

Aktualisiert um 16:00 Uhr

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