- Großbritanniens letzter Europäer
Der britische Staatsminister für Europafragen David Lidington ist einer der wenigen überzeugten Europäer in der konservativ-liberalen Koalition. Er gilt als mäßigender Einfluss auf Premier David Cameron
Die Fragen gefallen ihm nicht. Unruhig rutscht David Lidington auf seinem Stuhl hin und her, beugt sich vor und zurück, versucht, dem Interviewer ins Wort zu fallen. Diesmal ist es der knallharte EU-Feind Andrew Neil, dem sich Großbritanniens Staatsminister für Europafragen zum BBC-Kreuzverhör gestellt hat. Aber die Szene wiederholt sich derzeit in London immer wieder, ob der 56-Jährige mit EU-Botschaftern spricht, ausländischen Korrespondenten die Politik seiner Regierung erklärt oder diese im Fernsehen verteidigt. Stets gibt sich Lidington irritiert, fast beleidigt, wenn die Fragesteller immer und immer wieder die zukünftige Zugehörigkeit seines Landes zum Brüsseler Club infrage stellen. „Wir wollen ein führendes, positives Mitglied sein“, sagt Lidington dann und fungiert als Echo seines Premierministers. „David Cameron hat keinen Geheimplan, mit dem er Großbritannien aus der EU bugsieren will.“
Nein, geheim sei der Plan keineswegs, erwidern die Spötter in London: 40 Jahre nach dem Beitritt zur EWG am 1. 1. 1973 steuere die Insel beinahe schlafwandlerisch auf den Ausgang zu. Der konservative Parteichef Cameron will über Kompetenzverlagerungen von Brüssel in die nationalen Hauptstädte zunächst verhandeln und spätestens 2017 das Volk abstimmen lassen. Das setzt nicht nur die Wahl der Tories mit absoluter Mehrheit beim nächsten Urnengang im Frühjahr 2015 voraus, was angesichts der Umfragen so wahrscheinlich erscheint wie die baldige Abdankung Elizabeths II. Notwendig ist auch das Entgegenkommen der 26 Verbündeten. Die müssen verhandeln wollen und Zugeständnisse gewähren, andernfalls macht die erste Volksabstimmung seit 1975 wenig Sinn.
Auch damals ging es um Europa. Der heutige Premierminister (Jahrgang 1966) war noch nicht stimmberechtigt, der 1956 geborene Lidington hingegen schon. Wie die Parteiführung unter der damals frisch gewählten Margaret Thatcher gab der Jung-Tory der EWG sein Ja-Wort, anders als Thatcher hat Lidington an seiner grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Europa festgehalten. Er sammelte Erfahrung bei global operierenden Firmen wie dem Ölkonzern BP und der Bergbaugesellschaft Rio Tinto, orientierte sich innerparteilich am liberalen Flügel und heuerte mit 30 als Sonderberater bei Douglas Hurd an. Der Chef, ab 1989 Außenminister, stellte die Inkarnation der alten Tory-Party dar: patrizierhaft, pragmatisch, problemorientiert – und zutiefst davon überzeugt, man müsse mit dem Kontinent zusammenarbeiten.
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An diesen Prinzipien orientiert sich Lidington bis heute, gehört damit nach 20 Jahren Unterhaus-Zugehörigkeit für den Wahlkreis Aylesbury (Grafschaft Buckinghamshire) aber einer kleinen Minderheit an. Im Koalitionskabinett sitzt auf konservativer Seite gerade noch ein einziger Pro-Europäer, der 72-jährige Ken Clarke als „Minister ohne Geschäftsbereich“. Jüngere Weggefährten Lidingtons wie Damian Green oder David Willetts stecken wie er selbst auf der Ebene der politischen Staatssekretäre fest. Effizient verrichten diese Liberalkonservativen ihre Arbeit und üben ihren europafreundlichen Einfluss hinter den Kulissen aus – schon allein, um das überwiegend EU-feindliche Parteivolk im Ortsverband nicht zu vergrätzen.
Nach der Parlamentswahl 2010 hatte der neue Premier Cameron ursprünglich einen strammen EU-Skeptiker als Staatsminister für Europa in die Brüsseler Konferenzsäle schicken wollen. Dass Lidington den Posten erhielt, war dem liberaldemokratischen Koalitionspartner geschuldet. Seither hat der promovierte Renaissance-Historiker die Gesprächspartner vom Kontinent ebenso wie seine Vorgesetzten Cameron und Außenminister William Hague durch Detailkenntnis und Verhandlungsgeschick beeindruckt, durfte deshalb bei der umfassenden Regierungsumbildung im Herbst auch seinen Job behalten.
Nun muss er unentwegt die Gratwanderung seines Parteichefs und die britischen Forderungen verteidigen: Die EU brauche schon deshalb neue Reformen, weil die wirtschaftlichen Nöte der Eurozone deren engere Kooperation notwendig machen, gleichzeitig sich aber eine Reihe von EU-Mitgliedern dauerhaft nicht an der Gemeinschaftswährung beteiligen will. Außerdem müssten alle Europäer ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern, damit sie der Dynamik aufstrebender Giganten wie China, Indien oder Brasilien standhalten können. Wie diese logisch klingenden Argumente auf dem Kontinent ankämen, wird der Vater von vier Söhnen gern gefragt. Tapfer antwortet Lidington: „Aus meinen Gesprächen höre ich durchaus ein Bedürfnis nach einer demokratischen Debatte heraus.“
Wenn er sich da mal nicht täuscht. Genüsslich kolportieren die Zeitungen wegwerfende Bemerkungen deutscher Diplomaten, ihre Termine mit den britischen Kollegen kämen derzeit „Therapiesitzungen“ gleich. Die Regierung der Niederlande, wo David Cameron ursprünglich seine Rede halten wollte, hat sich öffentlich von jeglicher Verweigerungshaltung distanziert. Auch Camerons politischer Busenfreund Fredrik Reinfeldt (Schweden) unterscheidet strikt zwischen legitimer Interessenwahrung, etwa im Streit um den zukünftigen EU-Haushalt, und den dauernden Störgeräuschen aus London.
Kein Zweifel: David Lidington hat einen der schwersten Jobs der konservativ-liberalen Koalition. Immerhin weiß der Mann, wovon er redet – auch wenn er dabei nervös herumrutscht.
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