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Griechenland - Die acht Fragen zur Krise

Mit der überraschenden Ankündigung eines Referendums hat Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras die Verhandlungen mit der Eurozone torpediert. Ein Austritt Griechenlands aus der Gemeinschaftswährung ist zwar noch nicht beschlossen, scheint aber unvermeidbar. Cicero beantwortet die acht wichtigsten Fragen zur Griechenlandkrise

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1. Hat die Rettungspolitik Merkels versagt? Gibt es einen Plan B?

Die Ankündigung des Referendums hat Angela Merkel und die Bundesregierung völlig überrascht. Die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble waren fest davon ausgegangen, dass auch die letzten und aus Sicht der Eurogruppe minimalen Differenzen mit der griechischen Regierung am Wochenende ausgeräumt werden könnten. Umso verärgerter war vor allem Schäuble, dass die Griechen weiter mit gezinkten Karten spielen. Jetzt ist viel von einem Plan B die Rede. Von einem Plan also, wie Griechenland geordnet aus dem Euro aussteigen könne. Doch in Wirklichkeit gibt es diesen Plan B nicht. Es gibt allenfalls die Ahnung, dass ein unkontrollierter Zusammenbruch der griechischen Banken und der griechischen Wirtschaft für Europa ebenfalls ziemlich teuer wird.

Hektisch wird deshalb nun nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin nach einer Lösung gesucht. Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel hat seine Israelreise abgesagt. Merkel hat die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien ins Kanzleramt geladen. Vermutlich wird auch nach dem offiziellen Ende der Gespräche die ganze Woche zumindest inoffiziell weiter verhandelt. Solange die Banken in Griechenland geschlossen sind und das Plebiszit in Griechenland nicht stattgefunden hat, ist es in der Tat sinnvoll, weiter nach einer Verständigung zu suchen. Die Last-Minute-Lösung darf jedoch nicht wie ein fauler Kompromiss aussehen. Einerseits muss Merkel also betonen, dass das Papier von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das letzte Angebot der Eurozone ist. Andererseits muss sie die Griechen irgendwie zurück an den Verhandlungstisch holen. Auch wenn das Agieren seiner Syriza-Regierung immer erratischer erscheint.

Offiziell sagte die Kanzlerin nach dem Ende der Unterrichtung im Kanzleramt zwar, jetzt sind die Griechen am Zuge. Ein Referendum sei deren „legitimes Recht“, dessen Ergebnis werde man respektieren. Niemand wolle das griechische Volk von außen beeinflussen. Aber es sei auch das legitime Recht der übrigen Euro-Staaten sich dazu zu verhalten. Dabei seien Eigenverantwortung und Solidarität „zwei Seiten derselben Medaille“. Die Tür für weitere Verhandlungen steht aus Sicht der Kanzlerin also weiter offen, vor allem dann, wenn die Griechen am kommenden Sonntag mit „Ja“ stimmen.  „Wenn uns jemand sprechen will, sind wir jederzeit zu sprechen“, so Merkel.

Merkels Botschaft an die Griechen ist klar. Ein „Nein“ der Griechen in dem Referendum wäre eine Entscheidung gegen den Euro. Aber anders als vor 5 Jahren gefährde das die Eurozone nicht mehr insgesamt. „Europa kann robuster auf eine solche Situation reagieren.“ Europa kann eher ohne Griechenland als Griechenland ohne den Euro. Ob soviel Gelassenheit jedoch tatsächlich angebracht ist, müsste sich allerdings erst noch erweisen.

Merkel ist und bleibt Gefangene ihrer eigenen Euro-Rettungspolitik. Die Kanzlerin hat lange die Augen vor der griechischen und europäischen Realität verschlossen. Alle Experten wissen seit Langem, dass es ohne einen Schuldenschnitt für Griechenland nicht geht, dass das Land seine immensen Schulden nie wird zurückzahlen können. Doch einen solchen Schuldenschnitt hat Merkel mit Rücksicht auf die deutsche Innenpolitik immer abgelehnt. Zweitens weiß sie seit Monaten, dass ein drittes Rettungspaket unvermeidlich ist, von dem mit Rücksicht auf die Stimmung in der eigenen Bundestagsfraktion in der Bundesregierung bislang nur hinter vorgehaltener Hand die Rede war. Und alle Beteiligten wissen drittens, dass eine einseitige, nur auf Kostenreduzierung setzende Sparpolitik Griechenland nicht wieder auf die Beine verhilft. Griechenland braucht einen europäischen Marshallplan. Diese drei Tatsachen nicht klar auszusprechen und Europa darauf vorzubereiten, das ist das zentrale Versagen der Kanzlerin in der Eurokrise. Auch wenn es die griechische Regierung Merkel in den letzten Monaten wahrlich nicht einfach gemacht hat.

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2. Worüber wird beim geplanten Referendum eigentlich abgestimmt?

Die Europäische Kommission hat an diesem Sonntag eine Liste mit Maßnahmen und Reformvorschlägen veröffentlicht, die die „Institutionen“ (EZB, IWF, Kommission) von der griechischen Regierung umgesetzt sehen möchten. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein abgeschlossenes Dokument, sondern spiegelt lediglich die letzte Verhandlungsposition der Geldgeber wider. Die Verhandlungen selbst wurden von der griechischen Regierung am Freitagabend ausgesetzt.

So soll den Institutionen zufolge der griechische Primärüberschuss von einem Prozent im Jahr 2015 (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) schrittweise auf 3,5 Prozent im Jahr 2018 gesteigert werden. Ebenfalls vorgesehen ist eine Reform des Mehrwertsteuersystems. Der normale Mehrwertsteuersatz soll bei 23 Prozent liegen, das gilt auch für Restaurants (bisher 13 Prozent). Ein reduzierter Mehrwertsteuersatz von 13 Prozent würde für Grundnahrungsmittel, Energie, Hotels und Wasser gelten; mit sechs Prozent würden Pharmaprodukte, Bücher und Theater besteuert. Die auf den griechischen Inseln geltenden Steuervergünstigungen sollen abgeschafft werden. Eine Revision dieser Maßnahmen ist für Ende nächsten Jahres vorgesehen. Generell sollen Steuerschlupflöcher gestopft und Privilegien abgeschafft werden, insbesondere im Reedereiwesen. Die Besteuerungsbasis soll erweitert, das Steuersystem vereinfacht, die Steuerverwaltung modernisiert werden.

Die Körperschaftssteuer würde um zwei Punkte auf 28 Prozent erhöht, eine Steuer auf Fernsehwerbung eingeführt. Freizeityachten mit einer Länge von mehr als zehn Metern sollen mit einer Luxussteuer belegt werden.

Das griechische Rentensystem ist den Institutionen zufolge ineffizient und dringend reformbedürftig. Angestrebt ist eine Erschwernis für Frühverrentungen, das Renteneintrittsalter soll schrittweise auf 67 Jahre angehoben werden (beziehungsweise 62 Jahre bei 40 Jahren Beitragsleistungen). Der Kreis der Beitragszahler soll erweitert werden, etwa um die Selbständigen; generell wird eine stärkere Koppelung der Renten an die jeweiligen Beitragsleistungen angestrebt. Die Sozialleistungen sollen dauerhaft überprüft werden, um Gerechtigkeit bei den Reformmaßnahmen zu gewährleisten.

Ferner schlagen die Institutionen eine Verminderung der Militärausgaben um 400 Millionen Euro im Jahr vor; das entspräche einer Kürzung um rund zehn Prozent. Verlangt wird außerdem eine Strategie gegen die Korruption und Stärkung des Statistischen Amts. Angestrebt ist eine unwiderrufliche Privatisierung der Regionalflughäfen, der Eisenbahngesellschaft und der Häfen von Piräus, Thessaloniki und Hellinikon.

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3. Was passiert bei einem Ja der Griechen, was passiert bei einem Nein? Ist die Tsipras-Regierung dann noch zu halten?

Wenn die Griechen bei der Volksabstimmung entgegen der Empfehlung der Regierung Tsipras mehrheitlich mit "Ja" stimmen, dann müsste die Koalition begreifen, dass sie ein halbes Jahr nach Amtsantritt gescheitert ist und zurücktreten. Jedenfalls wäre das die logische Konsequenz in einem politisch normal tickenden Land. Das Votum käme dann einem Misstrauensvotum gegen die Regierung gleich. Neuwahlen wären zwingend. Sagt die Bevölkerung aber „Nein“, dann könnte sich die Ultra-Links-Ultra-Rechts-Koalition in ihrem Kurs bestätigt fühlen. Ein Kurs, der dann unweigerlich in den Grexit führte, weil die Gläubiger, die Troika aus Eurogruppe, EZB und IWF dann den Geldhahn zudrehten.

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4. Kann Griechenland bei einem Staatsbankrott Mitglied der Währungsunion bleiben?

Juristisch lässt sich diese Frage eindeutig beantworten: Nach dem Maastricht-Vertrag ist ein Austritt eines Landes aus der Währungsunion nicht vorgesehen. Im Wortlaut heißt es, der Beitritt zum Euro sei „unumkehrbar“. Ein Hintertürchen gibt es: Griechenland tritt nach Artikel 50 des EU-Vertrags aus der Europäischen Union aus. Das hätte automatisch zur Folge, dass das Land auch nicht mehr Mitglied der Währungsunion wäre. Anschließend könnte Griechenland mit Zustimmung der anderen Länder wieder in die EU eintreten, ohne Mitglied der Währungsunion zu sein.

Politisch ist die Frage komplizierter: Bislang betonen öffentlich sowohl die Tsipras-Regierung, als auch die anderen Vertreter der Eurogruppe, dass Griechenland Mitglied der Währungsunion ist. Das liegt aber vor allem daran, dass alle Beteiligten versuchen, die politische Verantwortung für die aktuelle Krise der anderen Seite zuzuschieben.

Gleichzeitig läuft nach jetzigem Stand das Hilfspaket der Geldgeber für Griechenland am 30. Juni aus. Die Europäische Zentralbank hat zudem am Sonntag beschlossen, dass sie die Notkredite für die griechischen Banken nicht erhöhen wird. Auch die fällige Zahlung an den IWF in Höhe von 1,6 Milliarden Euro werden die Griechen bis morgen nicht leisten können. Das bedeutet, dass Griechenland in Kürze zahlungsunfähig ist. Wenn das Land und seine Banken keine neuen Euros mehr erhalten, müsste die griechische Zentralwährung eine Parallelwährung einführen. Das wäre der Anfang des Ausscheidens Griechenlands aus der gemeinsamen europäischen Währung.

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5. Wie liefe der Austritt aus der Währungsunion praktisch ab?

Es gibt keinen Präzedenzfall für einen Grexit. Eine Staatspleite mit Austritt aus einer Währungsunion hat es noch nie gegeben. Die Volkswirte der Investmentbank Goldman Sachs gehen von einem komplexen Prozess mit „vielen Grautönen“ aus, bis Griechenland endgültig nicht mehr Teil der Währungsunion ist.

Das Geld wird in Griechenland wohl nicht von einem Tag auf den anderen ausgehen, weil die Griechen seit November 2014 mehr als 30 Milliarden Euro von Ihren Konten abgezogen haben. Nach Schätzungen horten die Griechen 20 Milliarden Euro in bar. Auch die Gehälter der Beamten, der staatlichen Angestellten sowie die Renten sind für diesen Monat bezahlt worden, wenngleich unklar ist, ob das in voller Höhe geschehen ist.

Um einen abrupten Zusammenbruch des griechischen Bankensektors durch einen Bank Run zu verhindern, hat die griechische Regierung am Sonntagabend beschlossen, dass alle Banken des Landes diese Woche geschlossen bleiben. Am Geldautomaten können pro Tag nur noch 60 Euro abgehoben werden. Außerdem werden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, um eine weitere Kapitalflucht ins Ausland zu verhindern.

In der Studie von Goldman Sachs gehen die Autoren davon aus, dass es in Griechenland zu einer „Euroisierung“ kommt. Ähnlich wie in Montenegro oder im Kosovo bleibt der Euro auch nach einem Grexit de facto Zahlungsmittel in Griechenland neben der neu einzuführenden Drachme.

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6. Wie hoch sind die griechischen Schulden? Wem schulden sie was? Wer haftet? Wie hoch ist der Anteil Deutschlands?

Die Staatsverschuldung Griechenlands lag nach Angaben von Eurostat 2014 bei 317 Milliarden Euro. Das waren 177 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – der höchste Wert in der Eurozone. Zum Vergleich: In Deutschland betrugen sie im gleichen Jahr rund 75 Prozent (in Euro: 2,17 Billionen).

Bislang hat es zwei Hilfspakete für Athen gegeben. Das erste lief von Mai 2010 bis Juni 2013 und hatte einen Umfang von 110 Milliarden Euro. Davon entfielen rund 80 Milliarden auf die Euro-Mitgliedstaaten, die über Kredite der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität EFSF ausgegeben wurden, sowie 30 Milliarden auf den IWF.

Weil Griechenland aber immer noch nicht aus der Schuldenfalle herauskam, einigten sich die Finanzminister der Eurozone im März 2012 auf ein zweites Hilfsprogramm: 164 Milliarden Euro bis Ende 2014. Darunter entfielen rund 144 Milliarden Euro auf die Euroländer, 20 Milliarden auf den IWF. Zugleich wurde ein Schuldenschnitt für Griechenland vereinbart. Private Gläubiger wie Banken, Fondsgesellschaften und Versicherer kamen auf diesem Weg für rund 200 Milliarden Euro auf.

Deutschland selbst haftet für Kredite im Wert von mehr als 50 Milliarden Euro. Für den Fall, dass Griechenland alle Zahlungen an die Gläubiger einstellt, kommen noch weitere Kosten auf den Bundeshaushalt zu: Dann müssten die deutschen Steuerzahler auch für ausfallende griechische EZB-Anleihen aufkommen.

Allerdings erwartet Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bislang keine unmittelbaren Ausfälle. Sein Etatentwurf bis 2019, den er dem Kabinett am Mittwoch vorlegen wird, enthält keine Rückstellungen für den Fall einer Griechenland-Pleite. Selbst bei einem endgültigen Scheitern der Verhandlungen kämen auf den Bundeshauhalt  erst mit Verzögerungen Belastungen zu und das auch nicht auf einen Schlag, hatte das Bundesfinanzministerium diese Entscheidung gegenüber der „Berliner Zeitung“ am Freitag begründet.

ps

7. Was bedeutet der Grexit für den europäischen Finanzsektor?

Der Dax lag zwar heute anfangs mit vier Prozent im Minus, von Panik an den Märkten kann aber nicht die Rede sein. Seit dem Beginn der Eurokrise ist viel passiert. 2010 haben Europas Politiker die drohende Pleite Griechenlands immer mit dem Fall der US-Investmentbank Lehman Brothers verglichen. Deren Insolvenz hatte die Märkte weltweit ins Taumeln gebracht.

Doch seitdem ist viel passiert. „Die europäischen Banken haben ihr Engagement in Griechenland in den letzten Jahren massiv zurückgefahren", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Eine Ansteckung anderer kriselnder Euro-Staaten durch Griechenland sei heute unwahrscheinlich, sagt Krämer, weil „Griechenland politisch und wirtschaftlich ein Sonderfall ist“. Auch Holger Schmidt, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, sagt, dass Länder wie Italien und Spanien dank ihrer Wirtschaftsreformen wesentlich besser dastünden und weniger anfällig seien als zu Beginn der Eurokrise.

Insgesamt hat sich die Stabilität der Eurozone in den vergangenen Jahren verbessert. Die Bankenaufsicht liegt bei der EZB, die zentral die Auswirkungen eines Grexit für den europäischen Bankensektor überwachen kann. Die Ansteckungsgefahr wurde auch durch den Aufbau des Euro-Rettungsschirms ESM und den Bankenabwicklungsmechanismus erheblich vermindert.

tk

8. Welche Konsequenzen hätte der Grexit für die griechische Wirtschaft?

Nach einem Ausstieg aus der Währungsunion hätte Griechenland zunächst keine konkurrenzfähige Währung mehr. Die neue Drachme würde gegenüber dem Euro massiv an Wert verlieren, Experten gehen von einer Abwertung von bis zu 50 Prozent aus. Kurzfristig würden Importprodukte wie Benzin, Medikamente, Rohstoffe, Vorprodukte oder Ersatzteile für griechische Unternehmen unbezahlbar. Dies könnte zu einer Pleitewelle importabhängiger Unternehmen auslösen. Schon ein kaputtes Ersatzteil könnte zur Insolvenz einer Firma führen, weil ausländische Firmen nur gegen Vorkasse in ein Bankrottland lieferten.

Langfristig hätte eine solche Abwertung aber auch Vorteile. Da die Importe teurer würden, müssten die Griechen mehr heimische Produkte kaufen. Dies könnte die eigene Wirtschaft ankurbeln. Die Abwertung führte auch zu einer automatischen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Exportunternehmen, weil ihre Produkte sich entsprechend verbilligten. Auch die für Griechenland so wichtige Tourismusbranche würde profitieren, weil das Land für Urlauber günstiger würde.

tk

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