- „Ich bin gegen den Beschuss von Schlepperbooten“
„Die Einstellung von Mare Nostrum war falsch.“ So deutlich äußert sich Entwicklungshilfeminister Gerd Müller im Cicero-Interview zur europäischen Flüchtlingspolitik. Doch das von ihm angebotene Geld will niemand haben
Herr Müller, sollte man jetzt Kriegsschiffe auffahren, um weitere Flüchtlinge im Mittelmeer zu verhindern?
Darum geht es doch gar nicht. Die EU nimmt die Seenotrettung wieder auf, das ist zunächst einmal ein wichtiger Schritt. Sie wissen, ich hatte es für falsch gehalten, „Mare Nostrum“ auslaufen zu lassen. Das Mittelmeer darf nicht der Friedhof Europas werden. Darüber hinaus müssen wir die Lage in den Herkunftsländern verbessern, das ist der eigentliche Schlüssel. Die Flüchtlingstragödie stellt die Entwicklungspolitik vor vollkommen neue Aufgaben. Wir brauchen eine konzertierte Aktion gegen die Fluchtursachen. Dazu ist ein Gesamtkonzept der EU für Afrika nötig. Von dem 315-Milliarden-Euro-Investitionspaket von EU-Kommissionspräsident Juncker wird es uns doch möglich sein, 10 Milliarden in ein Afrika-Stabilisierungsprogramm zu investieren. Das ist eine Seite – und die andere ist, dass alle europäischen Staaten solidarisch Flüchtlinge aufnehmen. Es kann nämlich nicht sein, dass fünf EU-Staaten 50 Prozent der Asylbewerber aufnehmen und die anderen sozusagen unten durch tauchen.
Gehört dazu aber auch Kanonenbootpolitik?
Ich bin gegen den Einsatz von Militär zum Beschuss von Schlepperbooten. Das ist kaum umsetzbar. Auch ist das Risiko viel zu groß, dass Flüchtlinge an Bord sind. Ich befürworte aber eine effektive Bekämpfung organisierter Schleuserbanden, die Millionen machen.
Wie soll die Bekämpfung dann aussehen?
Wir müssen den Schlepperbanden das Handwerk legen, dazu sind geheimdienstliche und polizeiliche Aktionen möglich. Dazu brauchen wir in Libyen aber wieder staatliche Strukturen. Die sind allerdings nicht vorhanden. Deshalb habe ich angeregt, die libysche UN-Mission zu unterstützen. Dazu sollte die EU einen eigenen Libyen-Sonderbeauftragten benennen. Eine Million Flüchtlinge warten Schätzungen zufolge in Libyen auf eine Überfahrt über das Mittelmeer. Für diese Problematik müssen Lösungen erarbeitet werden.
Würden Sie denn – wie manche Kritiker – im Mittelmeer von „unterlassener Hilfeleistung“ sprechen?
Mare Nostrum einzustellen, war falsch. Ich habe selbst Hilfe aus meinem Etat bei der Finanzierung angeboten.
Sie haben sechs Millionen angeboten. Hat denn jemand nachgefragt, Ihr Angebot anzunehmen?
Nein.
Das ist ja verwirrend: Sie bieten Geld – und keiner fragt nach?
Es bestand nach der jüngsten Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer mit Hunderten Toten Einigkeit umzudenken und die Mittel für die Flüchtlingsrettung gemeinsam aufzubringen.
Man hat in der Debatte fast immer nur Innenminister Thomas de Maizière gehört. Fehlte Ihnen da die Durchsetzungskraft?
Die Forderung der europäischen Innenminister nach einer solidarischen Beteiligung aller EU-Staaten zur Aufnahme der Flüchtlinge ist richtig. Europa muss Handlungsfähigkeit zeigen. Deshalb habe ich bei der EU-Außenkommissarin und meinen Brüsseler Kollegen immer wieder Alarm geschlagen. Meine Forderung nach einer EU-Sondermilliarde für die Flüchtlingsregionen wurde aufgenommen. Leider musste es wieder zu einer Katastrophe mit fast 1.000 Toten kommen, um zu erkennen: Der Flüchtlingsstrom von Verzweifelten nach Europa wird uns über Monate, über Jahre beschäftigen. Für Millionen Menschen geht es ums nackte Überleben. Und deshalb sind sie auch bereit, ihr Leben bei einer Überfahrt über das Mittelmeer zu riskieren. Sie sehen in ihren Heimatländern keine Chance mehr für sich. Wer das immer wieder der Öffentlichkeit erzählt, beschreibt die Realität, eine Realität, die unbequem ist und die deshalb vielleicht nicht alle zu jederzeit hören wollen.
Wenn die EU 5.000 Flüchtlinge aufnimmt – ist das dann angemessen?
Deutschland hat bis jetzt über 100.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Deshalb können 5.000 für die 28 EU-Mitgliedsstaaten kein Angebot sein.
Humanität zeigen heißt für Sie also auch, mehr Flüchtlinge reinzulassen?
In Deutschland gibt es viel Humanität und Hilfsbereitschaft. Humanität sehen Sie aber auch in den Nachbarländern Syriens. In Libanon ist fast jeder Dritte ein Flüchtling, die Türkei hat mit 1,6 Millionen Syrern zahlenmäßig am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Hier gehen viele Städte und Gemeinden über die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Deshalb unterstützen wir sie auch nach Kräften. Im Libanon gehen mit Hilfe der deutschen Steuerzahler und Unicef 80.000 Kinder zur Schule. In Jordanien unterstützen wir bei der ohnehin schwierigen Wasserversorgung, im türkisch-syrischen Grenzgebiet verstärken wir im Bereich Handwerkerausbildung, damit die Flüchtlinge ihr Land wiederaufbauen können, wenn eine Rückkehr in ihre Heimat möglich ist. Wenn wir das alles nicht machen würden, wären noch viel mehr Flüchtlinge zu uns gekommen.
Was kann Entwicklungszusammenarbeit in einem Bürgerkriegsland wie Syrien noch retten?
Da rettet Entwicklungszusammenarbeit jeden Tag Tausende Menschenleben. Assad führt einen Krieg gegen sein Volk mit Methoden des Mittelalters. Er stellt Menschen in abgeschnittenen Regionen das Wasser ab. Das internationale Rote Kreuz und unsere Hilfsorganisationen leisten Nothilfe, wo sonst Hunderttausende verhungern und verdursten würden. Deutschland hat seit 2012 in Syrien und in den Nachbarstaaten mit über 1 Milliarde Euro mitgeholfen, die schlimmste Not zu lindern. Das ist ein herausragender Beitrag.
Sie nehmen die EU in die Pflicht, auch wenn es um Ihre Forderung nach einer Stabilisierung der afrikanischen Fluchtländer geht. Wie soll das konkret funktionieren?
Wir müssen uns die Hauptfluchtländer ansehen und dort Perspektiven vor allem für junge Menschen schaffen. In Ghana habe ich gerade ein Ausbildungszentrum besucht. Dort bilden wir Schlosser und Schweißer aus, in Liberia starten wir ein berufliches Ausbildungsprogramm für junge Mädchen. Solche Modelle müssen in ganz Afrika noch mehr Schule machen. Ausbildung und Infrastrukturaufbau müssen zum Kerngeschäft europäischer Entwicklungszusammenarbeit werden. Die EU muss deshalb ein Rückführungsprogramm für die Flüchtlinge organisieren, die in Libyen auf die Flucht nach Europa warten. Sie müssen Angebote bekommen, sich in ihrer Heimat eine Existenz schaffen zu können.
Rückführung? Sie wollen also die Menschen zurückschicken? Wie soll das funktionieren?
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sollte einen Kommissar dafür benennen. Dieser müsste dann auch mit den betroffenen Ländern Abkommen zur Rückkehr der Flüchtlinge schließen. Gleichzeitig müssen in diesen Ländern die Programme verstärkt werden und den Rückkehrern die Möglichkeit geboten werden, sich eine Existenz aufzubauen. Hier müssen wir auch eng mit rückkehrenden Fachkräften zusammenarbeiten, die ihre Ausbildung und ihr Studium in Europa absolviert haben und bereit sind, in ihre Heimatländer zurückzukehren. In Ghana haben wir zum Beispiel ein sehr erfolgreiches Rückkehrerprogramm. Die Mittel dafür sind im Europäischen Entwicklungsfonds vorhanden, müssten aber durch die Mitgliedsstaaten umgewidmet werden.
Tatsächlich will der Europäische Rat die Zusammenarbeit mit den Ländern Tunesien, Ägypten, Sudan, Mali und Niger ausbauen. In dem Gipfelbeschluss ist aber vor allem von Grenzkontrolle die Rede. Ist das die Art EU-Entwicklungspolitik, die Sie sich vorstellen?
Der Rat hat noch keine Antwort darauf gegeben, wie wir den Menschen Perspektiven geben, die sechs, acht Wochen Flucht hinter sich haben und an den Küsten auf eine Überfahrt über das Mittelmeer Richtung Europa warten. Hier brauchen wir ein Gesamtkonzept.
De Maizière hat europäische Asyl-Auffanglager in Nordafrika vorgeschlagen.
Es ist klar, dass wir die Probleme nicht allein in Deutschland lösen können. Die Menschen brauchen eine Perspektive in ihren Herkunftsländern.
Was stellen Sie sich vor?
Vor vier Jahren hat die Weltgemeinschaft Libyens Machthaber Gaddafi weggebombt. Dafür tragen wir bis heute die Verantwortung. Die Afrikanische Union steht hier natürlich genauso in der Pflicht wie die Arabische Liga mit Blick auf Syrien und den Irak. All das müssen wir in einem EU-Afrika-Gipfel besprechen, der auch noch in diesem Jahr stattfinden muss. Das Mittelmeer trennt uns nicht, es verbindet uns. Der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy hat vor zwölf Jahren eine „Mittelmeerunion“ angeregt. Daran sollten wir anknüpfen. Und die afrikanischen Staaten müssen hier ebenfalls ihrer Verantwortung gerecht werden.
Braucht die EU eine neue Afrika-Strategie?
Das Ziel muss eine Partnerschaft auf Augenhöhe sein. Ich muss das so sagen – viele internationale Konzerne haben diesen Kontinent ganz erheblich ausgebeutet: Öl, Kautschuk, Gold, Mineralien – kein Handy funktioniert ohne Coltan aus dem Kongo. Wir bieten diesen Ländern keine faire Entwicklungschance, denn wir bezahlen keine fairen Preise. Nehmen Sie Schokolade: An einer 100-Gramm-Tafel in Deutschland gestehen wir den Herstellern zwei Cent zu. Wären es vier Cent, würde das in allein in Ghana 120 Millionen Euro mehr für die Kakao-Produzenten ausmachen.
Jetzt klingen Sie fast wie ein Globalisierungskritiker von attac.
Das ist die Antwort, die weit über das hinausgeht, was wir mit Entwicklungsgeldern machen können. Faire Wettbewerbsbedingungen und Wertschöpfungsketten sind die Grundlage für jede Entwicklung. Ich sage sehr deutlich: Das Schicksal Afrikas wird auch ein Stück weit das Schicksal Europas bestimmen. Dieser Kontinent ist dynamisch, bevölkerungsreich und wird bis 2050 auf zwei Milliarden Menschen anwachsen. Wenn wir die Probleme nicht dort lösen, kommen die Probleme zu uns.
Ist Ihre Haltung zum Thema Flüchtlinge jetzt eigentlich Mainstream in der CSU?
Ich habe die volle Unterstützung des Parteivorsitzenden und der Landesgruppe.
Zuletzt waren in der CSU ja auch andere Sprüche zu hören: „Wer betrügt, fliegt“ oder die Deutschpflicht für Ausländer…
Natürlich gibt es Stimmungen in der Bevölkerung, die sagen: „Bis hierher und nicht weiter.“ Das hängt aber auch sehr stark von Informationen und konkreter Betroffenheit ab. Wer noch nie mit einem Eritreer gesprochen hat, der durch die Wüste marschiert ist, und wer noch nie ein Flüchtlingscamp besucht hat, der ist natürlich weit weg von den Problemen. Es liegt an uns allen, für mehr Verständnis zu sorgen. Die Herausforderungen unserer globalen Welt sind eben sehr komplex. Am Ende steht aber immer wieder die Erkenntnis, dass wir alle in einem Boot sitzen: von der Produktion unserer Konsumartikel bis zur Regelung von Abkommen. Das zeigt uns ja auch die hitzige Diskussion um das TTIP-Handelsabkommen. Hier muss es uns gelingen, die Interessen der afrikanischen Staaten mit zu berücksichtigen. Deshalb habe ich hier ein Gutachten in Auftrag gegeben, um dies zu beleuchten.
Das Gutachten, das Sie ansprechen, stammt vom Münchner ifo-Institut. Darin warnen die Forscher, dass sich ein europäisch-amerikanisches Freihandelsabkommen potenziell negativ auf viele Entwicklungsländer auswirken könne. Sehen Sie deren Interessen ausreichend in den TTIP-Verhandlungen berücksichtigt?
TTIP darf nicht zu Lasten der Entwicklungsländer gehen. Unser Gutachten weist auf einige Problempunkte hin. Die Amerikaner möchten Zölle abbauen. Da stellt sich die Frage, inwieweit wird der Handel zwischen der EU und den USA dann bevorzugt? Wir haben weitere Probleme im Agrarbereich, bei der Fischerei, ich wurde zum Beispiel vom Präsidenten Ghanas gerade darauf angesprochen. Deswegen ist die Offenheit der Verhandlungen genauso wichtig wie die Beteiligung der Entwicklungsländer. Ich fühle mich ein Stück weit als deren Vertreter und werde intensiv darauf achten, dass es zu keiner Benachteiligung kommt. Das werde ich auch am Rande des G7-Gipfels tun, wenn die Spitzen der Afrikanischen Union nach München kommen.
Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer beschäftigte das Magazin Cicero auch in seiner Ausgabe vom Dezember 2014. „Das Boot ist voll“ lautete der Titel, der den zynischen Satz kommentiert, mit dem die deutsche Abschottungspolitik schon in den 1990er Jahren begründet wurde. Das Heft können Sie hier nachbestellen.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.