- Atheisten in der islamischen Welt
Der arabische Frühling sollte Freiheit nach Ägypten, Tunesien und Syrien bringen. Während Islamisten, gemäßigte Muslime und christliche Minderheiten noch immer um die Macht ringen, leben Atheisten gefährlich. Doch auch sie kämpfen für ihre Rechte – und für ihre Freiheit
Abderahmen ist zwanzig Jahre alt. Ein schmaler, junger Mann, der schnelle Motorräder liebt und Streit meidet. Abderahmen mag Harmonie. Doch viele seiner tunesischen Landsleute fühlen sich von Menschen wie Abderahmen provoziert.Denn Abderahmen glaubt nicht an Gott. Nicht mehr. „Ich glaube an die Vernunft und die Menschlichkeit“, sagt er nüchtern. Er wolle sich mit seiner Sicht niemandem aufdrängen, erklärt er lächelnd: „Ich muss nicht jedem gleich erzählen, dass ich Atheist bin. Warum sollte ich Streit provozieren über etwas, das nicht existiert?“
In Tunesien ist der Islam Staatsreligion, 99 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime. Die rund 1500 Juden in dem kleinen Mittelmeerland bilden eine verschwindend kleine Minderheit, der Großteil der rund 35.000 Christen in Tunesien kommt aus Schwarzafrika und Europa. Die Religionen leben in Tunesien vergleichsweise friedlich zusammen, doch die Minderheiten betrachten den wachsenden Einfluss von Islamisten mit Argwohn. Atheismus ist in diesem Gefüge nicht vorgesehen. Doch seit der Revolution 2011 bekennen sich immer mehr junge Tunesier dazu, nicht an Gott zu glauben.
Ein regelrechter Tabubruch
„Das ist ein völlig neues Phänomen“, sagt der anglikanische Pfarrer Bill Musk, der seit fünf Jahren in Tunesien lebt. Trotz seiner eigenen religiösen Überzeugungen attestiert Musk den Tunesiern, die zu ihrem Atheismus stehen, viel Mut: „Das ist ein absoluter Tabubruch. In Europa ist die Frage, weshalb man an Gott glaubt, völlig normal. Doch für die Mehrheit der Tunesier stellt sich diese Frage nicht, sie gleicht einer puren Provokation“.
Abderahmen ist es gewohnt, seine Umwelt unfreiwillig zu provozieren, er steht unter besonderer Beobachtung: „Bevor ich mich zum Atheismus bekannte, gehörte ich den Salafisten an“, erzählt er, als wäre der Weg von einem Extrem zum anderen das normalste auf der Welt. Während seines Theologiestudiums an einer tunesischen Universität habe er an seinem Glauben zu zweifeln begonnen.
Ähnlich ging es dem dem 23-jährigen Ägypter Ismail: „Ich bin seit über zwei Jahren Atheist. Vorher war ich ein fanatischer Muslim“. Er habe den Islam immer vehement verteidigt, erzählt Ismail. Doch irgendwann habe er begonnen, den Mensch als Individuum zu sehen, jenseits von religiösen Regeln und Zwängen. „Heute verteidige ich die Menschenrechte und das Recht aller Menschen auf Individualität“. Besonders am Herzen liegen Ismail dabei die Rechte von Homosexuellen, die in muslimischen Gesellschaften ein ähnlich tabuisiertes Schattendasein wie die Atheisten führen. Bis zu drei Millionen Atheisten sollen in Ägypten leben – genaue Zahlen sind nicht bekannt, denn auch hier gilt der Zweifel an der Existenz Gottes als gesellschaftliches Tabu.
Auch der 24-jährige Marwen wandte sich nach langem Zweifeln vom Islam ab. Auf sein Bekenntnis zum Nicht-Glauben folgen bis heute Drohungen. „Es ist ein Risiko, darüber zu sprechen“, sagt Marwen: „Die Reaktionen sind völlig ungewiss“. Auch im Internet droht man ihm. „Ich wechsele ständig meine Profilnamen, aber religiöse Fanatiker finden einen immer wieder“. Mit diesem Problem ist Marwen nicht allein: Eine wachsende Atheisten-Gemeinde spannt sich mittels virtueller Netzwerke über die islamische Welt. Das Netzwerk „Syrische Atheisten“ ist besonders aktiv, alleine auf Facebook folgen über 15.000 Fans der Gruppe, der Großteil stammt aus arabischen Ländern.
Wael Alkel ist einer der Gründer des Netzwerkes. Als 2011 die Proteste gegen das Regime von Baschar al-Asad begannen, waren auch Wael und seine atheistischen Freunde in vorderster Reihe dabei. „Man nahm uns fest, einige von uns wurden gefoltert und gedemütigt“, erinnert sich Wael. Er selbst blieb von der Folter verschont, doch das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte bewogen ihn und die meisten seiner Mitstreiter, sich noch entschiedener auf die Seite der Regime-Gegner zu stellen. „Es gab einen Bruch innerhalb der syrischen Atheisten“, erklärt Wael: „Die meisten sind seitdem gegen Asad. Eine kleine Minderheit aber bleibt loyal zu dem Regime, aus Angst davor, dass radikale Islamisten die Macht im Land übernehmen“.
Der Hass auf Ungläubige wird immer radikaler
Anders als in Tunesien organisierten sich syrische Atheisten schon vor den Protesten gegen das Regime – doch man traf sich stets geheim. Fiel ein Atheist in irgendeiner Weise öffentlich auf, wurde dieser umgehend festgenommen, erinnert sich Wael. Der Hass auf die Ungläubigen nimmt im andauernden syrischen Bürgerkrieg extreme Züge an: Im Juni tötete eine islamistische Gruppe im Norden Syriens den 15-jährigen Muhammad Qataa. Seine Äußerung, er werde selbst dann kein Gläubiger, wenn der Prophet persönlich vom Himmel herabsteige, veranlasste die Islamisten, fünf tödliche Schüsse auf den Teenager abzufeuern.
Erst im September wurde der Arzt Muhammad Abyad bei einem Einsatz der Ärzte ohne Grenzen in der Nähe von Aleppo von radikalen Islamisten ermordet. Abyad war erst 28 jahre alt – und Atheist. „Er war ein Held“, sagt Wael, noch immer erschüttert. Mittlerweile hat Wael Syrien verlassen, von Serbien aus unterstützt er nun das Netzwerk der syrischen Atheisten. Sein Traum von einer NGO, die sich für die Rechte von syrischen und arabischen Atheisten einsetzt, hat sich noch nicht erfüllt: „Es fehlt einfach das Geld“, sagt er. Dann fügt Wael hinzu: „Hätten wir genug finanzielle Mittel, würden wir sie sowieso für die Kriegsopfer in Syrien spenden".
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