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Dr. Oeconomicus - An deutschen Kliniken regiert die Profitgier

Vor zehn Jahren wurde das System der Krankenhausfinanzierung umgestellt. Seitdem regiert an deutschen Kliniken die Ökonomie. Patienten sind zum Wirtschaftsfaktor geworden – und werden notfalls blutig entlassen. Eine kritische Bilanz

Autoreninfo

Daniel Baumann ist Wirtschaftsredakteur der DuMont-Redaktionsgemeinschaft von Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau. Dort schreibt er vor allem über die Gesundheitswirtschaft.

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Woran denken Sie, wenn Sie an ein Krankenhaus denken? An Ärzte, die engelsgleich ans Bett treten? An blutgetränkte Mullbinden? An Übelkeit beim Aufwachen nach der OP, Schmerzen in der Leiste?

Sie liegen mit Sicherheit nicht falsch damit. Aber denken Sie auch an Verwaltungsangestellte, die ausrechnen, wie viel Geld Sie einbringen? An Geschäftsführer, die ihre Chefärzte anweisen, weniger Multiple Sklerose und dafür mehr Schlaganfälle zu machen? Denken Sie daran, dass hinter der Organisation ihres Krankenhausaufenthaltes Unternehmensberatungen wie Roland Berger oder McKinsey stehen?

Zehn Jahre ist es her, seit SPD und Grüne ein neues Finanzierungssystem für die Krankenhäuser eingeführt haben. Damals hatte ein hoher Ministerialbeamte die Reform großspurig als „revolutionärste Veränderung im Krankenhausbereich aller Zeiten“ angekündigt.

Die rot-grüne Regierung hat Wort gehalten. Sie hat Patienten in betriebswirtschaftliche Kennziffern verwandelt und Krankenhäuser in marktwirtschaftlich denkende Unternehmen. Aus Menschen wurden Risiken und Nebenwirkungen für die Unternehmensbilanz. Medizin und Ethik wurden dem ökonomischen Imperativ unterworfen.

2003 wurde die Krankenhausfinanzierung auf eine leistungsorientierte Vergütung umgestellt. Seither bezahlen die Kassen den Kliniken nur noch Pauschalen, die dem üblichen Aufwand für eine Behandlung entsprechen. Es gilt der durchschnittliche Marktpreis. Wenn ein Krankenhaus die Gesundheit eines Menschen innerhalb dieses Budgets nicht wiederherstellen kann, muss es die zusätzlichen Kosten selber tragen. Arbeitet es dagegen günstiger als kalkuliert, macht es  einen Gewinn.

Wo bleibt die Ethik?

Weil immer weniger Kommunen für die Verluste ihrer Kliniken aufkommen können und immer mehr Häuser privatisiert werden, ist der Jahresüberschuss zur zentralen Kennziffer für die Krankenhaussteuerung geworden. Und nicht etwa die Qualitätskennziffern. Diese dienen allenfalls – und wo es nützt – der Optimierung des Betriebsergebnisses. Etwa, indem durch Qualitätsverbesserungen kostspielige Komplikationen minimiert werden.

Das Finanzierungssystem wird deshalb – insbesondere von medizinischer Seite und von Patientenvertretern – immer kritischer gesehen. „Ein System frei von Ethik?“, fragt der Mediziner Kai Wehkamp von der Universitätsklinik Kiel in einem Aufsatz des Deutschen Ärzteblatts. Er ist nicht der einzige Mediziner, der das Fallpauschalensystem kritisiert. Denn es schafft Anreize, bestimmte Leistungen zu erbringen und andere zu unterlassen. 

Zwar versucht das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus jährlich die Fallpauschalen aufgrund der Ist-Kosten des Vor-vor-Jahres zu berechnen. In der Realität gibt es dann aber doch lukrative und weniger lukrative Behandlungen.

Eine konservative Behandlung – etwa Physiotherapie statt einer Rücken-OP – bringt dem Krankenhaus fast immer weniger Geld ein als eine Operation. Technische Eingriffe bieten Effizienzpotenziale, während das bei Behandlungen, die vor allem menschliche Zuwendung erfordern, nicht möglich ist. Wo Kosten reduziert werden können, steigt der Gewinn. So beeinflusst das Vergütungssystem den Leistungskatalog eines Krankenhauses. Es diktiert, welche Behandlung Patienten bekommen.

Sogar die Gehälter vieler Mediziner hängen vom Erfolg der Klinik ab. „Natürlich stehen in den Zielvereinbarungen mit unseren Chefärzten auch gesamtwirtschaftliche Ziele“, räumt der Vorstandschef der Berliner Charité, Karl Max Einhäupl, in der Berliner Zeitung ein. Auch an einem Krankenhaus,  das weltweit für außergewöhnliche medizinische Qualität steht, regiert die Ökonomie. „Will ein Chefarzt mehr Arztstellen, so muss er auch darlegen, dass dies wirtschaftlich ist, zum Beispiel durch optimierte Behandlungsprozesse oder nachvollziehbare und sinnvolle Mehrleistungen.“

Seite 2: „Patienten kommen in einem haarsträubenden Zustand in meine Praxis“

Chef- und Oberärzte werden über Bonuszahlungen dazu verpflichtet, Patienten auf die für das Krankenhaus lukrativste Weise zu behandeln. So werden sie angehalten, Behandlungen zu unterlassen, die den Erfolg der Klinik gefährden. Dagegen sollen sie rentable Eingriffe vermehrt durchführen.

Auf die Spitze getrieben wird dieses System mit Boni, die für das Erreichen von Mengenvorgaben gezahlt werden. Auswüchse davon waren zum Beispiel in Göttingen zu beobachten. Das dortige Universitätsklinikum überwies einem Oberarzt für jede Lebertransplantation 1500 Euro extra, sobald er eine Mindestzahl von OPs erreicht hatte. Er trieb die Zahl der lukrativen Verpflanzungen in kürzester Zeit in die Höhe – auch wenn er dafür offenbar das  Organ-Vergabesystem mit gefälschten Patientendaten manipulieren musste. Zwei Drittel der leitenden Ärzte halten an den ökonomischen Erfolg gekoppelte Bonuszahlungen für unethisch.

Zwar war der Fall in Göttingen eindeutig  kriminell. Doch häufig lässt sich nicht unterscheiden, ob medizinisches Handeln schon ökonomisch motiviert ist oder ob es noch eine übliche Entscheidung innerhalb des ärztlichen Ermessensspielraums ist. Muss ein Patient etwa in jedem Fall auf die Intensivstation? Dort bringt er aber mehr Geld. Ob eine Wirbelsäule operiert werden muss, oder ob es noch einmal mit einer günstigeren und für den Patienten schonenderen Krankengymnastik probiert wird – all das liegt im Ermessen der Ärzte. Auch bei den Fragen, ob ein Patient eine Endoprothese, Knieprothese oder Hüftprothese braucht,  gibt es Spielraum. Teure Diagnosen sollen die Patienten in Sicherheit wiegen. In Wahrheit sind sie in vielen Fällen überflüssig.

Die Klinikärzte mögen nicht tagtäglich über Fragen der Erlösoptimierung nachdenken. Im Gegenteil, sie fühlen sich durch den ökonomischen Druck in ihren Therapieentscheidungen zunehmend eingeschränkt. Gegängelt von den Betriebswirten im Haus. Die versäumen es nämlich nicht, ihren Medizinern die wirtschaftlichen Folgen ihrer Arbeit vorzurechnen. Budgetgespräche, Fallzahlenvorgaben und Gewinnziele gehören zum Ritual der Monatsbesprechungen mit der kaufmännischen Abteilung.

Standardisierte Behandlung für nicht-standardisierte Patienten

Auch im Alltag sitzt ihnen die Geschäftsführung ständig im Nacken: in der Person des DRG- oder Case-Managers. Das sind meist umgeschulte Pflegekräfte. Sie rechnen nun aus, wie lange und ausgiebig Patienten behandelt werden dürfen, ohne die wirtschaftlichen Ziele des Krankenhauses zu gefährden. In der Regel bekommen die Mediziner schon bei Behandlungsbeginn das Zielentlassungsdatum – wie es im schönsten Beratersprech heißt – für den Patienten mitgeteilt. Spätestens, wenn ein Kranker zum Verlustgeschäft zu werden droht, machen die Fallmanager Druck auf die Mediziner, damit der Patient entlassen wird.

Unternehmensberatungen gehen in die Kliniken längst ein und aus. Sie implementieren Behandlungsabläufe, „anhand derer Kosten optimiert und Verweildauern gesenkt werden“, wie es in einer Darstellung von Roland Berger heißt. Tagesgenaue Kennzahlenberichte für jeden Patienten sollen Auskunft geben hinsichtlich der Verweildauerziele und Erlöserwartungen. Für das Labor werden genauso wie für das Pflegepersonal Leistungszahlen vorgegeben. Eine Versorgung, die den individuellen Patientenbedürfnissen entspricht, ist in diesen ökonomischen Modellen nicht mehr vorgesehen. Sie praktizieren die standardisierte Behandlung für nicht-standardisierte Patienten.

Niedergelassene Ärzten und Reha-Kliniken müssen das dann ausbaden. Eine Studie im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung kommt zu dem Schluss, dass sich der Gesundheitszustand der Patienten bei Einweisung in die Reha-Kliniken seit Einführung des Fallpauschalen-Systems verschlechtert hat.

„Sie kennen alle den Begriff der ‚blutigen Entlassung‘, der zwar immer wieder bestritten wird. Aber als niedergelassener Chirurg kann ich Ihnen sagen, dass das inzwischen Teil meines normalen Arbeitsalltags ist“, berichtete der Frankfurter Mediziner Bernd Hontschik kürzlich auf dem Chirurgentag in Nürnberg. „Es kommen postoperativ immer mehr Patienten in einem haarsträubenden Zustand in meine Praxis, die ambulant nur mühsam und extrem aufwendig zu betreuen sind.“

Vor fünf Jahren ist Hontschik vom Frankfurter Magistrat in die Betriebskommission – den dortigen Aufsichtsrat – des Krankenhauses Höchst berufen worden. Er war entsetzt, was er dort erlebte. „Den Vorsitz und das große Wort hatte der kaufmännische Geschäftsführer. Der Einfluss des ärztlichen Direktors kam über Einwürfe kaum hinaus“, erzählt Hontschik. „Es wurden diagnosebezogene Fallgruppen (DRG) verhandelt, es wurden Personalentscheidungen und das Wohl und Wehe ganzer Abteilungen am Fallschwere-Index diskutiert und entschieden. Es gab nur ein Ziel: schwarze Zahlen in der Bilanz.“

Ein wichtiger Faktor dafür: Die Fallzahlen steigern. Mehr und mehr zu behandeln ist inzwischen zu einem Dogma in den Krankenhäusern geworden. Bei steigenden Kosten garantiert nur das stabile oder steigende Erträge. Die Kliniken werben deshalb mit allen legalen und illegalen Mitteln um Patienteneinweisungen. Das kann klassisches Marketing sein. Oder man bezahlt niedergelassenen Ärzten Prämien für die Einweisung eines Patienten.

Das Fallpauschalen-System ist ein Marktsystem. Und Marktsysteme sind auf Wachstum angelegt. In der Realwirtschaft ist die Debatte um qualitatives Wachstum längst angekommen. Im Klinikbereich hat sie noch nicht begonnen. Dabei wäre die Debatte dringend notwendig. Momentan geht es um Menge, Umsatz und Gewinn.

Der Patient ist in diesem System im Grunde nur Mittel zum Zweck.

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