- Wenn jeder mit jedem kann
Das deutsche Parteiensystem kennt keine Tabus mehr: Die SPD lässt ihre Basis über die Große Koalition entscheiden, öffnet sich für ein Bündnis mit der Linkspartei und in Hessen kommt Schwarz-Grün. Das ist richtig so, denn ideologisches Lagerdenken hat im 21. Jahrhundert endgültig ausgedient.
Selten zuvor hat es im deutschen Parteinsystem so rumort wie im Moment. Sofern die SPD-Basis ihre Zustimmung erteilt, werden wir künftig von einer Großen Koalition regiert. Gleichzeitig öffnen sich die Genossen für ein Bündnis mit der Linkspartei ab 2017 und in Hessen entsteht die erste schwarz-grüne Regierung in einem Flächenland. Als sei es nie anders gewesen, kann plötzlich jeder mit jedem.
Das sah bis vor Kurzem noch ganz anders aus. Die bisherigen Wahlkämpfe liefen jedenfalls alle nach dem immergleichen Muster ab: Vor der Wahl buchstabierten die Parteien en Detail aus, mit wem sie nach der Wahl auf gar keinen Fall koalieren möchten. Am Ende standen sich dann zwei sauber getrennte Lager gegenüber. Mit dieser ‚Ausschließeritis‘ dürfte nun aber Schluss sein. Wenn das Wahljahr 2013 uns eines gelehrt hat, dann das: Ein Tabu gibt es nicht mehr. Die ideologischen Grabenkämpfe haben endgültig ausgedient!
Unser Leben gleicht einer „Bastelexistenz"
Was wir stattdessen derzeit erleben, ist der Siegeszug einer großen, diffusen ‚Mitte‘. Dieser Schritt war längst überfällig, hat sich die Politik der gesellschaftlichen Realität damit doch endlich angepasst. Unsere Lebenswirklichkeit lässt sich nämlich schon länger nicht mehr in zwei diametrale Gegensätze aufteilen. Links, Rechts, Gut‚ Böse – das war einmal. Weder feste Milieus, noch rigide Moralvorstellungen geben heutzutage eine eindeutige Richtung vor. Stattdessen schneidert sich jeder seinen ganz persönlichen Lebensentwurf zurecht. „Bastelexistenz“ nennt man das in der Soziologie. Dieser Mentalitätswandel ist auch politisch nicht ohne Folgen geblieben. So sind die meisten Deutschen heutzutage zwar für einen starken Sozialstaat, mehr dafür ausgeben möchten sie gleichwohl nicht. Sie gehen nicht jeden Sonntag in die Kirche; zu Geburt, Eheschließung oder Todesfall sucht die Mehrheit dann aber doch den göttlichen Beistand. Sie trennen gewissenhaft den Hausmüll und begrüßen den Atomausstieg; bei den Energiepreisen wird aber pfennigfuchserisch um jeden Centbetrag gefeilscht.
Die Wahrheit ist: Die meisten von uns sind ein bisschen von allem: ein bisschen liberal, ein bisschen sozialdemokratisch, ein bisschen konservativ, ein bisschen ökologisch. Genau das war das Dilemma der jüngsten Bundestagswahl. Für die Parteien ist diese Ausgangslage verdammt schwer. Versuchen sie, sich für neue Positionen zu öffnen, geht es meistens schief. Um den TV-Debatten weiterhin griffige Statements zu liefern, blasen sie Nichtigkeiten zum Popanz auf. Das aber nervt die Wähler. Zu Recht. Gegensätze herbeizureden, wo eigentlich längst keine mehr sind, hat wenig Sinn.
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Deswegen kann man es nur begrüßen, wenn sich nun ein Prozess des Umdenkens in Gang setzt. Mit einem Comeback der alten Lager ist mittelfristig nicht zu rechnen. Denn dass sich die vielen Individualisten auf ein gemeinschaftliches Projekt einlassen ist ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen. Wenn dieses Projekt dann noch dezidiert links oder rechts sein soll, grenzt es an Utopie. Hinzu kommt, dass sich die politischen Herausforderungen der Zukunft wie die Digitalisierung oder der demographische Wandel ohnehin nicht mehr in ein zweidimensionales Schema pressen lassen. Sofern also nicht eine ernsthafte Wirtschaftskrise über uns hereinbricht, die alte Verteilungskämpfe wiederbelebt, spricht momentan wenig dafür, dass es mit der Mitte bald ein Ende haben wird.
Anstatt deswegen kulturpessimistisch den Kopf in den Sand zu stecken und den hitzigen Debatten der siebziger Jahre nachzutrauern, sollte man den Blick lieber auf die positiven Perspektiven dieser Entwicklung richten. Denn bietet diese neue Offenheit nicht auch einen entscheidenden Vorteil? Ist die diffuse Mitte vielleicht sogar der größtmögliche Nenner, auf den sich unsere hochkomplexe Gesellschaft noch einigen kann?
Im Gegensatz zu links und rechts ist sie jedenfalls flexibel genug, sich den veränderten politischen Bedürfnissen anzupassen. Was nicht bedeutet, dass sie deswegen dem Opportunismus anheim fallen muss. Diese Mitte ist nämlich auch ein gutes politisches Frühwarnsystem, das potenzielle Gefahrenquellen rechtzeitig aufspüren und in demokratieverträgliche Varianten überführen kann. Rot-Rot-Grün ist das beste Beispiel dafür. Dieses Bündnis wird nur Wirklichkeit werden, wenn sich auch die Linken bewegen.
Neue politische Synergieeffekte
Das bedeutet: Vor der Öffnung der Parteien braucht man sich nicht zu fürchten. Auch ist es keineswegs so, dass die Parteien dadurch zwangsläufig ihre Existenzberechtigung verlieren. Die neue Entspannungskultur sollte man deswegen nicht vorschnell mit Selbstaufgabe gleichsetzen. Sie könnte sich nämlich auch als eine Chance entpuppen für endlich mehr Sachlichkeit in der Diskussion. Neue politische Verbindungen können dabei interessante Synergieeffekte erzeugen.
Um nicht naiv zu klingen: Den Verlust der alten ‚Feindbilder’ zu kompensieren, gleicht einer Herkulesaufgabe, die allen Beteiligten viel abverlangen wird: Politiker müssen die Souveränität aufbringen, sich auf neue Argumente einzulassen. Koalitionsverhandlungen ziehen sich in die Länge, da das Gegenüber noch unvertraut ist. Und auch wir als Wähler müssen uns von dem ein oder anderen liebgewonnenen Klischee verabschieden. Doch die Mühe sollte es uns wert sein. Dann von dem neuen 'Laisser-faire' können wir am Ende alle profitieren. Selten war Beliebigkeit so vielversprechend!
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