Sigmund Freud. Aus der Traum - Die Mischpoche der Psychoanalyse ist weiblich

Frauen haben die Psychoanalyse einst erfunden, heute kehrt sie zu ihnen zurück: Bücher von Töchtern, Enkeltöchtern, Nichten und Historikerinnen beherrschen die Neuerscheinungen. Und alle kreisen um den Patriarchen Sigmund Freud. Ein Familienroman

Es ist nach wie vor unklar, warum die Natur vor 200 bis 300 Millionen Jahren das Y-Chromosom in die DNA eingeschleust und damit die männliche Variante der Säugetiere erfunden hat. Vor gut einhun­dert Jahren setzte die Psychoanalyse zwar zu einer wissenschaftlichen Erklärung an, aber sie ist groß geschei­tert. Ihr gelang es lediglich, das gegengeschlechtliche Gebiet der reinen X-Chromosomenpaare zu erobern, das Freud noch 1926 als dunklen Kontinent bezeichnete: die weibliche Sexualität. Die Frauen, ihr Wünschen und Sein, sind inzwischen entschlüsselt, alle Flächen, Winkel und Schründe ihres Seelenlebens kartografiert und verzettelt, ganz wie ihr Körper, dessen intimste Schleimhäute die Pornoindustrie für alle Augen ausgeleuchtet hat.

Die Psychoanalyse scheint ja nichts anderes als das Ereignis zu sein, Frauen über alles sprechen zu lassen, was ihnen durch den Sinn geht, und dies so ausgiebig, erfolgreich und zum Teil auch so lukrativ, dass sich daraus eine weltweite Bewegung bilden konnte. Jenes ewigweibliche «Weh und Ach», das Goethes Mephistopheles dem verwirrten Schüler erklärt, wird nicht mehr «tausendfach aus einem Punkte» kuriert, sondern in einen langen Rede­strom kanalisiert, gefiltert und abgeleitet. Zwar haben sich auch Heerscharen von Männern auf die Couch gelegt, um sich von Ängsten, Zwängen, Wahn und Perversion heilen zu lassen, aber Männer sind nicht durch Redenlassen zu heilen. Aus ihrem Stocken und Assoziieren auf der Couch fließt keine Katharsis. Erst recht lassen sie sich nicht das Geheimnis entreißen, warum die Natur sie überhaupt gewollt hat.


Alles, was Männern Spaß macht: Sex und Macht

Freud, der selbst bekannte, dass er sein Inneres nicht auszusprechen vermochte, schrieb großartige Fallgeschichten über einige seiner männlichen Patienten, über den kleinen Hans, den Wolfsmann, den Rattenmann, ebenso über den Senatspräsidenten Schreber, obwohl der nicht sein Patient war. Zwar führten alle diese kanonischen Fälle stets auf direktem Wege zu Mama und Papa und wieder von ihnen weg, aber nicht zur männlichen Seele und deren genetischem Programm, die nur ein dünnes Diaphragma aus Sprache voneinander trennt. Diese Mama-Papa-Historie, der «Familienroman» der Neurotiker, wie ihn Freud nannte, erzählt davon, dass es Männern in ihren tiefsten Trieben um Macht und Sex geht, was für Freud ein und dasselbe war. Aber was noch? Gibt es vielleicht noch etwas, das der Mann will? Folgt man Freuds Spekulationen, die er an die Beobachtung seiner Zwangsneurotiker anschloss, dann ist es dies: Jenseits des Lustprinzips will der Mann den Tod.


Redeflüsse spülen Seele aus

Das wird man von Freuds Patientinnen nicht sagen können. Ihnen ging es wie allen Frauen um Liebe, Liebe, Liebe, und selbst wenn sie heute Bundeskanzlerinnen sind, hat sich das nicht geändert. Die Liebe und der Liebeswunsch, das scheint allerdings klar, sind nicht zu so sensationellen Kulturleistungen fähig wie Hass und Aggression. Das ist der Grund, warum die so genannten Großen dieser Welt, von Cäsar bis Nietzsche, diese Frauen, die immer nur Liebe wollen, aus tiefstem Herzen verachten.

Genauer gesprochen, ist die Psychoanalyse die Wissenschaft von der durch Männer gestörten Liebesrede. Nicht Freud, sondern Frauen haben die Psychoanalyse erfunden. Es waren die großartigen hysterischen Patientin­nen, deren Fälle Freud und Josef Breuer in dem frühen Büch­lein «Studien über Hysterie» erzählten, die Stars der Lähmungen, Sprachstörungen, Halluzinationen und Phobien, wie Anna O., Frau Emmy von N. oder Miss Lucy R.

Diese ersten Heldinnen auf der Couch waren aber nicht nur weibliche Neurotiker, sondern es waren Frauen aus Freuds weiterer Familie, die den Anstoß zur Psychoanalyse gaben. Bertha Pappenheim, die unter dem Decknamen Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen ist, war mit der Familie Bernays verwandt, der Freuds Frau Martha entstammt. Berthas Vater, Sigmund Pappenheim, war zeitweise Vormund der beiden Schwestern Martha und Minna Bernays, und Martha war mit Bertha befreundet. Bertha erfand den allen Insidern geläufigen Begriff «talking cure» für die Behandlung, die ihr Freuds Kollege Josef Breuer angedeihen ließ, ehe er die Flucht ergriff, als Bertha von ihm schwanger zu sein glaubte. Die «talking cure» bestand damals zunächst darin, die Patientin unter Hypnose alle ihre Gedanken und Bedrängnisse aussprechen zu lassen. Als würden die Redeflüsse die kranke Seele ausspülen.

Auch die anderen Weltberühmtheiten dieser ersten Fallgeschichten wie Anna von Lieben, alias Cäcilie M., die Freud später einmal seine «Lehrmeisterin» nennen sollte, gehör­ten dem weiteren Familien- und Freundschaftskreis an. Die prominenteste unter ihnen war jedoch Anna Hammerschlag-Lichtheim, Tochter von Freuds Religions­lehrer Samuel Hammerschlag, die unter dem Namen Irma die Haupt­­rolle in Freuds Schlüsseltraum spielte, den er in der Nacht zum 24. Juli 1895 auf Bellevue hatte. Dieser in der «Traumdeutung» ausführlich analysierte Traum vergibt seine Rollen an Ärzte und Patientinnen. Zu ihnen zählt, unter einem Pseudonym maskiert, Sofie Paneth, Cousine von Anna Ham­merschlag und Ehefrau von Freuds Freund Josef, die später Patentante von Freuds zweiter Tochter Sophie wurde.

Es waren Frauen, die Freud lehrten, dass die Neurosen in Familienbeziehungen wurzeln, was bei den Frauen jener Zeit, die nur Familienbeziehungen kannten, nicht weiter erstaunt. Aus diesen elementaren Erfahrungen mit Mama und Papa spannen sie ihre Familienromane. Und da diese Patientinnen zumeist der begüterten jüdischen Klasse Wiens entstammten, ist die Psychoanalyse von Anfang an auch eine jüdische Familiengeschichte.


Das Archiv ist das Unbewusste der Psychoanalyse

In einer kleinen Schrift aus dem Jahre 1909 beschrieb Sigmund Freud den «Familienroman der Neurotiker». Dieser «Roman» handelt von den imaginären Beziehungen, die der Neurotiker mit seinen Eltern unterhält, wie er sie erst in den Himmel hebt und später kritisch betrachtet, um sie am Ende als Götter, Feinde oder Geliebte durch neurotische und psychotische Delirien geistern zu lassen. Die Psychoanalyse selbst ist ein Familienroman, ein Fortsetzungsroman, von dem noch einige Folgen erwartet werden können. Denn noch werden in der Library of Congress und im Londoner Freud-Museum große Mengen von Papieren, Briefen, Tonbändern aufbewahrt, die der Öffentlichkeit bislang unbekannt sind.

Sigmund Freud hat ja zeit seines Lebens darauf geachtet, dass keine persönlichen Dokumente an die Öffentlichkeit gelangten, und immer wieder private Papiere vernichtet. Seine Tochter Anna und ihr Nachfolger als Herr über die Freud-Archivalien, K. R. Eissler, haben diese Politik fortgesetzt und viele Faszikel mit Sperrvermerken versehen. Doch allmählich beginnt auch dies archiva­lische Unbewusste der Psychoanalyse zu sprechen.

Die letzten Jahre und eben dieses Jubiläumsjahr gewähren uns tiefe Einblicke in die Historie der Freud-Familie, und davon zehren wiederum neue Veröffentlichungen, die Freuds Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, zur Verlobten und Ehefrau, zur Schwiegermutter, Schwägerin, Schwägern, Töchtern, Nichten, Enkelinnen studieren. Da gibt es schöne, aufschlussreiche, bewegende und auch weniger bedeutende Veröffentlichungen.

Alle geben sie aber zu erkennen: Die Psychoanalyse in ihrer Vorgeschichte und ihrer bis auf den heutigen Tag wirkenden Nachgeschichte ist eine Affäre von Frauen. Die Mischpoche der Psychoanalyse ist weiblich.


Mit Illoyalen hat Freud gebrochen

So erscheint nun in einer gekürzten Sammlung Sigmund Freuds Briefwechsel mit Minna Bernays, seiner Schwägerin. Diese Korrespondenz dokumentiert gleich zwei Familiendramen. Einmal hatte Freud eine Verbindung zwischen Minna und seinem Freund Ignaz Schoenberg gestiftet, die zur Verlobung der beiden führte. Der be­gabte Indologe Schoenberg erkrankte aber bald an Tuber­kulose, deren hoffnungslosen Verlauf Freud früh erkannte, ohne Minna darüber die volle Wahrheit zu sagen. We­nige Monate vor Schoenbergs Tod wurde die Verbindung gelöst.

Die zentrale Figur im zweiten Drama war Minnas und Marthas Bruder Eli Bernays. Dieser hatte das
kleine Vermögen, das die beiden Schwestern von ihrem berühmten Onkel, dem 1881 verstorbenen Philologen Jacob Bernays, geerbt hatten, zur Abdeckung eigener Verbindlichkeiten verwendet. Als nun Sigmund und Martha um 1886 ihre Hochzeit planten, schien diese bescheidene Summe, mit der die beiden mittellosen jungen Leute rechneten, nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Eli zog sich daraufhin Freuds Verdacht zu, er habe das Geld veruntreut.

Dieses Kapitel aus dem Familienroman der Psychoanalyse erhielt noch dramatischere Züge, weil Eli seit 1883 mit Freuds Schwester Anna verheiratet war. Aber Freuds Doppelschwager war nicht nur ein bis dahin erfolgloser Geschäftsmann, sondern er hatte aus diversen Beziehungen auch uneheliche Kinder, für die er aufkommen muss­te. In seinen Briefen an Minna verlangte Freud daher, dass die Schwestern mit dem Bruder brechen sollten, was die beiden aber standhaft verweigerten. Hier gab der junge Freud schon einmal eine Probe auf sein Talent, nach Herrscherart mit Illoyalen oder Verdächtigen zu brechen. Mit Freuds finanzieller Unterstützung gingen Eli Bernays und Anna mit ihrem einjährigen Sohn Edward 1892 in die USA, wo Eli endlich geschäftlichen Erfolg hatte. Anfang der dreißiger Jahre verfasste Anna Bernays sehr lebendige Erinnerun­gen, die soeben auch als Taschenbuch erschienen sind.

Freuds Korrespondenz mit Minna stammt aus den 1880er Jahren, als Minna Bernays mit ihrer Mutter Emmeline und der Schwester Martha, Freuds Verlobter, in Wandsbek lebte. Die Briefe, die Freud in dieser Zeit an seine Braut schickte, sind (in Auswahl) längst bekannt und berühmt, während Marthas Briefe noch unter Verschluss liegen. Doch den Schreiben der Schwester fügt Martha immer wieder kleine Ergänzungen an, und so vernimmt man dort auch diese bislang weitgehend stumm gebliebene weibliche Stimme. Beide Schwestern erweisen sich nach diesen Zeugnissen als kluge, witzige, belesene, praktisch denkende junge Frauen.

Bereits in der Frühzeit dieses Briefwechsels deutet sich an, dass Freud seine künftige Schwägerin überaus schätzte und ihr in mancher Hinsicht mehr zutraute und zumutete als seiner Braut. Anders als Martha Freud sollte sich Minna, die unverheiratet blieb, später auch für die Psychoanalyse interessieren. Dies mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Minna ab 1896 ständig bei den Freuds in Wien lebte. Der vom Medizinhistoriker Albrecht Hirschmüller herausgegebene Briefwechsel zwischen Minna Bernays und Sigmund Freud ist auch darum eine verdienstvolle Edition, weil dem Band eine ausführliche und vorzüglich dokumentierte Darstellung der Familie Bernays angefügt worden ist.

Notorische Darmkrankheiten der Schwestern

In ihrem Familienroman «Die Freuds. Biographie einer Familie», der zu den bemerkenswerten Neuerscheinungen dieses Jahres gehört, erzählt Eva Weissweiler auch die Geschichte von Freuds Beziehung zu Minna. Diese Dreiecksbeziehung und Freuds Gewohnheit, mit Minna alleine auf Reisen zu gehen, während Martha bei den Kindern blieb, trugen zum Familienklatsch und zum Gossip der Nachwelt bei. Die Biografin vertraut der von C. G. Jung kolportierten Ansicht, dass der Vater der Psycho­analyse auch mit seiner Schwägerin sexuell verkehrt hat, anal, wie sie präzisiert, denn die verschiedenen Darmkrankheiten Minnas und Marthas, zu denen auch eine schwere Colitis bei Martha zählte, schienen die bösen Folgen dieser Praktik zu bilden.

Nicht dieser alte Tratsch macht das Buch wertvoll, sondern die Darstellung einer dramatischen Familiengeschichte, die alle zur Zeit erreichbaren Quellen verwertet. Vor allem Freuds Umgang mit den weiblichen Mitgliedern der Familie, der eigenen und der psychoanalytischen, wird misstrauisch verfolgt. Die NS-Politik brachte die Freuds ins Exil oder ins KZ, wo vier der fünf Schwestern Freuds starben oder umgebracht wurden. Die Darstellung geht bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, da Martha immer noch in jenem Londoner Haus regierte, wo Sigmund Freud am 23. Septem­ber 1939 gestorben war und wo nach dem Tod der Mutter die Tochter Anna 1951 das Zepter übernahm.

Die Geschichte der Psychoanalyse ist zur Sache von Historikerinnen geworden. Und Eva Weissweilers sympathisierender Blick auf die Ehefrauen von Genies (den sie bereits vor gut zwei Jahrzehnten in ihrem Buch über Clara Schumann erprobt hat) verbindet sich mit einer sehr kritischen Sicht des Arztes und Familienoberhauptes Freud. Ihre ausführliche Würdigung der weiblichen Familie, zumal Marthas, aber auch der beiden Töchter Mathilde und Anna, scheint völlig gerecht. Das Buch leidet allenfalls unter dem sich gegen Ende ungeheuer verschärfenden Tempo, das wohl der Jubiläumstermin gefordert hat.
 

Der Name des Alten rettete manchmal Leben

Gehen wir weitere Jubiläumsschriften von Frauenhand durch. Birgit Lahanns «Als Psyche auf die Couch kam. Die rätselvolle Geschichte des Sigmund Freud» ist weniger eine Geschichte als eine Anekdotensammlung. Rätselloser kann eine Freud-Biografie kaum geschrieben sein. Dafür darf der Leser darüber rätseln, warum dem Buch lauter hübsche, aber nichtssagende Fotos beigegeben wurden, auf denen verschiedene Schauplätze aus Freuds Leben zu sehen sind: in Wien der Prater, in Paris Montmartre, ein kahler Baum zum Wolfsmann. Diesem Buch und seinen Bilderklischees wird man am ehesten gerecht, wenn man es als Symptom betrachtet. Es zeigt ein letztes Popularisierungsstadium und damit das kommende Ende der Psychoanalyse an.

Zwei weitere weibliche Stimmen aus dem Archiv der Psychoanalyse, die nun den Roman weiterspinnen, vernimmt man in dem neuen Buch von Freuds Enkelin Sophie: «Im Schatten der Familie Freud». Sophie ist die 1924 geborene Tochter von Martin Freud und Ernestine Drucker. Sophie hatte vor vielen Jahren ihre Mutter Ernestine, die sich Esti nannte, dazu überredet, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Das Manu­skript blieb in den Händen der Kinder und Enkel; jetzt übergibt Sophie Freud es mit­samt ei­genen Tagebuchauszügen, Briefen, Kom­mentaren, mit Erinnerungen ihres Bruders, ihres Sohnes, ihrer Schwägerin sowie weiteren Dokumenten der Öffentlichkeit – ohne Zweifel bewegend, zur Geschichte der Psychoanalyse tragen sie jedoch nicht mehr viel bei.

Die Ehe von Sophies Eltern war unglücklich. Martin Freud brachte es unter den Bedingungen von Krieg, Emigration und wieder Krieg nie zu einer stabilen beruflichen Position, während Ernestine zunächst als Rezitatorin und später als Logopädin erfolgreich war und sich eine eigene Existenz aufbaute. Sie behauptete sich als Ehefrau, Mutter, Exilantin und Berufstätige durch Fleiß, Zähigkeit und eine ungeheure hysterische Begabung, die ihre Kinder freilich in schlimmer Erinnerung behielten. Dreimal musste sie in ihrem Beruf von vorn anfangen. Während sie nicht verhindern konnte, dass ihre eigene Mutter aus Südfrankreich nach Theresienstadt deportiert wurde, rettete sie sich und ihre Tochter vor den Nazis in die USA – ohne Unterstützung von Martin Freud, der mit dem größeren Teil der Familie nach England ausgewandert war.

Ebenso wie ihr Bruder Walter Freud blickt Sophie auf diese mütterliche Leistung zugleich mit Bewunderung und Abscheu zurück. Die Briefe, Erinnerungen und Dokumente lassen das drama­tische Schicksal eines Zweigs der Familie Freud vor den Augen des Lesers abrollen. Nicht zuletzt wegen ihrer unglücklichen Ehe fühlte sich Esti von den Freuds verachtet und bedenkt die Familie in ihren Erinnerungen mit den bittersten Worten. Zugleich aber profitierte sie vom Namen des Alten. Und es ist nicht das Wenigste, das sich von Freuds Werk sagen lässt, dass sein Name einen Teil seiner Familie vor dem Nazigrauen rettete.

Noch ein anderes von einem weiblichen Mitglied der Freud-Familie verfasstes Dokument, das eben erscheint, liegt bereits seit Jahrzehnten als Manuskript vor. Es sind die Briefe, Erinnerungen und Familienfotos von Lilly Freud-Marlé «Mein Onkel Sigmund Freud». Lilly ist eine Tochter von Freuds Schwester Maria, Mitzi genannt, die in Treblinka ermordet wurde, und von Moritz Freud, einem Großcousin Freuds, der bereits 1920 gestorben war. Lilly heiratete den Schauspieler und Regisseur Arnold Marlé und brachte es selbst zur erfolgreichen Schauspielerin und Rezitatorin, deren Vortragskunst sogar ihr Onkel lobte. Ihr Buch sollte die erste Biografie Sigmund Freuds werden, die sich aus eigenen Erin­nerungen speiste. Anna Freud allerdings verhinderte damals die Veröffentlichung.

So schlummerte das Manuskript der 1970 verstorbenen Lilly gleichfalls im archivalischen Unbewussten der Psychoanalyse, bis es der Herausgeber Christfried Tögel im Nachlass von Edward Bernays barg. Dieser Mann, berühmt als «father of public relations», war Freuds Neffe aus der Ehe seiner Schwester Anna mit Eli Bernays, dem in die USA ausgewanderten Bruder Minnas und Marthas. Das Buch entstand nach 1944 in England und hält im ersten Teil eine Reihe von Gesprächen mit Martha Freud fest, die in Mares­field Gardens, Freuds letztem Wohnsitz, residierte. Es folgen persönliche Erinnerungen, Briefe Freuds an Lilly und andere Dokumente. Eigentlich ist es kein Buch, sondern eine Sammlung, die der große Name zusammenhalten soll.
 

Der einzige Mann, den Anna Freud geliebt hat

Das bedeutendste Dokument jedoch, das uns die Archive in diesem Jahr schenken, ist der Briefwechsel Sigmund Freuds mit seiner Tochter Anna, die nach den Worten ihres Vaters «so alt ist wie die Psychoanalyse». Die Geschichte dieser Vater-Tochter-Beziehung bildet einen eigenen Roman im Familienroman. Anna war das jüngste Kind Freuds, das in dieser Position offenbar heftig zu kämpfen hatte. Vermutlich war es ihr Lebenstriumph, die Erbin ihres Vaters zu werden, das einzige Kind, das auch die Psychoanalyse zu seiner Sache machte. Nichts wünschte Freud ursprünglich weniger. Als alter Heiratspolitiker, der bereits seinen Schwestern die Partnerwahl diktieren wollte, hätte er seine Töchter gerne an die Schüler und Getreuen der psychoanalytischen Bewegung verkuppelt. Aber Anna widerstand allen väterlichen Bemühungen, aus ihr eine Normalfrau und Mutter zu machen. Er analysierte sie auf ihr Betreiben hin. Am Ende musste er einsehen, dass er vermutlich der einzige Mann war, den Anna je geliebt hat.

Diese von Ingeborg Meyer-Palmedo sorgsam und liebevoll kommentierte Korrespondenz ist ein Glück. Schöner, diskreter und reicher hat sich eine Vater-Tochter-Liebe vielleicht nie zuvor ausgesprochen. Nachdem ihn alle älteren Töchter verlassen hatten und anderen Männern gehörten, bezeichnete Freud seine Anna in zweifachem Sinne als «mein einziges Kind». Diese Einzigheit und Anhänglichkeit Annas verglich er mit der Treue der Cordelia zu ihrem Vater König Lear. Anderen drängte sich freilich der Vergleich zu dem Paar Ödipus und Antigone auf. Denn Freud hatte sich bereits in seiner Jugend mit dem Rätsellöser König Ödipus identifiziert. Nun stützte sich der alte Rätsellöser auf die vorbehaltlose Zuwendung und Opferbereitschaft seiner Antigone-Tochter.


Ein selbstbestimmter Tod mit Morphium

Solche Liebe, die in schwindelnde literarische, mythische Höhen reichte, blieb dann doch sehr menschlich, da beide, Vater wie Tochter, wirkliche und vermeintliche Rivalen oder Rivalinnen mit hefti­ger Eifersucht verfolgten. Bereits 1914 hatte Freud verhindert, dass sein Schüler Ernest Jones um Anna warb. Am Ende stand dem grei­sen Ödipus Freud die Tochter näher als die eigene Ehefrau. Anna sollte als Erste erfahren, dass er seinen Arzt Max Schur um die Morphium-Dosis gebeten hatte, die ihn von seinem Krebsleiden erlö­sen sollte. In einem bewegenden Zeugnis über die letzten Tage in Maresfield Gardens berichtet Lucie Freud, wie Anna das Zimmer des Sterbenden nie anders als mit einem «glücklichen Gesichtsausdruck» betrat, und dass ihr Vater die an Selbstzerstörung grenzende Aufopferung seiner Tochter wie selbstverständlich annahm.

Der Hauptteil der Briefe, die Vater und Tochter wechselten, fällt in die Jahre 1910 bis 1923. Es lässt sich verfolgen, wie Anna, die als Kind zart und schwächlich war, den Vater zu besonderer Fürsorge zwingt, um den Sorgenden dann mit Nachrichten von kleinen Gewichtszunahmen zu honorieren. Sie deutet ihr Interesse für die Psychoanalyse an, vertieft sich in die Schriften des Vaters. Schließlich nimmt er sie in Psychoanalyse – ein Vergehen gegen alle Regeln der Kunst, die er selbst formuliert hatte. Aber ersichtlich gönnt er es niemandem sonst, die neurotischen Geheimnisse dieser Beziehung zu erkunden. Anna dankt ihm durch Mitteilung und Deutung ihrer Träume, denen der Vater knappe Kommentare nachreicht.

Im Juli 1919 träumt Anna, dass aus dem Hause Berggasse 20, gegenüber Freuds Wohnung, auf ihren Vater geschossen werde, sobald er sich am Fenster zeige. Im Traum empfindet sie Freude, als er frühmorgens abreist. Ihrer eigenen Deutung, dass sie sich mit dieser Traumangst und Traumfreude über die zeitweilige Abwesenheit des Vaters tröste, der damit aus der Gefahrenzone gelangt sei, fügt der Vater den knappen Hinweis an, dass auch «Eifersucht» an dem Traumtext mit gewoben habe, denn in dem Haus gegenüber wohnt auch eine angebliche «Freundin» des Vaters. Als Freud 1923 die Krebsdiagnose gestellt wird, fasst Anna endgültig den Entschluss, ihr Leben mit dem Vater zu teilen und nach und nach sein Erbe in Empfang zu nehmen. Trotz unbeirrbarer Treue zu allen Ansichten des Vaters wurde sie eine große Psychoanalytikerin.

Und heute? Gibt es noch große Psychoanalytiker? Man hat das 20. Jahrhundert das Jahrhundert Freuds genannt. Es ist vorbei. Dieses «Vorbei» schwebt drohend auch über der Psychoanalyse, von der Karl Kraus ja behauptete, sie sei jene Krankheit, für deren Therapie sie sich halte. Tatsächlich scheint die Psychoanalyse von sich selbst kuriert. Der Blick auf die Veröffentlichungen zum Jubilä­umsjahr gibt diesem Befund eine scharfe Kontur. Es ist kein neues, irgendwie interessantes Buch, kein bemerkenswerter Beitrag aus dieser einstigen Wissenschaft selbst erschienen, zumindest nicht in Deutschland. Die Jubiläumsschriften erschöpfen sich weitgehend in Historie.

Freud verließ sich zuletzt auf seine Intuition

Lediglich ein Buch wäre hier noch erwähnenswert, nämlich die von Manfred Pohlen herausgegebenen und kommentierten Protokolle, die der nachmalige Psychoanalytiker Ernst Blum über seine Lehranalyse bei Freud im Jahre 1922 angefertigt hat. Dieses aufschlussreiche Material zeigt Freud bei seiner Arbeit: Es macht unabweisbar, dass der Vater der Psychoanalyse kein Dogmatiker seiner Behandlungsmethoden war, sondern sich zumeist auf seine psychologische Intuition verließ. Die Blum-Protokolle werfen erneut die Frage auf, inwiefern die Psychoanalyse eine jüdische Wissenschaft war.

Auch der Schweizer Blum war Jude. Während die Diskussion um die jüdische Historie der Psychoanalyse in Frankreich und in den USA ausgiebig geführt worden ist, scheint sie in Deutschland nicht stattzufinden. Vielleicht mit der Einschränkung, dass der Erziehungswissen­schaftler Micha Brumlik sie in seinem neuen Buch «Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts» berührt. Unter Berufung auf Harold Bloom behauptet er: «Freudsches Erinnern ist jüdisches Erinnern, und das Freudsche Vergessen ist noch jüdischer.» Zur Begründung aber geben Bloom wie Brumlik nur vage Analogien an. Immerhin retten sie diese Frage aber vor dem Untergang, und das heißt: bevor die Psychoanalyse untergeht. Es ist die Rettung einer Frage, die ungeheuer weit reicht und vielleicht das Unbewusste des 20. Jahrhunderts einschließt. Man darf es jedenfalls als Zeichen eines nahenden Endes, von ermüdeten kreativen Kräften, betrachten, wenn sich eine Wissenschaft in ihrem dominierenden Interesse
ihrer eigenen Geschichte zuwendet.

Die Geschichte der Entdeckung des Unbewussten, so sprechen die Bücher des Jubiläumsjahres zu uns, hat kein Geheimnis mehr. Das Geheimnis, das Freud mit aller Macht gewahrt wissen wollte, sicherte der Psycho­analyse als Institution ihre neurotische Struktur. Jetzt wird dieses Unbewusste ausgeleert, den Archiven entrissen und ins Licht geholt. Es ist eben vergangene und gegenwärtige Frauenrede, bisweilen schön und bewegend, bisweilen hart an der Grenze zum Gossip.

 

Manfred Schneider, Jahrgang 1944, lehrt Neugermanistik, Ästhetik und Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Dem­nächst erscheint «Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos».

 

Biografie Sigmund Freuds

6. Mai 1856 Geburt im mährischen Freiberg
1860 Umzug der Familie nach Wien, wo Freud das Gymnasium besucht und Medizin studiert
1885 Reise nach Paris. In der Salpêtrière lernt Freud Charcot, den «Napoleon der Hysteriker», kennen. Mit dem Arzt Josef Breuer entwickelt er aus dem Fall «Anna O.» (Bertha Pappenheim) die «Sprechtherapie»
1886 Heirat mit Martha Bernays. Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor: Mathilde, Martin, Oliver, Ernst, Sophie und Anna
1891 Umzug in die Berggasse 19, die berühmte Adresse der Psychoanalyse. Freud lebt dort 47 Jahre lang
1895 «Studien über Hysterie», zusammen mit Josef Breuer
1897 These vom «Ödipus-Komplex» in einem Brief an Wilhelm Fließ
1899/1900 «Die Traumdeutung». Im Grün­dungswerk der Psychoanalyse klärt Freud die Funktion der seelischen «Zensur»
1902 Gründung der Psychologischen MittwochsVereinigung. Die Psychoanalyse wird von der akademischen Medizin abgelehnt, etabliert sich aber mit eigenen Institutionen
1906 Beginn des Briefwechsels mit C. G. Jung, der als Kronprinz der psycho­analytischen Bewegung gilt – bis zum Bruch 1913
1920 «Jenseits des Lustprinzips»
1923 «Das Ich und das Es»
Mai 1933 Die Nationalsozialisten verbrennen Freuds Werk
1938 Freud emigriert nach London
23. September 1939 Freud nimmt eine tödliche Dosis Morphium

Bücher von und über Sigmund Freud

Sigmund Freud, Anna Freud
Briefwechsel. 1904–1938
Hg. von Ingeborg Meyer-Palmedo.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006. 680 S., 34,90 €

Sigmund Freud, Minna Bernays
Briefwechsel. 1882–1938
Hg. von Albrecht Hirschmüller.
Edition Diskord, Tübingen 2005. 399 S., 32 €

Anna Freud-Bernays
Eine Wienerin in New York. Die Erinnerungen der Schwester Sigmund Freuds
Hg. von Christfried Tögel.
Aufbau TB, Berlin 2006. 272 S., 8,95 €

Lilly Freud-Marlé
Mein Onkel Sigmund Freud. Erinnerungen an eine große Familie
Hg. von Christfried Tögel.
Aufbau, Berlin 2006. 341 S., 22,90 €

Sophie Freud
Im Schatten der Familie Freud. Meine Mutter erlebte das 20. Jahrhundert
Claassen, Berlin 2006. 400 S., 19,95 €

Annette Meyhöfer
Eine Wissenschaft des Träumens. Sigmund Freud und seine Zeit
Knaus, München 2006. 560 S., 22,95 €

Eva Weissweiler
Die Freuds. Biographie einer Familie
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 320 S., 24,90 €

Birgit Lahann, Ute Mahler
Als Psyche auf die Couch kam. Die rätselvolle Geschichte des Sigmund Freud
Aufbau, Berlin 2006. 179 S., 24,90 €

Peter Gay
Freud. Eine Biographie für unsere Zeit
Aus dem Amerikanischen von Joachim A. Frank.
Fischer TB, Frankfurt a. M. 2006. 904 S., 10 €

Manfred Pohlen
Freuds Analyse. Die Sitzungsprotokolle Ernst Blums
Rowohlt, Reinbek 2006. 398 S., 22,90 €

Micha Brumlik
Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts
Beltz, Weinheim 2006. 304 S., 22,90 €

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