Eine deutsche Karriere - An den Quellen des Sauerlandes

Carl Schmitt, dieser Vordenker der Vernichtung, wird politisch zunehmend wieder salonfähig. Sein Biograf Christian Linder erledigt den Rechtslehrer aus Plettenberg, aber auf die versöhnliche Tour

Ein Hauch von Inventur und Abschied durchweht die intellektuellen Interieurs der Bundesrepublik. Bestände werden gesichtet, genauer in Augenschein genommen sowie sicher, aber nicht unbedingt gut sichtbar, auf Dauer deponiert. Deutschland nimmt zu Beginn des 21. Jahrhunderts Abschied von jenen Geistern, die es im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert geprägt, gequält und aufgerüttelt haben. Davon zeugt schon die Fülle von Biografien, die allein im vergangenen Jahr erschienen sind: eindringliche, bestens dokumentierte Lebensbilder von Wilhelm Busch, Stefan George und Rudolf Augstein sowie je zwei von verschiedenen Autoren verfasste Biografien über Ernst Jünger und Alexander Mitscherlich. In allen Fällen handelt es sich um Männer, die ihre anfängliche Verachtung für den Rechtsstaat biografisch überwanden und zum Teil sogar zu Vorkämpfern einer demokratischen Kultur wurden.


Ein westdeutscher Autor

Ein letztes Stück dieser unabdingbaren Trauerarbeit zu leisten, hat sich nun Christian Linder vorgenommen – ein vor allem in Nordrhein-Westfalen wirkender Autor, bisher vor allem ob seines Engagements in Sachen Heinrich Böll und Günter Wallraff bekannt. Linder, dem eine Verwurzelung im rheinischen Westen Deutschlands nachzusagen nichts Denunziatorisches hat, veröffentlicht soeben eine umfangreiche Studie zu Leben und Werk des Publizisten, Juristen und politischen Theoretikers Carl Schmitt (1888–1985), eines Autors, der den einen als Vordenker der nationalsozialistischen Judenvernichtung, den anderen jedoch als einer der tiefgründigsten und brillantesten Köpfe des 20. Jahrhunderts gilt.

Schmitt wurde in Plettenberg im Sauerland geboren, um nach seinem akademischen Dienst an Judenvernichtung und Nationalsozialismus sowie dessen Niederlage dorthin zurückzukehren und daselbst hochbetagt, von Verfolgungswahn gequält, zu sterben. Dem Häuschen, das Schmitt dort bewohnte, gab er keinen anderen Namen als «San Casciano» – der Name des Gutes, in das sich Niccolò Machiavelli zurückgezogen hat, nachdem er in der Republik Florenz in Ungnade gefallen war. Sollte die späte Paranoia im hier manifestierten Größenwahn eine ihrer Wurzeln haben? Für Christian Linder, selbst in Lüdenscheid geboren, gerät die Reise vom Rhein ins heimat­liche Sauerland, über den Bahnhof von Finnentrop, zu einer eigentümlichen «Recherche du temps perdu», zu einer um Distanz, Verständnis und ein abgewogenes Urteil bemühten Erfahrung, die der Lösung eines Rätsels nachspürt, das womöglich längst gelöst ist.

Das katholische Sauerland hat Deutschland nicht übermäßig bedeutende Politiker geschenkt: Heinrich Lübke, Friedrich Merz und Franz Müntefering. Die Spannbreite ihrer Eigenschaften reicht von tumber Provinzialität über forcierte Weltläufigkeit bis hin zu so genannter Gradlinigkeit. Auch lässt sich der kulturelle Beitrag der Landschaft, der sie entstammen, gut überschauen: mundartliche Dichtungen und Erzählungen aus der Feder etwa Friedrich Wilhelm Grimmes (1827–1887) und Christine Kochs (1869–1951) entstehen hier, haben indes ihren regionalen Kontext nie überschreiten können.
Als Ausnahme bleibt: Carl Schmitt, also jener Theo­­­retiker, mit dem sich bis heute radikal gerierende, so genannte postmarxistische Politikwissenschaftler aufputzen, etwa die Belgierin Chantal Mouffe – und sei es nur deshalb, um den noch immer verachteten und gehassten «Liberalen» einen ordentlichen Schrecken einzujagen. In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Büchlein «Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion» (siehe „Literaturen” 6/2007) beschwört Mouffe auf beinahe jeder Seite Carl Schmitts Behauptung, das Wesen des Politischen bestehe in der Unterscheidung von Freund und Feind – um eine, wenn auch demokratisch gepufferte Lehre von politischer Konkurrenz zu propagieren. Dass Mouffe damit den Sauerländer einmal mehr zu dem macht, was er inzwischen wirklich geworden ist, nämlich zu einem politikwissenschaftlichen Kinderschreck, scheint ihr entgangen zu sein.


Das Recht in Zeiten des Terrors

Tatsächlich ist zu Carl Schmitt rein wissenschaftlich alles gesagt: zu seinen juristischen Doktrinen, seiner erbärmlichen Rolle im Nationalsozialismus, seinem brillanten Stil, seiner inneren Haltlosigkeit, seinem persönlich wie theoretisch tief, nein: zutiefst verwurzelten Judenhass sowie zu seiner Wirkungsgeschichte in der Bundesrepublik. Und dennoch ist Christian Linder, dem Reisenden ins Sauerland, teilweise zuzustimmen, wenn er schreibt, dass «kein Denker … zur Zeit so sehr Mann der Stunde» sei, «zitiert in Berlin wie in Zürich, in Peking wie in London, in Jerusa­lem wie in Moskau, in Bagdad wie, vor allem dort, in Washington». Amerika betreibt im Sinne der Freund-Feind-Theorie «gegenwärtig reinste Carl-Schmitt-Politik».

Seit dem radikalislamistischen Mordanschlag auf Tausende Menschen am 11. September 2001 und der da­raus erwachsenden Notstandsgesetzgebung vor allem in den USA zieht ein dichotomes Freund-Feind-Denken im Rahmen des «War on Terror» auch in die Rechtspraxis parlamentarischer Demokratien ein: in Guantánamo Bay, außerhalb des Staatsgebiets der USA, ist das Wirklichkeit geworden, was man als einen vom Staat beherrschten, absolut rechtsfreien Raum bezeichnen könnte. Zudem haben die Folterkeller von Abu Ghraib gezeigt, dass auch der Leib von Menschen zu diesen rechtsfreien Räumen gehören kann.

Die Unterstellung freilich, dass ausgerechnet die USA der Schmitt’schen Unterscheidung von Freund und Feind folgen, würde von dessen Adepten aus der Neuen Rech­ten heftigst bestritten. Sei doch gerade die von ihm getroffene Freund-Feind-Unterscheidung die einzige Basis einer letztlich respektvollen, gerade nicht auf die Vernichtung des Anderen zielenden Einstellung: der Feind als hostis justus. Dass diese immer wieder vorgebrachte Schutzbehauptung – zumin­dest im Hinblick auf die Juden und Schmitts entsprechende Botmäßigkeit im Nationalsozialismus – schlicht gelogen ist, hat trotz des wirrköpfigen und eitlen Philosophen Jacob Taubes (1923–1987), der sich selbst als «Erzjude» bezeichnete und geschmeichelt mit Schmitt diskutierte, der Historiker Raphael Gross in aller syste­ma­tischen Sorgfalt aus den Quellen unwiderleglich nachgewiesen.

Aber auch jenseits der Kreise der Neuen Rechten bleibt Deutschland von Debatten, über denen der Geist Carls Schmitts schwebt, nicht unberührt. Trotz der verfassungsgerichtlichen Zurückweisung eines Luftsicherheitsgesetzes, das den staatlichen Abschuss gekidnappter Flugzeuge mit Todesfolgen für unschuldige Passagiere in Kauf nehmen wollte, trotz der Ablehnung eines von der Sozialdemokratie vorgeschlagenen Staatsrechtslehrers als künftigem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, misst die deutsche Jurisprudenz in Kommentaren und Entwürfen den Ernst- und Ausnahmefall aus.

Sei es, dass der Strafrechtler Günther Jacobs ein nicht mehr dem Schutz der Menschenwürde unterliegendes «Feindstrafrecht» propagiert, sei es, dass die Grundgesetzkommentatoren Matthias Herdegen und Horst Dreier den Wert der Menschenwürde unter bestimmten Bedingungen zur «Abwägung» stellen wollen, sei es dass der Heidelberger Rechtslehrer Winfried Brugger die Folter legitimieren will – der Chor jener, die die universalistische Schutzpflicht des Grundgesetzes zugunsten aller Menschen in Zeiten des Terrors und brutaler Kriminalität aufweichen wollen, schwillt an.
 

Auf Umwegen salonfähig

Dieser Tonfall ist neu – gleichwohl hat sich hierzulande noch kein Politiker direkt zu Carl Schmitt bekannt, es sei denn, dass etwa der Bundesinnenminister in gewundener Weise auf ein Buch verweist, das man in derlei Zusammenhängen bitte zur Kenntnis nehmen möge. Indem Schäuble überhaupt Otto Depenheuers 2007 erschienenes Buch «Selbstbehauptung des Rechtsstaates» in einem Interview mit der «Zeit» positiv ins Gespräch brachte, hat er als erstes Mitglied dieses Kabinetts das Denken Carl Schmitts indirekt salonfähig gemacht. Der von Schmitt geprägte Depenheuer räson­iert nicht nur über einen «Ausnahmezustand», sondern auch über ein «Bürgeropfer».

Ansonsten wird man bis zu den nur spärlich dokumentierten Gesprächen des Krisenstabes der Bundesregierung nach der Entführung Schleyers und einer Lufthansa-Maschine zurückgehen müssen, um Reden vom Ausnahmezustand zu begegnen. Schmitts Namen selbst wird man dort nicht finden. Vor allem aber ist es ein Schüler Schmitts, der katholische Jurist Ernst Wolfgang Böckenförde, der von konservativen Politikern immer wieder gerne zitiert wird. Von Böckenförde stammt das nie begründete Diktum, dass die Demokratie von Voraussetzungen lebe, die sie selbst nicht schaffen könne. Warum soll das eigentlich stimmen?

Zudem: ein Blick in die keineswegs nur modische, sondern höchst aktuelle Debatte politischer Philosophie der letzten Jahre zeigt – sogar, wenn man schlichtere Geister wie Chantal Mouffe nicht berücksichtigt –, dass Linder Recht hat. Weder Jacques Derri­da noch vor allem Giorgio Agamben sind in ihrer Argumentation und Wirkung ohne das begriffliche Rüstzeug aus Schmitts Denken zu begreifen. Dabei teilen weder Derrida noch Agamben Schmitts politische und normative Ziele; sie lesen sein Werk symptomatologisch. Carl Schmitt – das ist seit Jahren der Tenor einer zunächst in Italien anhebenden, «linken» Lektüre – habe gleichsam wider Willen die Wahrheit über das Wesen des Politischen, jedenfalls unter kapitalistischen Bedingungen, ausgesprochen. Zumal Giorgio Agamben pflichtet Schmitt dort bei, wo es gegen die vermeintlichen Illusionen des Rechtspositivismus und gegen die Ideen einer diskursiven und deliberativen demo­kratischen Kultur geht. Auf dem Grunde und jenseits des Rechtszustandes, ihn überhaupt erst ermöglichend, existiere, so Agamben, der Ausnahmezustand, der sich geschichtsphilosophisch im Konzentrationslager konkretisiert: Ausdruck der Wahrheit politischer Organisation in der Moderne! Das Konzentrationslager als Einschluss des Ausschlusses von Menschen, die allenfalls als Träger eines animalischen, nicht jedoch eines bewusst geführten und respektierten Lebens vernutzt werden; so offenbart sich der biopolitische Kern aller Vergesellschaftung. Jacques Derrida wiederum hat sowohl in seiner «Politik der Freund­schaft» als auch in seinem Buch über das Wesen von «Schurkenstaaten» Schmitt so weit Recht gegeben, dass gerade dort, wo es vermeintlich am unpolitischsten zugeht, die absolute, hyperpolitische Feindschaft ihre äußerste Zuspitzung erfahre.

Ganz schlicht rassistisch

Indes ist eine systematische Debatte, wie sie Agamben und Derrida gerne führen würden, hierzulande dadurch behindert, dass man Carl Schmitt eben auch – sogar, wenn er dann und wann von der SS angefeindet wurde – als überzeugten Antisemiten und juristischen Wegbereiter eines rassistischen und mörderischen Unrechtsstaates nur allzu gut kennt. Carl Schmitt jedenfalls feierte den Nürnberger Parteitag der NSDAP von 1935, an dem die natio­nalsozialistischen Rassegesetze verkündet wurden, als «Reichsparteitag der Freiheit».

«Nach den Gesetzen vom 15. September», so Schmitt, «sind deutsches Blut und deutsche Ehre Hauptbegriffe unseres Rechts. Der Staat ist jetzt ein Mittel der völkischen Kraft und Einheit. … Die Fundamente unserer völkischen Ordnung stehen jetzt fest: Das deutsche Volk mit seinem Führer als Staatsoberhaupt und oberstem Gerichtsherrn der Nation; der Orden der nationalsozialistischen Bewegung als der Hüter unserer Verfassung; die deutsche Wehrmacht mit dem Führer als oberstem Befehlshaber.»

Carl Schmitt war schon immer ein Judenhasser, wie die von Christian Linder ausgiebig zitierten frühen Tagebücher zeigen, und er blieb es auch nach dem Krieg – erst die Gründung des Staates Israel mit der damit einhergehenden relativen «Normalisierung» der Juden schien seine Besessenheit abklingen zu lassen. Schmitts Anti­semitismus, das zeigt zumal das in den Jahren 1945 bis 1947 verfasste «Glossarium», war auch nicht, wie immer wieder vorgebracht, theologisch, sondern schlicht rassistisch grundiert: Ende September 1947 trägt der nun knapp Sechzigjährige ins Tagebuch ein, dass die «Juden immer Juden bleiben. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann. Das hat nichts mit nordischer Rasse usw. zu tun. Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind».


Ein Rätsel, das keines ist

So entsteht ein Rätsel, dessen Lösung Linders ganzes Buch durchzieht: Wie war es möglich, dass ein zweifelsohne kluger Kopf und brillanter Publizist, ein politischer Denker von Graden, von dem sich ganze Generationen nicht nur deutscher Juristen, Philosophen, Theologen und Politikwissenschaftler prägen und beeinflussen ließen, politisch die unerträglichste aller Optionen gewählt hatte, persönlich von durchschnittlichstem Opportunismus motiviert und lebensgeschichtlich von beispielloser Unwahrhaftigkeit war?

Diese Unwahrhaftigkeit offenbarte sich etwa bei Schmitts Nürnberger Verhör durch Robert Kempner, als der Befragte auf Vorhaltungen zu seinen judenfeindlichen Äußerungen im juristischen Kontext darauf beharrte, sich nur fachlich geäußert zu haben, obwohl doch das in etwa gleichzeitig entstandene Glossarium das Gegenteil erweist.

Christian Linder verschweigt an der cause scandaleuse dieses Lebens so gut wie nichts, und wer sich bisher mit Carl Schmitt nicht oder nicht ausführlich beschäftigt hat, wird mit seinem Buch und den darin überaus geschickt und ausführlich montierten Zitaten auf jenen Stand gebracht, der ein nicht nur oberflächlich informiertes Mitsprechen ermöglicht. Linder ist eben auch ein erfahrener Autor von Hörspielen, und so zeugt die Weise, wie er die Vielfalt widerstrebiger Stimmen von und über Schmitt zu einem spannenden Dialog fügt, von hohem technischen Können. Sein Buch ersetzt ganze Bibliotheken nur schwer zugänglicher Literatur.

Indes: des Autors Ehrgeiz geht über das Verfassen eines gut lesbaren und lebendigen Sachbuchs weit hinaus. Die geschickt arrangierten, fiktiven Gerichtsszenen sowie die imaginären Spazier­gänge mit Schmitt auf sauerländischen Höhen dienen auch einem Selbstklärungsprozess, einer Trauerarbeit, die sich in den Reigen der anfangs genannten biografischen Abschiede nahtlos einfügt. Freilich ist festzustellen, dass dieser Abschied, Linders Trauerarbeit, noch nicht das letzte Wort in der Sache sein kann: Zu sehr geht der Autor dem Objekt seines Interesses ein allerletztes Mal auf den Leim.

Und zwar deshalb, weil Linder in geradezu obsessiver Weise Schmitts eigene Lebenslüge bekräftigt – die doch in der Behauptung bestand, dass es bei diesem Leben um ein tiefliegendes Geheimnis, ein «ar­canum» gehe: «Im letzten Grund ist Schmitts Werk», so Linders Credo, «nichts anderes als Literatur mit all den in jeder Literatur verborgenen Geheimnissen und Dämonen, die die Texte, auch der darin enthaltenen unberechenbaren Gewalt, mit Spannung und nervöser Erwartung aufladen. Nur als solche Literatur, deren tief in der Person Schmitts liegende Entstehungsbedingungen im Dunkeln liegen … konnten diese Texte eine derart große Faszination und weltweite Wirkung entfalten.» Immer wieder übernimmt Linder diese Selbstdeutung Schmitts, «das Geheimnis seiner Person, das Schmitt selber Arcanum genannt hat», und beschwört den «persönlichen Hintergrund seines Blicks auf die Welt, das Geheimnis seiner eigenen Person». Schmitt wurde, so legitimiert der Autor seine Bemühungen «zu einem der größten Rätsel der europäischen Geistesgeschichte».

Ob Linder Schmitts Bekannten Hugo Ball anführt, der in dessen frühen Werken einen «geheimen unterirdischen Bauplan» erkannt haben will; ob er gegen Ende des Buchs behauptet, dass Schmitt «den tiefsten Blick in sein Arcanum verweigert und die letzte Konsequenz seiner Theorie nicht verraten» habe – stets wird ein Rest, eine unauflösliche Frage auch dann noch postuliert, wenn doch alle Antworten bereits gegeben sind.

Dabei gibt Linder selbst Anworten: Anhand der spät edierten persönlichen Tagebücher Schmitts aus seinen jungen Jahren präpariert er das Bild eines haltlosen und innerlich unsicheren jungen Mannes heraus, der sich – sexuell verunsichert – intellektuell vom Nihilismus angewandelt sieht und sich im Lauf der Jahre in das institutionelle Korsett eines katholischen Glaubens flüchtet, welcher, wenn schon nicht Heilsgewissheit, so doch politische Stabilität sowie die dazu notwendigen Feindbilder anbietet.


Ein nihilistischer Gnostiker

Stärker noch als andere Autoren nimmt Linder Schmitts persönliche Religion ernst, identifiziert sie aber anhand des «Glossariums» als die Häresie von Dostojewskijs Großinquisitor, dem es nach Schmitts Worten darum ging, «die Wirkung Christi im sozialen und politischen Bereich unschädlich zu machen, das Christentum zu entanarchisieren, ihm aber im Hintergrunde eine gewisse legitimierende Wirkung zu belassen und jedenfalls nicht darauf zu verzichten.» Das macht Schmitt nach Linders Auffassung zu einem Marcioniten: also zu einem Anhänger Marcions, jener kirchengeschichtlich bedeutsamen Gestalt aus dem frühen zweiten Jahrhundert, die den Schöpfergott des Alten Testaments scharf vom Erlösergott des Neuen Testaments unterschied und jenen sowie dessen Schöpfung gar für den Inbegriff des Bösen hielt. Indem Linder zeigt, dass Schmitt in seiner «Politischen Theologie II» eine unüberbrückbare Feindschaft zwischen einem welt-fremden Gott der Liebe und einem allwissenden und allgütigen Schöpfergott ansetzt, sieht er ihn auf der Seite des drei­einig gedachten Schöpfergottes.

Wie aber kommt es dann zu der eigentümlich apodiktischen Behauptung: «Schmitt war Gnostiker»? Ein Gnostiker, so ließe sich ergänzen, der sich willentlich und bewusst gegen den Gott der Erlösung auf die Seite des Demiurgen, des Herrn der gefallenen Welt, schlug. Wenn dem tatsächlich so wäre, Schmitt also nicht als Autor der «eigentlichen katholischen Verschärfung», sondern als ein im Glauben geradezu antichristlicher, die Hülle des Christentums nur aus Herrschaftsinteressen nutzender Theoretiker zu gelten hätte, wäre das Rätsel gelöst und das Geheimnis offenbart: Auf dem Grunde von Schmitts ganzer Existenz, zu der seine Theorie unablösbar gehört, waltet das Nichts, ein Nihilismus, der immer schon in Gestalt des juristischen und politischen Dezisionismus bereit war, alle christlich-humanistischen Ideen entschlossen über Bord zu werfen.

Gibt es aber ein Geheimnis hinter diesem nun aufgedeckten Geheimnis? Und vor allem: war Schmitt in diesem Sinne tatsächlich ein (nihilistischer) Gnostiker – wo doch die historischen Gnostiker nach eigener Überzeugung alles andere als nihilistisch waren? Auf jeden Fall lehnte Schmitt 1947 jedes Warten auf einen anderen, einen besseren Zustand ab, was ihn nicht eben zu einem Gnostiker, sondern zu einem kräftigen Bejaher des Gegebenen werden ließ, der 1947 so weit ging, jedes Warten auf bessere Zustände schon als «Verjudung» zu bezeichnen. Schmitt erscheint daher als jemand, der erkannt hat, dass die Welt grundsätzlich heillos ist und entpuppt sich in dieser Hinsicht als ein Gnostiker, der indes die Hoffnung auf eine Errettung aus dieser Heillosigkeit längst aufgegeben hat – so weit offenbart er sich tatsächlich als Nihilist. Allerdings doch als ein christlicher Nihilist, dessen ganzes Werk sich in Linders Augen um jene drei Mächte dreht, die auch Dostojewskijs Großinquisitor benannt habe: das Wunder (weltlich gesagt: der Ausnahmezustand), das Geheimnis sowie die Autorität (das heißt die letztlich grundlose Souveränität).

Versöhnung in der Provinz

Linder, der das vermeintliche Geheimnis längst gelöst hat, umkreist es gleichwohl weiter. So belässt er der ihm allen Anfechtungen zum Trotz liebgewordenen Gestalt einen Rest seiner Faszination und versöhnt sich mit ihm. Am Ende – es handelt sich wirklich um einen Fall von Trauerarbeit – tritt Linder mit Niklas Frank an Schmitts of­fenen Sarg und überlässt dem Sohn des in Nürnberg hingerichteten Hans Frank, der wähnte, Schmitts natürlicher Sohn zu sein, das letzte, nein, das vorletzte Wort seines Buchs: «Nie hab ich ihn gesehen, lebend nicht, jetzt will ich ihn wenigstens einmal berühren.» Linder selbst schließt sein auf den Haupttext folgendes, kurzes persönliches Nachwort, als ob er dem Verstand seiner Leser nicht traute: Er klärt über seine Montagen auf und verweist, mit einem innigen Bekenntnis zum Sauerland, das auch seine eigene Heimat ist, auf ein Grundgefühl, das er mit Schmitt, jenem «Vordenker der Vernichtung» (Fried­­­­rich Balke) teilt. Dieses Grundgefühl findet seinen Ausdruck in der allerletzten Zeile, einer Zeile von Schmitts Lieblingsdichter Theodor Däubler: «Der Ozean ist frei und freier noch sind Quellen.»

So endet dies lesenswerte Buch in einer Versöhnung: Wenn der Ozean das Medium der von Schmitt geradezu metaphysisch bekämpften Händler und Angelsachsen, wenn nicht gar der Juden war, so gehört das Wasser der Quellen doch jenen Hügeln und Landschaften zwischen «Landtrassen und Feld-, Wiesen- und Waldwegen zwischen Plettenberg, Pasel und Finnentrop, Neuenrade, Affeln und Attendorn, Sorpesee, Öster- und Versetalsperre, Ebbe- und Lennegebirge», kurz: dem Sauerland an. Diese Landschaft mit «Freiheit» in Verbindung zu bringen, verweist auf den hohen Preis, den eine vermeintlich gereifte Versöhnung mit den menschenfeindlichen Traditionen der deutschen Kultur erfordert: Provinzialität und Regression.

 

Micha Brumlik lehrt Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen seine «Kritik des Zionismus» und «Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts».

 

Bücher zum Thema

Christian Linder
Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land
Matthes & Seitz, Berlin 2008. 448 S., 28,90 €

Raphael Gross
Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 459 S., 15 €

Dirk van Laak
Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik
Akademie, Berlin 2002. 331 S., 39,80 €

Reinhard Mehring
Carl Schmitt zur Einführung
Junius, Hamburg 2006. 159 S., 12,50 €

Jan-Werner Müller
Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007. 300 S., 39,90 €

Giorgio Agamben
Ausnahmezustand. Homo sacer II.1
Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 113 S., 9 €

Jacques Derrida
Schurken. Zwei Essays über die Vernunft
Aus dem Französischen von Horst Brühmann.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 219 S., 10 €

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