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Psychatriediagnosen - Wenn aus Emotionen Krankheiten werden

In seinem Buch "Normal" kritisiert Allen Frances Psychiater, die unsere emotionalen Reaktionen als Krankheiten diagnostizieren

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Lieder, Marianna

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Vor nicht allzu langer Zeit handelten sich junge Witwen, denen die schwarze Tracht vor Ablauf des Trauerjahres zu eintönig wurde, allgemeine Missbilligung ein. Wer aber heute den Tod seines Partners verarbeiten muss, dem bleiben nurmehr wenige Wochen. Ist die Alltagstauglichkeit dann nicht wieder hergestellt, droht das Stigma «geisteskrank». Hält man sich nämlich an die Bestimmungen des DSM-5 – so das Kürzel für die druckfrische Version der «Bibel der Psychiatrie» – währt eine «normale» Trauerphase in der Regel vierzehn Tage. Dauern Schlafstörungen, Ängste und mangelnde Lebensfreude länger an, verwandeln diese notwendigen, heilsamen Reaktionen auf einen Schicksalsschlag sich nach Medizinerauffassung in die untrüglichen Symptome einer klinischen Depression.

Seit Mai 2013 orientieren sich amerikanische Ärzte an der fünften Fassung des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders». Das internationale ICD-System, auf welches das Gesundheitssystem auch hierzulande geeicht ist, steht kurz vor einer Reform, die von den geltenden DSM-Kriterien maßgeblich beeinflusst sein wird. Mit Allen Frances ruft nun ein besonders kompetenter Kritiker zur Skepsis gegen diese Veränderungen auf. Die Vorgängerversion des aktuellen Handbuchs, das 1994 veröffentlichte DSM-IV, entstand unter seiner Leitung. Im Rückblick bezichtigt sich Frances selbst als Wegbereiter einer beklagenswerten Entwicklung seiner Zunft. Erst die durch das DSM-5 veranlassten Diagnose-Exzesse hätten ihm das aber bewusst gemacht.

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In der Pathologisierung des natürlichen Trauergefühls sieht Frances bloß die Spitze des Eisbergs. Vielen Mode-Epidemien, warnt er in seiner Streitschrift «Normal», seien durch das neue Standardwerk die Schleusen geöffnet worden: So lassen sich fortan die Wutanfälle eines Dreijährigen in der Trotzphase unter der Bezeichnung «Disruptive Mood Disregulation Disorder» als eine Art Impulskontrollstörung therapieren. Das unumgängliche, altersbedingte Nachlassen des Gedächtnisses wurde unter der Bezeichnung «mild neurocognitive disorder» zur Geistesstörung erklärt. Für jeden Spleen, jedes Wehwehchen, jede Leidenschaft findet sich im DSM-5 das passende Etikett, und die Pharmaindustrie bastelt bereits an den entsprechenden Pillen. Politik und Justiz lehnen sich derweil entspannt zurück, bis das psychologische Gutachten ihnen die Entscheidung abnimmt, ob der Angeklagte nun auf den elektrischen Stuhl oder die Psychiater-Couch gehört.

Obgleich Frances in erster Linie amerikanische Verhältnisse im Blick hat, fällt sein Buch ins Standardrepertoire der auch hierzulande längst wohlbekannten Kritik an der überdiagnostizierten Wohlstandsgesellschaft. So aufschlussreich sein Anti-DSM-5-Pamphlet auch sein mag, so wenig neu ist seine Perspektive. Frances berichtet von Zufällen, persönlichen Eitelkeiten, methodologischen Fragwürdigkeiten und ökonomischen Interessen, die für die Entstehung psychiatrischer Standards entscheidend sind. Also von jener menschlich-allzumenschlichen Realität, der sich Frances eigentlich so vehement verschrieben hat.

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