Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Machtarithmetik - Der politische Protestantismus siegt

Dienendes Ethos übertrumpft grelles Ego: Peer Steinbrücks Scheitern zeigt den Siegeszug der protestantischen Kultur in der politischen Sphäre. Pfarrerstochter Angela Merkel und Joachim Gauck sind die besten Beispiele

Autoreninfo

Christine Eichel ist Journalistin und Autorin. Sie promovierte über Theodor W. Adorno und leitete bis April 2010 das Cicero-Ressort Salon.

So erreichen Sie Christine Eichel:

Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Mai). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 

 

Der Empörungspegel ist hoch. Wohl selten hat ein Kanzlerkandidat für derart viel Unmut gesorgt, und das, noch bevor der Wahlkampf richtig begonnen hat. Fehler, Fettnäpfchen, falsche Töne. Wie konnte es zu der bemerkenswerten Aversion gegen einen Mann kommen, auf dessen Fehltritte geradezu gelauert wird? Woher rührt der notorisch negative Reflex?

Peer Steinbrück versucht, sich als Klartexter zu stilisieren. Er spreche doch nur aus, was viele denken, verteidigt er sich. Damit bemüht er den alten Mythos, dass öffentliche und veröffentlichte Meinung weit auseinanderklaffen. Sein wahrer Fehler ist jedoch nicht der kantige Klartext, es ist ein Denkfehler: zu meinen, der Wähler favorisiere einen Haudegen, der sich mit markigen Sprüchen, einträglichen Nebengeschäften und einem Faible für erlesene Weine positioniert.

In Zeiten, in denen Parteiprogramme verwechselbar sind – wenn sie denn überhaupt gelesen werden – und in denen man sich gegenseitig Themen wie Mindestlohn und Homo-Ehe abjagt, sind Menschen Programm. Die Personalisierung von Politik ist nicht neu. Doch mit den Kontrahenten Angela Merkel und Peer Steinbrück gewinnt sie Konturenschärfe. Ein Blick auf jene, die mehr Fortune auf dem politischen Parkett haben, verrät die kollektive Sympathie für einen ganz anderen Typus, als ihn Peer Steinbrück verkörpert. Dabei fällt eine eigentümliche Symptomatik auf: das Pfarrhaus als Ressource des politischen Personals.

Schauen wir zur Spitze der Republik. Angela Merkel ist Pfarrerstochter, Joachim Gauck war lange Pfarrer. In der Nachfolgedebatte um Christian Wulff wurden neben Gauck weitere evangelische Theologen genannt: Margot Käßmann beispielsweise, Altbischof Wolfgang Huber. Katrin Göring-Eckardt, Präses der EKD und Ehefrau eines Pfarrers, obsiegte jüngst über ihre Gegenspielerin Claudia Roth. Offenbar sorgen Gestus und Habitus des Pfarrhauses für einen kräftigen Vertrauensvorschuss, für die freundliche Unterstellung ethischer Integrität aus dem Geist von Hausmusik und Tischgebet. Ja, es scheint, als seien evangelische Pfarrhäuser geradezu Kaderschmieden für Ämter mit höchstem Symbolwert und moralischer Leuchtturmfunktion. Die Pfarrhausherkunft wirkt wie ein Gütesiegel in einem politischen Klima, in dem mancher auffallend geschmeidig seine Prinzipien auswechselt. Oder gar nicht erst welche hat.

Vom Aroma der Pfarrhausherkunft ist Peer Steinbrück weit entfernt. Zwar ist er selbst evangelisch, hat sogar Pastoren unter seinen Vorfahren und soll ein Luther-Verehrer sein. Dennoch bricht er geräuschvoll die Regeln dieses Milieus. Woran er letztlich scheitert, ist der Siegeszug der protestantischen Kultur in der politischen Sphäre. Vor allem Pfarrerskinder verinnerlichten die moralischen und ästhetischen Codes des Elternhauses. Merkel ist das prominenteste Beispiel dafür. Sie repräsentiert den heilignüchternen Pfarrhausbewohner mit all jenen Tugenden, die Konjunktur haben: Bescheidenheit, Pflichtgefühl, unprätentiöses Auftreten. Dabei mischen sich Qualitäten des Pfarrhauses mit den Sekundärtugenden preußischer Couleur: Selbstdisziplin und Verantwortungsbewusstsein, Sparsamkeit, Unbestechlichkeit, Zuverlässigkeit. „Dienst ist alles“, sagt ein preußischer Offizier in Fontanes „Stechlin“. „Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.“

Es ist das Ethos des Dienens, nicht die grelle Selbstinszenierung. Angela Merkel bedient dieses Ethos instinktsicher. Schon äußerlich nimmt sie sich zurück. Mit den immer gleichen Dreiknopfjacketts uniformiert sie sich – kein elegantes Kostüm, keine Koketterie lenken vom Amt ab. Während Politikerinnen in Frankreich oder Italien ohne Weiteres in Designeroutfits auftreten, ist solch noble Eleganz in Deutschland verpönt. Gleichzeitig wirkt die Kanzlerin entsexualisiert in ihrer Arbeitsuniform, ganz in der eher prüden Tradition des Pfarrhauses. Einmal nur wich die Kanzlerin von ihrer textilen Strategie der planvollen Untertreibung ab: als sie im April 2008 zur Eröffnung der Osloer Oper ein üppiges Dekolleté präsentierte. Allein in Deutschland beschäftigten sich 78 der 302 Artikel und Hörfunkbeiträge über das Event mit dem Kleid der Kanzlerin, errechnete die Osloer Tourismusförderung. Hoppla, sie ist eine Frau!

Angela Merkel hat nie wieder ihr dirndltaugliches Dekolleté gezeigt. So wollte sie nicht gesehen werden, als Objekt der Begierde, als Frau hinter der Uniform. Sie hatte längst verstanden: Die Leibfeindlichkeit des Pfarrhauses ist weit entfernt von fröhlichem Hedonismus, und genau das macht sie mit dem Anforderungsprofil des Politikers kompatibel. „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?“, heißt es im Neuen Testament. Seit Luther stehen Pomp und Pracht vollends unter dem Verdacht der Prätention. Wer im evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen ist, hält sich zurück, zuweilen in fast klösterlicher Askese.

Diese Haltung hat heute Leitbildpotenzial. Denn nicht nur bei der Kleidung, auch beim Essen und Trinken schaut man genau hin, wenn es um die politische Bonität geht. Schon die eher harmlose Bemerkung Steinbrücks, er würde keinen Pinot Grigio unter fünf Euro trinken, löste eine heftige Debatte aus. Unvergessen ist auch die Aufregung über Gerhard Schröders Brioni-Anzüge. Ein Pastor im Porsche hätte ähnlich irritiert. Angela Merkel dagegen lässt sich beim Einkaufen im Supermarkt fotografieren und beteuert, sie bevorzuge Hausmannskost. Auch Sahra Wagenknecht hat verstanden, wie wichtig solche Details sind. Sie löschte einst eigenhändig Fotos, die sie beim Hummeressen in Straßburg zeigten.

Petitessen? Wohl eher sind es Fußnoten zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem krisengebeutelte Wähler fürchten, dass an höchster Stelle womöglich Wasser gepredigt und Wein getrunken werde. Natürlich geht es nicht nur um Äußerlichkeiten. Doch die Oberflächen werden zunehmend wichtiger. Das Sichtbare rückt in den Fokus, denn kaum ein Laie kann noch beurteilen, welche politischen Konzepte angemessen sind. Sachthemen wie die Lösungsansätze zur Rettung des Euro sind hochkomplex, kaum vermittelbar fürs große Publikum. Klar kann man darüber reden, aber wer hört schon zu, wenn wieder einmal eine Talkshow über die Finanzkrise ansteht? TMI nennt man so etwas in der Terminologie der Kommunikationsstrategen: too much information. Deshalb sind Menschen zum Programm geworden. Was Menschenkenntnis betrifft, hält sich jeder für einen Spezialisten: Sage mir, wie du dich verhältst, und ich sage dir, wer du bist – und ob ich dich wähle.

Damit geraten Stil- und Haltungsfragen ins Zentrum des Interesses. Und es spricht immer mehr dafür, dass man heute vom Politiker verlangt, was einst den idealen Pfarrer auszeichnete. Zu dessen Image gehörte traditionell aufopferungsvoller Fleiß. In der Bibel heißt es über das Leben: „Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.“ Das klingt nach einem reichlich spaßbefreiten Credo, aber Angela Merkel macht vor, wie es sich in eine erfolgversprechende Strategie verwandeln lässt. Ihr Bienenfleiß wird gerühmt, so wie die unerschütterliche Disziplin, mit der sie nächtelange Sitzungen übersteht und auch nach transatlantischen Flügen konzentriert vor die Kameras tritt. Hier kommt die protestantische Arbeitsethik ins Spiel. Sie zeichnet sich durch eine hohe Innenleitung aus. Wer sie überzeugend vermittelt, steht nicht im Ruch, es auf Ruhm oder Geld abgesehen zu haben. Wenn Steinbrück erklärt, ein Kanzler verdiene zu wenig, muss er sich nicht wundern, dass ihm seine Glaubwürdigkeit verloren geht. Sofort kommt der Verdacht auf, hier wolle jemand Kapital aus seinem Amt schlagen.

Von jeher war es ein Distinktionsmerkmal protestantischer Kreise, nie über Geld zu sprechen, um ja nicht den Eindruck der Gier zu erwecken. Welchem Pfarrer würde man schon attestieren, er verfolge mit seinem Amt finanzielle Interessen? Das leidenschaftslose Verhältnis zum Geld wird in der Außenwahrnehmung oft als Qualität des Protestantischen gesehen, und als Qualität des Pfarrhauses. Denn es gilt auch der Umkehrschluss: Wenn ein Pfarrer sich nichts aus Luxus macht, kann er nicht in Versuchung geraten, sich Luxus unredlich zu erwerben. Bestechlichkeit ist daher weitgehend ausgeschlossen. In einer ökonomisierten Gesellschaft hat das Pfarrhaus damit gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal. Womit wir bei einem weiteren heiklen Punkt wären, dem Eindruck unzulässiger Komplizenschaft mit den Reichen dieser Welt.

Als bekannt wurde, dass der inzwischen eingestellte „Peer-Blog“ von zahlungskräftigen Unternehmern finanziert wurde, hatte Steinbrück Mühe, den Imageschaden in Grenzen zu halten. Noch war in Erinnerung, dass Christian Wulff über allzu innige Beziehungen zu Unternehmern gestolpert war. Nicht zuletzt ein Urlaub auf Sylt, der Insel der Reichen und Schönen, sorgte für Stirnrunzeln: Dort hatte der Filmproduzent David Groenewold 2007 die Hotelrechnung für Wulff bezahlt. Wulffs Rechtsanwalt erklärte, sein Mandant habe Groenewold die Summe in bar erstattet – ein Geschmäckle blieb. Angela Merkel dagegen wandert in den Dolomiten, ohne glamouröse Freunde. Außerdem residiert sie nicht in einer Villa, die von Privatkrediten vermögender Freunde finanziert werden muss, sondern begnügt sich mit einer Etagenwohnung. Es war Martin Luther, der als Erster das lateinische Wort „modestia“ im Sinne von Genügsamkeit und Verzicht übersetzte. Darin mitgedacht ist, dass die Bescheidenheit nicht durch Armut erzwungen, sondern eine selbst gewählte Lebensform ist. Merkel führt das so beiläufig vor, dass man es fast schon wieder virtuos nennen kann. Selbst der neue Papst hat den Zeitgeist verstanden: Schlichtheit und Bescheidenheit stehen neuerdings auch auf der Agenda des Oberhaupts der Katholiken.

Natürlich spielt auch die DDR-Herkunft für den Erfolg Merkels und Gaucks eine Rolle. Im ostdeutschen Pfarrhaus bildete sich eine eigene Identität im Schatten der Macht aus, jenseits des real existierenden Machtmissbrauchs. Die Verhältnisse waren karg, täglich fand ein moralischer Lackmustest statt. Das Pfarrhaus konnte seine Glaubwürdigkeit in der DDR nur aufrechterhalten, wenn es innerlich unabhängig und äußerlich unbestechlich blieb. So etwas prägt. Man mag beklagen, dass der politischen Kultur Deutschlands mit dem Protestantismus das nötige Quäntchen Übermut und auch das Spielerische abhandenkommt, das die Politik von jeher beatmete und attraktiv machte. Ein bisschen mehr Sinnlichkeit und Showbiz dürften schon sein. Doch die Umfragewerte sind eindeutig. Fleiß, Pflichtgefühl, Bescheidenheit statt Egopirouetten und finanzieller Interessen – damit punktet die Kanzlerin und Pfarrerstochter, das grenzt den Ex-Pfarrer Gauck von seinem gestrauchelten Vorgänger Wulff ab.

Steinbrück, der egobetonten Machtwillen zur Schau stellt, hat sich demgegenüber selbst diskreditiert. In der protestantischen Kultur wirkt er so deplatziert wie ein Fleischesser im Veganerclub. Ein neuer Beraterstab, so ist zu hören, arbeitet fieberhaft an einer Imagekorrektur. Was die Berater Steinbrück empfehlen sollten, um zu reüssieren, ist Demut. Genau jene Demut, die zum Tafelsilber, pardon, zum Alltagsbesteck der protestantischen Kultur gehört. Doch auch wenn der Wolf Kreide frisst, bleibt er ein Wolf. Die Spin-Doctors und Coaches werden Steinbrück den einen oder anderen Schafspelz verpassen, ändern werden sie ihn nicht. Dafür sind seine Wolfsinstinkte zu vital, seine Lust an der Provokation, auch seine Eitelkeit. Posen kann man einstudieren, Haltung nicht. 

Christine Eichel lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr „Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht“ (Quadriga-Verlag).

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.