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() Marcel Reich-Ranicki
„Kritiker sind einsam“

Kein zweiter Kritiker in Deutschland kann sich rühmen, mit dem Etikett des Papstes als ultimative Instanz anerkannt worden zu sein. Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat diese Ehre – und viel Feind. Mit Cicero sprach er über Einsamkeit, Politik und Gott

In einem späten Goethe-Gedicht steht der Satz: „Ein alter Mann ist immer ein König Lear“. Gilt das auch für Sie?
Das ist schon deshalb schwer zu sagen, weil Lear drei Töchter, Goneril, Regan und Cordelia, hatte, ich aber habe nur einen Sohn.

Aber es gibt auch die geistigen Söhne. Wurden Sie enttäuscht?
Ja, die geistigen Söhne gibt es, meine Schüler, wie ich sie genannt habe. Das sind Redakteure, die bei mir als junge Leute, beinahe als Anfänger gearbeitet haben: Ulrich Greiner zum Beispiel, heute ist er bei der Zeit, im Spiegel ist Volker Hage, in der Welt Ulrich Weinzierl und Uwe Wittstock. Von diesen Redakteuren ist keiner eine Enttäuschung für mich. Menschliche Enttäuschungen im Rahmen der beruflichen Tätigkeiten sind eher jene Autoren, die noch sehr wenig bekannt waren und denen ich geholfen habe. Mit vielen war ich befreundet. Es stellte sich jedoch in einigen Fällen heraus, dass das, was Freundschaft zu sein schien, eine Illusion meinerseits war. Es ging ihnen nur darum, dass ich ihnen bei ihrer Karriere helfe. Nun, man fördert ja Autoren nicht, weil man Dankbarkeit erwartet. Dass aber die Dankbarkeit später so ganz ausbleibt – da ist man doch verwundert.

Können Sie das konkreter beschreiben?
Sie werden jetzt vermuten: Na, er meint die Ulla Hahn. Das ist gerade nicht der Fall. Ulla Hahn hat sich mir gegenüber tadellos benommen, ich ihr gegenüber weniger. Wenn da eine Anklage berechtigt wäre, dann sollte ich sie gegen mich selber richten. Was ich damit meine? Im „Literarischen Quartett“ haben wir einen Roman von Ulla Hahn besprochen. Nun glaubte ich und glaube auch noch heute, dass Ulla Hahn ein richtiges Talent der deutschen Lyrik jener Zeit ist – über eine epische Begabung aber verfügt sie nicht. Viele deutsche Lyriker können keine erzählende Prosa schreiben. Das gilt auch für Peter Huchel, Günter Eich, Paul Celan. Es fällt doch auf, dass Celan keine einzige Erzählung geschrieben hat, genauso wenig wie Eich oder Huchel oder auch Sarah Kirsch.

Werfen Sie sich im Nachhinein vor, dass Sie Ulla Hahns Buch öffentlich kritisiert haben?
Da habe ich mir etwas vorzuwerfen, denn Hellmuth Karasek hat mir ausdrücklich gesagt, wir sollten die Finger von dem Roman lassen. Er war, was das Urteil betrifft, ungefähr mit mir einig. Wir würden große Unannehmlichkeiten bekommen, warnte er mich, schließlich könnten und wollten wir nicht lügen. Doch damals war nichts auf dem Markt, und es war ein wichtiges Buch. Ich habe den Roman attackiert, zu scharf attackiert. Er ist nicht gut, aber zu solch einer Aufregung war auch wiederum kein Anlass. Literatur ist doch ein großes Spiel.

Andere Autoren dagegen haben Sie enttäuscht?
Ich habe sehr viel für eine Autorin getan, von der ich sehr viel gehalten habe und auch noch heute halte – -Sarah Kirsch. Doch sie hat alle Kontakte mit mir und meiner Frau abgebrochen. Schon seit vielen Jahren habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich denke, Herrgott, ja, sie braucht mich nicht, na gut, aber zweimal jährlich könnte sie mich vielleicht mal anrufen. Wenn ich anrufe, ist sie ganz lieb, auf sehr kühle Weise. Sie braucht mich nicht mehr. Aber das ist so in der Literatur.

Ist das Verhältnis von Kritiker und Autor nicht per se ein problematisches?
Die Beziehungen zwischen einem Kritiker und einem Autor sind immer heikel, weil der Autor Angst vor dem Kritiker hat. Er hat Angst, dass er sich im Gespräch eine Blöße geben könnte, die der Kritiker eines Tages zu seinen Ungunsten verwenden könnte. Die Folge ist, dass Kritiker in der Regel einsame Menschen sind. Ich war völlig verblüfft, als ich eines Tages erfuhr, dass der große Alfred Kerr ein ganz, ganz einsamer Mensch war. Plötzlich begriff ich, dass es bei mir ähnlich ist, dass auch ich einsam bin, eben wegen der Schwierigkeit der Kontakte zwischen Kritiker und Autor. Vergessen Sie nicht: Der literarische Autor arbeitet mit dem Material des Worts. Der Kritiker, der über dessen Novellen oder Lyrik schreibt, arbeitet mit genau derselben Materie, er arbeitet auch mit dem Wort, nur mit dem Wort…

…ein Kunstkritiker dagegen malt keine Bilder über Bilder…
…eben. Der Musikkritiker beispielsweise sollte möglichst Partituren lesen können, aber er komponiert nicht. Die Komplikationen, die der Beruf des Literaturkritikers nach sich zieht, beruhen auf dieser Tatsache. Ich bin ja mein ganzes Leben lang Kritiker gewesen. Ich habe von diesem Beruf schon in meiner Jugend geträumt. Nur, sehr merkwürdig, ich wollte gar nicht Literaturkritiker werden. Ich war sicher, der Beruf, den ich ergreifen würde, würde Theaterkritiker sein. Das hat damit zu tun, dass die Rolle des Theaterkritikers in der Weimarer Republik so groß war. Alfred Kerr war ein berühmter Mann, auch Herbert Ihering und andere waren bekannte Figuren des literarischen Lebens. Das hat Eindruck auf mich gemacht.

Sie lebten damals in Berlin, wo das Theater und die Debatte über Theaterstücke eine sehr große Rolle spielten.
Eine enorme Rolle. Im Jahre 33 wurde ich 13 Jahre alt. Doch die Kultur der Weimarer Republik dauerte keineswegs nur bis zum 30.Januar 33. Sie spielt noch hinein bis in die Jahre 33, 34, 35. Das war eine allmähliche Entwicklung. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Auch das Programm der deutschen Literatur für die Schule änderte sich, aber nicht von einem Tag auf den anderen. Es wurden noch lange die Lesebücher der Weimarer Republik für den Deutschunterricht verwendet. Erst allmählich kamen die Änderungen. Die Lehrer bekamen zwar Anweisungen, Heine dürfe nicht durchgenommen werden, aber Heine stand noch in den Lesebüchern. Das Gleiche galt für Brecht. Und unsere Bekannten, unsere Freunde hatten alle Schallplatten von der Dreigroschenoper und Mahagonny von Brecht und Weill. Bei meinen Freunden, bei meinem Schwager Gerhard Böhm standen in der Bibliothek die Bücher, die verbrannt wurden – Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, auch linke Autoren aus Amerika.

Ihr Schwager hat damals gesagt, er fürchte, dass Ihr intellektuelles Leben das eigentliche Leben verdrängen könnte. Und hat Ihnen den schönen Spruch mitgegeben: primum vivere, dein-de philosophari. Wenn Sie jetzt zurückblicken – haben die Bücher in Ihrem Leben eine größere Rolle gespielt als das pralle, sinnliche Leben?
Ja, eine Zeit lang schon. Ich war in deutschen Gymnasien und bin, obwohl Jude, nicht schlecht behandelt worden. Aber ich war natürlich ein totaler Außenseiter. Ich durfte nicht an Schulausflügen oder Sportfesten teilnehmen. Und das bedeutete, dass ich mehr Zeit hatte als andere Schüler. Diese Zeit habe ich vor allem für das Lesen von Büchern verwendet, sehr vielen Büchern. Zwischen dreizehn und achtzehn habe ich unglaublich viel gelesen. Primum vivere, deinde philosophari – ja, das ist ein Ausspruch, den er zitiert hat. Er hat auch ein Wort aus dem „Faust“ zitiert: „Ich sage es dir, ein Kerl, der spekuliert…“ – „spekuliert“ hat in dieser Epoche einen anderen Sinn, hat nichts mit Geldspekulation zu tun…

…eher mit Visionen…
…Sie haben recht. „Ein Kerl, ich sag’ es dir, ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier, auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herum geführt. Und rings umher liegt schöne grüne Weide.“ Das ist es, was mein Schwager befürchtete, dass die schöne grüne Weide des Lebens mir vorenthalten wird, weil ich unentwegt Thomas Mann gelesen habe und Schiller, Kleist, Keller, Storm, Fontane.

Sie haben sich damals als Außenseiter empfunden – das kann man immer nur im Bezug auf eine Gruppe. In der Schule ist man in einer Gruppe, auch in einer Redaktion vielleicht. Jetzt sind Sie nicht mehr täglich mit Gruppen konfrontiert. Wie ist das heute? Fühlen Sie sich immer noch als Außenseiter?
Ja, das ist das größte Außenseitertum, das es überhaupt geben kann, wenn man ganz allein ist, abgesehen von den sehr wenigen Freunden.

Hatten Sie auch im Literaturbetrieb das Gefühl, ein Außenseiter zu sein?
Vielleicht ist das Wort etwas zu hart. Vielleicht sollte man sagen – ich gehörte nie ganz dazu. Nehmen Sie die Gruppe 47. Da kam einer aus Warschau und wusste über den deutschen Expressionismus in der Lyrik oder über die deutsche Romantik sehr gut Bescheid, besser als die meisten Anwesenden. In der Gruppe 47 waren ja vor allem ehemalige Soldaten, die trugen noch zum Teil Kleidung, die aus Wehrmachtsmänteln geschneidert war. Für die war ich ein – Fremdling, dieses Wort trifft es eher.

Ist das der Grund, weshalb es sehr, sehr lange gedauert hat, bis Sie eine feste Anstellung bekamen?
Ja. Ich bekam zwar sofort Aufgaben und Arbeit, aber keiner wollte mich fest engagieren.

Auch nicht Die Zeit, für die Sie arbeiteten. Spielte ein versteckter oder offener Antisemitismus eine Rolle?
Das steht sogar im offiziellen Buch über Die Zeit – „man hatte Angst vor seiner Rabulistik“. Rabulistik ist ein Wort, das Goebbels verwendet hat. Es bedeutete bei Goebbels immer: jüdische Rabulistik, marxistische Rabulistik und dergleichen. Ich schrieb viel für Die Zeit. Aber Die Zeit wollte mich nicht haben. Schließlich kam ich zur FAZ. Natürlich war ich in der FAZ eine Figur, die es dort noch nie gegeben hatte. Da kommt einer, der ist Jude, polnischer Jude obendrein, und der wird hier Literaturchef. Er hat das Recht, über die Literatur frei zu schalten und zu walten. Und diktiert gleich am ersten Tag einen Brief an Heinrich Böll. Aber ein Fremdling war ich natürlich auch dort.

Wenn Sie jetzt Ihr Leben betrachten, hat die Welt der Bücher Sie am allermeisten in Atem gehalten?
Ja, aber am wenigsten im Krieg. Während des Kriegs habe ich eigentlich keinen einzigen Roman gelesen. Ich war ja in Warschau, dort habe ich Gedichte gelesen, deutsche, auch polnische Gedichte. Zur Literatur im weiteren Sinne bin ich erst nach dem Krieg zurückgekehrt. Ich habe mich während des Kriegs viel mehr mit Musik beschäftigt. Die hatte mir in dieser Zeit mehr zu sagen.

Weil die Musik vieldeutiger ist? Emotionaler?
Ja, man kann das so ausdrücken, denn Literatur erfordert Geduld, Konzentration, und das, was wir damals erlebten, fanden wir in der Literatur nicht wieder. In der Musik glaubten wir es wiederzufinden.

Sie blicken auf ein Leben voller Dramatik, voller erschütternder Erlebisse zurück. Ihre Autobiografie „Mein Leben“ liest sich so spannend wie ein Roman. Man könnte sie sicher wunderbar verfilmen.
Wissen Sie, ich habe ein ernstes Problem, es tut mir sehr leid, aber ich bin wütend! Mein Buch „Mein Leben“ soll seit Jahren verfilmt werden, es ist in der Hand der Produzentin Katharina Trebitsch, aber das Projekt dauert und dauert und kommt nicht voran.

Gibt es einen Schauspieler, den Sie sich als Darsteller von Marcel Reich-Ranicki wünschen würden?
Ich hatte einen, aber er entfällt, weil er mittlerweile schon zu alt ist. Er war im richtigen Alter, als er mir auffiel, vor etwa acht, zehn Jahren: Moritz Bleibtreu. Der schien mir ideal zu sein, um mich als Jugendlichen zu spielen, auch meine Frau sagte das.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihr Leben – worauf sind Sie stolz? Was bewerten Sie als gelungen?
Natürlich habe ich allerlei getan – aber zu sagen, was ich im Leben gut und schön gemacht habe, das widerstrebt mir.

Was bedauern Sie?
Oh, oh – ich habe viele Fehler gemacht. Ich habe manches getan, was ich bedaure. Also, eine Sache war ganz bestimmt falsch: Es ist verständlich und hat Gründe, dass ich Ende 1945 der Kommunistischen Partei Polens beigetreten bin. Aber: Es war falsch. Es hat Gründe damals in dieser historischen Situation gegeben, nachdem wir, meine Frau und ich, von den Russen befreit wurden. Man kann alles erklären, aber man wird nicht wegdiskutieren können, dass es falsch war. Da haben Sie ein großes Thema. Es gibt ein zweites Thema. Man kann genau erklären, und ich habe es ja auch erklärt, warum ich Ende 1949 nach meiner Zeit als Konsul in London nach Polen zurückgekehrt bin. Es war ein Fehler, ein großer Fehler. Ich hielt es damals für unzulässig, einfach das Land zu verraten und im Westen zu bleiben. Aber ich hätte es tun sollen. Erst 1958 bin ich von Polen nach Deutschland gegangen.

Als Literaturkritiker erlangten Sie nicht zuletzt durch Ihre Meinungsfreudigkeit rasch eine große Bekanntheit – und hatten bald auch Feinde.
Als ich nach Deutschland kam und erfreulicherweise von Hans Werner Richter zur Tagung der Gruppe 47 eingeladen wurde, musste ich ja den Leuten, die mich alle nicht kannten, zeigen, wer ich war. Da musste ich schon klar über diese Texte reden, und das habe ich dann auch getan. Damit waren nicht alle glücklich und zufrieden.

Viel Feind, viel Ehr! Ist das für einen Kritiker eine Auszeichnung – Feindschaften zu haben?
Das Wort: „Viel Feind, viel Ehr!“ ist gut, stimmt! Aber oft wäre ein bisschen weniger Feind ein bisschen besser gewesen. Ich hatte oft zu viele Feinde. Das hat auch mit meinem Temperament zu tun, das gelegentlich mit mir durchging, vor allem im „Literarischen Quartett“. Ich hätte meine Ansichten auch diplomatischer vortragen und etwas weniger Feinde haben können. Aber erheblich weniger Fernsehzuschauer hätten mich verstanden, wenn ich mich vorsichtiger geäußert hätte.

Hatten Sie zuweilen Loyalitätskonflikte? Sie sind zum Beispiel befreundet mit Siegfried Lenz, seine Bücher rezensiert haben Sie nicht.
Sie haben schon recht, Artikel genug habe ich über ihn geschrieben, wenn er beispielsweise einen großen Preis bekam, aber keine Romankritiken. Mit Lenz gab es Krisen, aber ich bin jetzt wieder im freundschaftlichen Kontakt mit ihm. Eine Romankritik gab es, über sein Buch „Stadtgespräch“. Als die Kritik fertig war, habe ich mir gesagt, nein, ich darf ihn nicht so kritisieren…

Also war es Ihre Freundschaftspflicht, dass Sie nichts veröffentlichten?
Mir hatte das Buch missfallen, aber ich durfte die Kritik nicht schreiben. Er war tief betrübt und hat für längere Zeit die Beziehung zu mir abgebrochen. Wahnsinnig gelitten hat er auch an dem Kapitel über ihn in meinem Buch „Deutsche Literatur in West und Ost“. Darin stelle ich unter anderem die These auf: Er ist ein sehr guter Geschichtenerzähler, die Romane aber taugen alle nicht viel. Und ich schrieb den viel zitierten Satz: Er ist ein Kurzstreckenläufer, der sich eingeredet hat, er müsse auf langen Strecken starten.

Gab es auch Freundschaften, die nicht unter Ihrem Beruf litten?
Die größte Freundschaft meines Lebens ist die mit Walter Jens.

Welchen Einfluss hatte er auf Sie?
Er hat mich – ähnlich wie meine Frau – gelegentlich gebremst. Dann sagte er: Nimm das etwas zurück, das ist zu scharf, diese Heftigkeit ist nicht nötig, es ist doch ein Spiel, diese ganze Literatur, was soll man sich aufregen?

Sie haben mal geschrieben, die meisten Schriftsteller verstünden so wenig von Literatur wie Vögel von der Ornithologie. Damit sprechen Sie ihnen jede Theoriefähigkeit, jede literaturkritische Kompetenz ab. Wie steht es denn mit dem Kritiker, wie bildet er seine Fähigkeiten aus?
Ich habe dieses Handwerkszeug ausgebildet, weil ich mich damit beschäftigt habe, seit ich dreizehn, vierzehn Jahre alt war, und ich habe nicht nur Literatur gelesen, Theodor Storm, Gottfried Keller, Thomas Mann, oder Stücke von Schiller, Hebbel, ich habe auch Kritiken gelesen. Von Alfred Kerr, von Ihering, von Polgar. Es war für mich sehr interessant zu lesen, was Kerr über Schillers Stücke schrieb. Die Lehrer haben einem ja nicht gezeigt, was darin steckt. Haben die Lehrer einem erklärt, was Gretchen will, warum Gretchen verzweifelt ist? Ist überhaupt die Liebe Fausts zu Gretchen erklärt worden? Nein. Kein Lehrer hat uns auf eine interessante Stelle aufmerksam gemacht – da ist die Rede von Gretchen: „Mein Busen drängt sich nach ihm hin“. „Mein Busen“ steht im Faust, sie will ihn haben, den Faust, als sie ihn gesehen hat: „Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer Und nimmermehr“. Aber früher, im Ur-Faust, da ist es an dieser Stelle nicht der Busen, da ist es der Schoß: „Mein Schoos! Gott!, drängt sich nach ihm hin.“ Goethe hat das umgeschrieben, weil er Angst hatte vor den Spießbürgern.

Sie haben sich über die Jahre einen Ruf als Instanz aufgebaut. Wenn Sie die Literatur der vergangenen Jahre betrachten, so werden immer wieder Tendenzen ausgerufen: Das politische Buch lebt wieder auf, oder: Die politische Literatur ist tot…
Ja, Tendenzen! Himmler wird mit der Französischen Revolution verknüpft, wie es Martin Mosebach in seiner Büchner-Preisrede getan hat! Das ist wohl die Tendenz heute.

Ist das stellvertretend für ein Denken, das einen Mainstream kennzeichnet?
Das weiß ich nicht. Ich bin auch dafür, dass wir dieses Thema lieber ausklammern. Ich kenne den Autor Mosebach nicht. Ich habe seine Rede gelesen. Und diese eine Stelle mit Himmler, die für manche die wichtigste Stelle ist, nein, die hat mir nicht gefallen.

Nochmals zum Politischen. War das jemals eine Kategorie für Sie als Kritiker?
Als ich nach Deutschland kam und zur Tagung der Gruppe 47 eingeladen wurde, ist mir eine Sache aufgefallen. Dieses Land hat etwas Ungeheuerliches erlebt: das Dritte Reich. Und darüber schreibt man gar nicht viel. Das konnte ich nicht begreifen. Ich war damals nicht ein Anhänger der politischen, aber der engagierten Literatur. Und deswegen habe ich einen Autor, der mir nicht so fabelhaft gefällt, doch in deutschen Zeitungen gelobt, Heinrich Böll.

Sie haben diese sogenannte Trümmer-Literatur wegen des Engagements gelobt, nicht wegen der schriftstellerischen Qualität?
Ich habe da angedeutet, dass die schriftstellerische Qualität etwas zu wünschen übrig ließ. Aber das Engagement war mir sehr wichtig.

Ist es ein Missverständnis, von einem Autor immer auch politische Zeitzeugenschaft zu erwarten?
Sehen Sie, Hans Werner Richter, ein nicht übermäßig kluger, aber verdienstvoller Mensch, der die Gruppe 47 geschaffen hat, nahm einmal an einer Fernsehsendung teil. Jeder sollte erzählen, wie er die Nacht, als der Reichstag brannte, erlebt hatte. Richter sagte, er habe am Abend vorher eine Frau kennengelernt und mit ihr im Bett gelegen. Am nächsten Morgen hat man ihm gesagt, dass der Reichstag brennt. In der Nacht haben die beiden davon nichts gemerkt.

Das ist vielleicht auch die ehrlichere Variante, oder?
Ja, eben.

Ist politisch engagierte Literatur immer die schlechtere Literatur?
Nein, nein, so darf man das nicht sagen. Aber, die wichtige, gute Literatur ist jene Literatur, die einen Autor persönlich in höchstem Maße angeht. Wenn Sie mir jetzt eine schwere Frage stellen wollen, dann werden Sie sagen, aha, und wie war das mit Shakespeare?

Shakespeare hat sich immerhin vorzugsweise mit dem Schicksal und den Intrigen der Mächtigen auseinandergesetzt.
Nehmen Sie den „Hamlet“. Es ist das herrlichste Stück von Shakespeare. Aber Thema dieses Stückes ist vor allem William Shakespeare selbst.

Die Selbstverortung des Intellektuellen in einer despotischen Monarchie.
Ja, ja, ja. Verstehen Sie, das sind alles ganz persönliche Stücke – Romeo und Julia, König Lear. Shakespeare war vermutlich der größte Schriftsteller der Welt, obwohl wir nicht einmal wissen, ob er überhaupt gelebt hat. Wichtig ist: Man darf einen Schriftsteller niemals drängen, sich eines vermeintlich wichtigen Themas anzunehmen.

Wie ist es mit Proust? Er ist ein radikal subjektiv schreibender Autor, doch die Dreyfus-Affäre nimmt einen großen Raum in der „Recherche“ ein, und er beschreibt sie durchaus engagiert.
Ja, weil die Dreyfus-Affäre damals in der Gesellschaft Frankreichs, insbesondere in Paris, eine enorme Rolle spielte. Es ist nicht so, dass er sagte: Das wussten alle, das ist im höchsten Maße wichtig; sein Blickwinkel war ein anderer.

Reden wir über die Leser. Heute heißt es, das Lesepublikum sei zunehmend ein weibliches. Ist das der Grund, weshalb das ZDF mit Elke Heidenreich eine weibliche Moderatorin für die Literatursendung engagiert hat, die das „Literarische Quartett“ beerbte?
Elke Heidenreich wurde vom ZDF nicht deshalb engagiert, weil sie weiblichen Geschlechts ist, sondern weil sie eine originelle und im Fernsehen zu Recht sehr erfolgreiche Literaturjournalistin ist. Sie präsentiert die von ihr ausgesuchten Bücher auf höchst suggestive Weise, ohne sich lange bei komplizierten Analysen aufzuhalten. Das hat es auf die-se Weise früher nicht gegeben – ebenso wie das „Literarische Quartett“ etwas ganz Neues war. Wir verdanken der Elke Heidenreich sehr viel.

Das Fernsehen hat sich verändert. So wie die Vorstellung von der Allgemeinbildung, die allenfalls kompatibel zum Günther-Jauch-Quiz-Wissen sein soll.
Ich habe mal mit Günther Jauch geredet, vor etwa sechs, sieben Jahren. Er hat keine Schule beendet. Ich hatte gedacht, er hätte das Abitur. Gebildet ist dagegen Thomas Gottschalk. Er lud mich einmal in seine Sendung ein, darin stellte er mir die Frage: Sind Wetten für Sie überhaupt von Interesse? Um Gottes Willen, antwortete ich, eine Wette ist doch sehr interessant, schließlich steht im Mittelpunkt des bedeutendsten deutschen Dramas eben eine Wette. Sofort fiel er auf die Knie und rezitierte ganze Passagen aus dem „Faust“. Alle glaubten, das sei mit mir verabredet gewesen, doch es war völlig spontan.

Sie sind wahrlich nicht aufs Fernsehen angewiesen – lesen Sie jetzt die Bücher, für die Sie nie Zeit hatten?
Nein, nein, nein, im Gegenteil. Ich lese jetzt relativ wenig Bücher. Das hat einen Grund: Ich lese etwas, was ich in den früheren Jahren oft vernachlässigt habe – Zeitungen und Zeitschriften. Ich lese den Spiegel genauer als früher. Ich lese sogar, was manche verachten, den Focus, manchmal vielleicht auch die Bunte.

Von Faust und Gretchen war mehrfach die Rede, jetzt stelle ich Ihnen die Gretchen-Frage: Wie halten Sie es mit der Religion?
Meinen Sie mich? Oh nein, damit habe ich nichts zu tun.

Denkt man nicht im Alter anders darüber?
Bisher nicht, nichts, nichts.

Denken Sie über den Tod nach?
Oh ja, das unentwegt, aber das hat nichts mit Religion zu tun. Ich habe ja einst ein Gespräch mit Walter Jens darüber geführt, der ein gläubiger Mensch ist. Damals sagte ich: Gott ist für mich eine literarische Erfindung, aber eine weit vagere als Odysseus oder Hamlet. Er sagte darauf: Kann es eine größere Realität geben als Odysseus?

Philip Roth sagt: Das Alter ist ein Massaker. Stimmen Sie ihm zu?
Ja, das Alter ist schrecklich. Sehen Sie, es gibt sehr verschiedene Leiden des Alters. Ich habe jetzt Probleme mit dem Gehen. 87 Jahre bin ich alt, weder -Goethe noch Fontane sind so alt geworden. Noch vor drei, vier Jahren fühlte ich mich wesentlich besser.

Machen Sie sich Gedanken über das Jenseits?
Es gibt kein Jenseits.

Mit dem Tod ist alles vorbei?
Alles vorbei, ja.

Und von Ihrer Seele bleiben nur die Bücher, die Videos und sonst gar nichts?
Ja.

Das ist eine Vorstellung, die vielen Leuten Angst macht.
Es bleibt, was in der Erinnerung meiner Freunde ist, wie sich meine Freunde an mich erinnern. Natürlich haben Sie recht, vor allem bleiben die Bücher, die Artikel – wie lange?

Haben Sie das Geheimnis von Philemon und Baucis entschlüsselt? Sie leben seit 67 Jahren mit Ihrer Frau zusammen.
Ja, und?

Das schaffen heute nur wenige Menschen. Sind Parallelbeziehungen das Geheimnis einer glücklichen Ehe?
Nein, nein, lassen wir dieses Thema.

Herr Reich-Ranicki, ich danke Ihnen. Ich werde Sie jetzt verlassen.
Das ist ja traurig.

Das Gespräch führte Christine Eichel

(Foto: Picture Alliance)

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