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Der neue Intellektuelle - Reisefreudig, wendig, radikal

Im deutsch-französischen Jahr 2013 bildet sich bei unseren Nachbarn ein neuer Typus des Intellektuellen heraus: reisefreudig, wendig, radikal

Autoreninfo

Alexander Pschera ist Publizist, Autor und Blogger. Er ist Geschäftsführer der Münchner Agentur Maisberger. Zuletzt erschien von ihm der Essay „Vom Schweben. Romantik im Digitalen“

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Wenn Frankreich sich heute auf das Jahr 410 besinnt, dann verheißt das nichts Gutes. Denn 410 ist eine symbolische Zahl, eine Zahl der Dekadenz. Damals ging die abendländische Kultur zum ersten Mal unter. Im Jahr 410 wurde Rom von Alarichs Westgoten überrannt. 1602 Jahre später, im Herbst 2012, erhält ein schmaler Roman, der exakt diesen Untergang in die europäische Gegenwart überträgt, den begehrten Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. Ist das ein Symbol? Sieht man linksrheinisch eine neue Apokalypse am Horizont?

[[{"fid":"52880","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":113,"style":"width: 113px; height: 220px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]„Le sermon sur la chute de Rome“, die „Predigt auf den Untergang Roms“, soeben auf Deutsch im Züricher Verlag Secession erschienen, ist das sechste Werk des 1968 geborenen Philosophielehrers Jérôme Ferrari. Er war bis dato nur Eingeweihten bekannt. Sein schmaler Roman ist kein süffiges Historienfresko, eher ein metaphernreicher Textwurm voller Anspielungen auf die neuere Geschichte des Landes. Ferraris Rom liegt auf dem heutigen Korsika. Die schlimmen Vandalen tragen dort Goldkettchen ums Handgelenk, haben tätowierte Oberarme, fahren fette Pick-ups und trinken viel zu viel Pastis. Dem korsischen Prekariat stellt der Autor zwei Philosophiestudenten gegenüber, die für sich beschließen, nun genug gedacht zu haben. Sie haben genug von den Pariser Intellektuellen, von abgehobenen Theorien über die Liebe und von endlosen Diskussionen über die beste aller möglichen Welten. Sie wollen die Dinge nicht nur denken, sondern tun. Sie wollen dem Leben die Hand schütteln und der Liebe in die Augen schauen.

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Also übernehmen die beiden eine heruntergewirtschaftete Kneipe in einem korsischen Bergdorf. Das, merken sie bald, ist keine gute Idee. Im Nirgendwo bröckelt die Zivilisation. Hier beginnt die décadence. Das Erste, was die beiden lernen, ist, wie man Jungschweine bei lebendigem Leib kastriert, wie man Hoden am Lagerfeuer grillt und sie genüsslich verspeist. Die zweite Lektion ist auch nicht viel angenehmer: Trage immer eine großkalibrige Schusswaffe im Gürtel.

Die Bar wird zum Mittelpunkt des Dorfes und der Region. Neues Leben beginnt. Es brodelt und kocht in der korsischen Hitze. Schon bald brechen alte Konflikte auf: Es geht um weibliche Körper, um männliche Hormone, um die französische Kolonialgeschichte, den Algerienkrieg, die Résistance, sogar um den Ersten Weltkrieg. Die Weltgeschichte ergießt sich über den Tresen wie eine umgekippte Flasche Anis-Schnaps.

Ferrari hat nicht umsonst Philosophie studiert. Seine Schilderung einer heutigen Zeitenwende greift auf große philosophische Ideen zurück. Er schreibt sich in den Untergang des französischen Abendlands auf einem prominenten Umweg ein: über Augustinus. Dieser war im bösen Jahr 410 Bischof von Hippo im heutigen Algerien.

Aus dieser Zeit sind Tausende von Predigten erhalten. Und eben auch eine vom Dezember 410, in der er seine Gemeinde angesichts der gotischen Katastrophe im fernen Rom an die Zeitlichkeit des Irdischen gemahnt.

Ferrari benutzt den augustinischen Subtext geschickt, um vom Untergang der großen und der kleinen Welt heute zu erzählen. Den sechs ersten Kapiteln stellt er Zitate aus der Untergangspredigt des Kirchenvaters voran. Im siebten und letzten Kapitel gipfelt das Buch in einer epischen Vergegenwärtigung der augustinischen Predigt über den Untergang Roms und verdichtet sich schließlich in dem Moment, als Augustinus von der Welt Abschied nimmt, ohne das Rätsel des Lebens, jenes undurchdringliche Mysterium, gelöst zu haben.

„Die Welten“, schreibt Ferrari, „vergehen in Wahrheit eine nach der anderen, von Finsternis zu Finsternis, und gut möglich, dass ihre Abfolge nichts bedeutet. Diese unerträgliche Hypothese brennt Augustinus in der Seele, und er stößt, Ruhender im Kreis seiner Brüder, einen Seufzer aus, und er strengt sich an, zum Herrn zu blicken, sieht aber nur das merkwürdig tränenfeuchte Lächeln, das ihm einst die Arglosigkeit einer unbekannten jungen Frau geschenkt hatte, um vor ihm das Ende zu bezeugen, und zugleich die Ursprünge, denn dies ist eine einzige und sich gleichbleibende Bezeugung.“

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Ferraris Tonfall ist elegisch-distanziert. Wie Augustinus damals über das ferne Rom, so predigt Ferrari, der auf Korsika, in Algerien und zurzeit in den Arabischen Emiraten unterrichtet, aus räumlicher Distanz über den kulturellen Untergang seiner eigenen Grande Nation: über ihre Zivilisationsmüdigkeit, ihren Verlust an Orientierung, ihre Verrohung, über die Vergänglichkeit der großen französischen Leitmotive – das Glück, die Liebe und das Leben. Ferarris Text bezieht politisch keine Position.

Fingerzeige auf reale gesellschaftliche Konflikte wie Immigration und Islamismus sucht man vergebens. Wer die modernen Goten wirklich sind, die Frankreich belagern, das verschweigt der Autor.

[[{"fid":"52879","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":149,"style":"width: 120px; height: 177px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Beim Globetrotter-Philosophen Sylvain Tesson, der den zweitwichtigsten Literaturpreis Frankreichs gewann, den Prix Medicis, schaut das ganz anders aus. Hier herrscht Klartext. Tesson, enfant terrible der französischen Reiseschriftsteller, ist der Sohn eines der bekanntesten Pariser Journalisten. Sein Vater Philippe gründete 1974 den Quotidien de Paris und war bald der Nestor der französischen Theaterkritik. Dem Sohn wurde das Pariser Intellektuellenmilieu zu eng. Nach dem Besuch einer Privatschule umrundete er mit dem Fahrrad die Welt, marschierte 5000 Kilometer durch das Himalaya-Massiv und wenig später noch mal so viel durch die zentralasiatische Steppe. Seitdem zieht er schreibend, trinkend, lesend durch die Welt.

Irgendwann schwor er sich, vor seinem 40. Geburtstag als Einsiedler in Sibirien zu leben. So bezog er für sechs Monate die winzige Hütte eines Wetterbeobachters am Baikalsee, reichlich ausgerüstet mit Wodka, Zigarillos und einer Angel. Aus dem anachoretischen Selbstversuch ist ein zu Recht preisgekröntes Buch geworden: „Dans les Forêts de Sibérie“, „In den Wäldern Sibiriens“. Es soll auf Deutsch Anfang 2014 im Knaus-Verlag erscheinen.

Sylvain Tesson ist der frierende Bruder Jérôme Ferraris. Sein Korsika liegt mitten in Sibirien. Dort, wo sich jeder leise Anflug von Kultur gegen die unerbittliche Macht des Wirklichen durchsetzen muss: „Nach der bitteren Kälte ruft das ‚Plopp‘ eines aus der Wodkaflasche springenden Korkens neben einem Ofen unendlich mehr Genuss hervor als ein herrschaftlicher Tag in einem Palazzo am Canal Grande.“

In einem solchen Moment verpuffen 2000 Jahre abendländischer Kulturgeschichte im eisigen Nebel der Taiga. Solche Momente gibt es bei Tesson reichlich. Das ist keine intellektuelle Attitüde, kein Pariser Renegatentum. Tesson weiß, wovon er spricht. Er hat sich das alles nicht in einer Mansarde in Montmartre ausgedacht, sondern erlebt. Er beneidet sie wirklich, jene einfachen Russen, deren Blick auf die konkreten Dinge durch keine Lektüre, durch keine große Idee verstellt ist. Sechs Monate am Baikalsee werden so zu einer Zeitreise, an deren Ende die Erkenntnis steht, „dass das Leben nur das sein sollte: die Hommage des Erwachsenen an seine Kindheitsträume“. Wer wollte ihm da widersprechen?

Tesson nimmt das wilde Denken, das in Frankreich seit Claude Lévi-Strauss Tradition hat, wörtlich. Er möchte wissen, was passiert, wenn ein Intellektueller, der zugleich die Statur und die Haartracht eines russischen Trappers hat, ein halbes Jahr im Niemandsland lebt und sich geistige Nahrung von jenen Autoren holt, die immer wieder den Rückzug in die Natur besungen haben. Er erprobt eine ganze Bibliothek, die er in einer Kiste in die Einöde geschleppt hat, an der harten sibirischen Wirklichkeit. Seine Frage lautet: Hält das Denken und Schreiben eines Rousseau, eines Diderot, eines Conrad, eines Jünger, eines Thoreau der Einsamkeit, arktischen Temperaturen von minus 40 Grad und teuflischen Mückenschwärmen stand? Oder zerbröselt es wie morsches Holz unter dem Fußabdruck der Wirklichkeit?

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Das ist die Versuchsanordnung. Ihr Ergebnis: Über die Einsamkeit des Waldgangs zu schreiben, ist eine Sache. Den Rückzug in den Wald zu leben, eine ganz andere. Welches Buch Tesson auch zur Hand nimmt (am Ende werden es 70 sein), seine Lektüreeindrücke werden von der Kraft der Natur sofort eingeholt und überlagert. Das Singen und Krachen der Eisplatten spaltet die subtilsten Gedanken. Ätherische Wolkenbilder dämpfen die schärfsten Antithesen ein. Die Poesie des Unterholzes überschreibt allen Sprachzauber. Zuletzt lacht eine leibhaftige Robbe, die ihr melancholisches Antlitz aus einem Eisloch steckt, über die ganze ­Eitelkeit der idealistischen Welt.

In der Dreyfus-Affäre hat Frankreich – genauer: Georges Clemenceau – die Figur des „Intellektuellen“ erfunden, der gesellschaftliche Vorgänge analysiert und diskursiv beeinflusst. 100 Jahre haben Intellektuelle von Zola über Sartre bis Bernard-Henri Lévy die Wirklichkeit ihren Ideen untergeordnet und damit die französische Politik beeinflusst. Jetzt scheint es, als kehrten die ersten französischen Intellektuellen ins Leben zurück. Ferraris preisgekrönter korsischer Canto ist hierfür ebenso Signal wie Tessons sibirische Aphoristik. Wenn es bei Tessson am Ende heißt: „L’homme ne se refait pas“, „Der Mensch ändert sich nicht“, dann ist das französische Raisonnement tatsächlich wieder vor der Aufklärung angekommen.

[[{"fid":"52881","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":138,"style":"width: 120px; height: 191px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Der Publizist Fabrice Hadjadj, 41 Jahre alt, würde dieser Aussage widersprechen. Hadjadj bezeichnet sich als „Juden mit arabischem Namen und katholischer Konfession“. Früher kollaborierte er mit Houellebecq, schrieb nihilistische Traktate, verehrte Nietzsche. Dann erkrankte sein Vater, und Hadjadj hatte in der Pariser Kirche Saint-Séverin ein Bekehrungserlebnis. Er konvertierte zum Katholizismus. Heute arbeitet er als viel beachteter Publizist und Philosoph. Bekannt wurde er 2005 mit einem preisgekrönten Langessay über die Kunst des Sterbens, „Réussir sa mort“. Hadjadj, zu dessen Förderern Alain Finkielkraut gehört, leitet seit 2012 das renommierte philosophische Institut Philanthropos im schweizerischen Fribourg.

Hadjadj kehrt die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Idealismus um. Er betrachtet das Denken durch die Brille der Realität. Dabei kommt es zu überraschenden Gedankensprüngen. Die Wirklichkeit ist paradox. Hadjadj fragt: Wie muss eine Idee ausschauen, damit sie bis zur Realität durchdringen kann? Wie muss man argumentieren, damit man verstanden wird in einer oberflächlichen Welt?

Diese Frage ist links- wie rechtsrheinisch aktuell. Daher ist Hadjadjs letztem Buch, dem amüsanten Essay „Comment parler de Dieu aujourd’hui?“, „Wie kann man heute über Gott reden?“, eine deutsche Übersetzung zu wünschen. Hadjadj findet eine Sprache, die dem Leben abgeschaut ist und die dennoch über dieses Leben hinausweist. Seine Rhetorik ist irgendwo zwischen den Absurditäten eines Groucho Marx und den präzisen Thesen eines Robert Spaemann verortet.

Der schelmische Ansatz zeigt sich schon daran, dass Hadjadj seinem Buch den Untertitel „Anti-manuel d’évangélisation“, „Anti-Handbuch des Apostolats“ gibt. ­Hadjadj geht es nicht um Dogmen. Er wechselt permanent den Standpunkt, um das, was er über Gott, Glaube, Welt sagen will, straßentauglich zu machen. Er ist der Typus des nervösen Intellektuellen, der nah dran sein will am pulsierenden Leben. Man muss nicht Christ sein, um seine humorvollen Ausführungen mit Gewinn zu lesen.

Realitätsgesättigt, wendig, konkret: Sieht so der intellektuelle Diskurs von morgen aus? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zeigt Hadjadj, wie man in einem Atemzug über den letzten Sieg von Real Madrid, die betörende Schönheit von Monica Bellucci und die Erhabenheit Gottes reden kann, ohne sich dabei lächerlich zu machen. Und das ist immerhin ein Etappensieg auf dem Weg der Intellektuellen zurück ins Leben. 

Jérôme Ferrari: Le Sermon sur la chute de Rome. Actes Sud, 2012. 20, 95 €

Sylvain Tesson: Dans les forêts de Sibérie. Gallimard, 2012. 19, 95 €

Fabrice Hadjadj: Comment parler de Dieu aujourd'hui? Anit-manuel d'évangelisation. Salvator, 2012. 19, 99 €

 

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