- Drachen, Dämonen und Doppelgänger
Der Neurologe Oliver Sacks erzählt von den Halluzinationen seiner Patienten, als handele es sich um phantastische Prosa
Dass sich unser Unbewusstes seinen Weg durch das Normalbewusste auf Schleichwegen sucht, um dann in Gestalt von peinlichen Versprechern, verräterischen Erinnerungslücken und Projektionen in Erscheinung zu treten, weiß man aus Sigmund Freuds im Jahr 1901 erschienener Studie „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. Einmal führt sich der Übervater der Psychoanalyse darin selbst als Exempel an: „Zur Zeit, als ich, als junger Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft genug meinen Namen von einer unverkennbar teuren Stimme rufen gehört.“ Doch auch nach gründlichem Umsehen blieb die Stimme körperlos. Hinter dem Appell steckte niemand anderer als Freuds eigener Wunsch, in der Fremde kein völlig Fremder zu sein.
Diesen Fall erwähnt der New Yorker Neurologe Oliver Sacks als „häufigste akustische Halluzination“ in seinem Buch „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“. Allerdings unterscheidet sich der Freud’sche Verhörer in einem wesentlichen Punkt von den meisten übrigen Beispielen, mit denen Sacks veranschaulicht, in welch sagenhaftem Ausmaß uns nicht nur die Ohren etwas vorgaukeln können, sondern ebenso Augen, Nase, Mund und Hände. So stand hinter der Sinnestäuschung des jungen Freud eine klare psychologische Motivation. Sacks hingegen geht es in seinem mit Patientenschicksalen, Fachwissen und historischen Mini-Exkursen randvollen medizinischen Prosaband hauptsächlich um Halluzinationen, die einer psychologisierenden Deutung unzugänglich sind.
Für den 1933 geborenen Mediziner lassen die meisten Liliputaner, unheimlichen Stimmen und pelzigen Monster, also jene Halluzinationen, deretwegen er seit Jahrzehnten konsultiert wird, gerade keine Rückschlüsse auf geheime Wünsche und Charaktereigenschaften des Betroffenen zu. Dafür wird der Ursprung dieser Wahrnehmungs-Illusionen eindeutig im Gehirn verortet: Eine Vielzahl der angeführten Halluzinationen beruht auf einer hirnphysiologischen Veränderung, wie sie unter anderem bei Parkinson oder Migräne auftritt. Andere fallen unter die Rubrik „organische Psychose“ und sind für einen Drogenrausch ebenso typisch wie für den Kalten Entzug. Beides kennt Sacks nicht nur von seinen Patienten. Als Medizinstudent experimentierte er mit LSD und Cannabis. Per Gedankenübertragung einigte er sich mit seinem Freund, wer mit Bierholen dran ist. Dann sah er zum ersten und letzten Mal im Leben Indigoblau – „die Farbe des Himmels, um die sich Giotto sein Leben lang vergebens bemüht hat“. Als junger, gestresster Assistenzarzt half er während der wenigen Stunden, die ihm zum Schlafen blieben, mit einer ordentlichen Dosis Chloralhydrat nach. Eines Abends waren seine Vorräte aufgebraucht. Sein Puls begann zu rasen, Passanten blickten ihn mit bedrohlichen Insektenaugen an, darunter schlängelten sich obszöne Riesenrüssel. Sacks war überzeugt, er sei verrückt geworden, bis eine Kollegin ihn aufklärte, dass er unter lebensbedrohlichen Entzugssymptomen litt: „Ich war unendlich erleichtert – tausendmal lieber ein Delirium tremens als eine schizophrene Psychose.“ Als Kenner der Hirnchemie weiß Sacks, wie man menschenfreundlichen Arzt- und analytischen Expertenblick, autobiografische Bekenntnisfreude und fachübergreifende Gelehrsamkeit mischen muss, um Leser-Rezeptoren zu bedienen. Der typische Sacks-Sound, der sich nicht nur in Bestsellern wie „Der Mann, der seine Frau mit seinem Hut verwechselte“ bewährt hat, führt durch insgesamt fünfzehn Kapitel.
Sacks’ Begeisterung für sein Thema ist grenzenlos. Unter all den Dingen, mit denen es ein Neurologe im Lauf seines Berufslebens zu tun bekommt, scheint die Halluzination für ihn das Faszinosum schlechthin zu sein, eine Art Allrounder, der nicht bloß Aufschluss über sämtliche Funktionsweisen des Gehirns gibt, sondern eine „ganz besondere Kategorie des menschlichen Bewusstseins“ ist und aus Geschichte und Kultur nicht wegzudenken. Dennoch bietet dieses Buch eher didaktischen Unterhaltungswert als großen Erkenntnisgewinn. Oliver Sacks schaut zwar über den Tellerrand des Mediziners, scheint aber fast ängstlich da¬rauf bedacht zu sein, sich ja nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Statt auf greifbare Thesen baut er ganz auf Beschreibungen des Phänomens und fächert eine beachtliche Bandbreite des halluzinatorischen Erlebens in detailversessener Ausführlichkeit auf.
Manchmal haben ihm Kollegen die Arbeit schon abgenommen. Eine regelrechte Schatzkiste, in der unzählige Halluzinationen beschrieben wurden, sind für Sacks die Aufzeichnungen des kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield. Ende der 1930er-Jahre entwickelte dieser die sogenannte Montreal-Methode und revolutionierte damit die Möglichkeiten der Epilepsie-Behandlung. Penfield ließ seine Patienten bei klarem Bewusstsein, während er ihnen unter örtlicher Betäubung zunächst die Schädeldecke entfernte. Dann tastete er mit einer Elektrode die freiliegenden Hirwindungen ab, um die spezifische Wahrnehmungshalluzination zu provozieren, die in der Regel mit dem Beginn eines epileptischen Anfalls einhergeht. So war es bei einem Patienten der Geruch von verbranntem Toast, der einen Krampf ankündigte, ein anderer hatte dabei Beethovens Fünfte im Ohr, und ein dritter sah sich in ein Tanzlokal versetzt, kurz bevor sein Gehirn begann, sich zu entladen. Sobald ein Patient, der auf Penfields OP-Tisch beständig Rückmeldung über sein Befinden geben musste, von seiner anfallsspezifischen Halluzination befallen wurde, wusste der Operateur, dass die Elektronadel sich direkt auf dem Epilepsie-Herd befand. Nach dem Motto „no brain is better than bad brain“ wurde die Stelle weggeschnitten.
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Hätte Penfield ein knappes Jahrhundert zuvor in Russland praktiziert, wäre die Weltliteratur heute vielleicht um einen ihrer eindrucksvollsten Protagonisten ärmer. Denn Fürst Myschkin aus „Der Idiot“ ist nicht nur der berühmteste Epileptiker der Literaturgeschichte, er liefert auch die präziseste Vorstellung vom Leiden seines Schöpfers. Dostojewski lässt ihn jene Transzendenz-Erfahrungen und mystischen Visionen durchleben, die auch sein eigenes Anfallsleiden begleiteten. Ein klarer Fall von „Temporallappenepilepsie mit ekstatischen Auren“, spezifiziert Sacks die allgemein bekannte Diagnose und wundert sich nebenbei ein wenig über Penfield, in dessen Operationsprotokollen ausgerechnet die ekstatischen Halluzinationen fehlen. Offensichtlich hat dessen Elektrode niemals jenen Bereich des Gehirns gefunden, in dem das neuronale Sub¬strat für unsere Gottesvorstellung wohnt. Die Frage, ob Gott noch eine andere Entsprechung hat als nur ein Stückchen Hirnsubstanz, klammert Sacks explizit aus.
Und ganz offenbar scheint bereits die Aktivierung dieses Areals bei Epilepsie zu genügen, damit nicht nur die Literatur, sondern auch die Weltgeschichte in Bewegung gerät. So litt Johanna von Orleans vermutlich ebenfalls unter Temporallappenepilepsie mit ekstatischen Auren. Zumindest scheint dies für Sacks die plausibelste Erklärung für den bis heute rätselhaften Fall eines ungebildeten Bauernmädchens, das vor sechshundert Jahren Tausende von Männern mit ihrem religiösen Sendungsbewusstsein ansteckte, die ihrem Kommando in der Schlacht gegen den Feind gehorchten. Kurz vor ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen im Jahr 1431 gab Johanna vor Gericht zu Protokoll, dass sie ihren göttlichen Auftrag bereits im Alter von dreizehn Jahren erhielt. Sie hörte eine Stimme, die sie beim Namen rief. Vielleicht, so ließe sich die Epilepsie-These mit Freud ergänzen, hatte sie sich gerade das gewünscht.
Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Rowohlt, Reinbeck 2013. 352 S., 22,95 €
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