- Wursteln statt wandeln
Es soll der große Wurf werden, ein Projekt für den Wandel: Die Grünen haben einen Entwurf für ein Wahlprogramm vorgelegt. Darin findet sich zwar viel Visionäres, Fragen allerdings, die die Partei spalten könnten, werden ausgeklammert
Wer nach der Macht strebt, muss sich Erfolgsrezepte manchmal von großen Vorbildern abgucken. Von Barack Obama zum Beispiel: Der Aufruf des demokratischen Wahlkämpfers zum „Change“ vor mehr als vier Jahren, das hatte so etwas. Frankreichs sozialistischer Staatspräsident François Hollande kopierte die Idee gleich für seinen eigenen Wahlkampf. „Le changement c’est maintenant“ – „Wandel, jetzt“, so lautete die Parole.
Eigentlich hätte sich die SPD, die immerhin die mächtigste Frau der Welt ablösen will, im aktuellen Wahlkampf ebenfalls dieses Motivs bedienen können. Haben sie aber nicht – vielleicht, weil ihnen der missglückte „Yes, we can“-Versuch des früheren Generalsekretärs Hubertus Heil noch im Halse steckt, vielleicht aber auch, weil die Sozialdemokraten derzeit nur den Sprach-Eskapaden ihres Spitzenkandidaten Peer Steinbrück hinterherhecheln. Jedenfalls ist ihnen nun eine andere Partei zuvorgekommen: die Grünen.
Sie haben den Erfolgs-Slogan freilich etwas anders übersetzt: „Zeit für den grünen Wandel“. So lautet der Titel des Antrags für das Bundestagswahlprogramm, welchen der Parteivorstand am Freitag in Berlin erstmals vorstellte. Jürgen Trittin sprach von einem „grundlegenden Umbau der Gesellschaft“, von einer „langfristigen Transformation“ – und zwar bei den Themen Energiewende und soziale Gerechtigkeit. Große Worte eines Spitzenkandidaten, der seine Partei noch „knapp von der absoluten Mehrheit entfernt“ sieht.
Vom Basislager zum Gipfelsturm
Aber auch leere Worte, wie der französische Philosoph Raphaël Enthoven jüngst spitzfindig darlegte: Denn die einzige Konstante des Daseins sei der permanente Wandel. Nichts bleibe je gleich. Weshalb es sich aus Sicht eines Denkers dann doch nur um hübsche Wahlkampf-Worthülsen handelt.
„Ein Weiter so der Regierung Merkel darf es nicht geben“, eröffnete Parteichef Cem Özdemir die Pressekonferenz, die den Wandel einläuten sollte. Drängelige Wohlfühlatmosphäre in der Parteizentrale: Die Journalisten stehen bis zur Tür, an der Wand flattern bunte Schmetterlinge, ein grünes Papa-Motiv schiebt Kinderwagen. Der Raum nennt sich „Basislager“ – von hier aus wollen die Grünen jetzt nach ganz oben klettern.
Beim Durchblättern der 157 Seiten fällt zunächst auf, dass der grüne Wandel sogar schon bis in die Grammatik vordringt: Geht es nach dem Programmantrag, ist nach der Atomkraft nun auch das Komma abgeschafft.
Die Themen sind unter den Schlagworten „Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen“ zusammengefasst, die wichtigsten Wünsche finden sich in diversen „Schlüsselprojekten“. So fordern die Grünen ein Klimaschutzgesetz, eine Schuldenbremse für Banken, eine Vermögensabgabe für das reichste Prozent der Bevölkerung und eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze. Das steuerfreie Existenzminimum soll bei 8.700 Euro liegen, außerdem soll der Spitzensteuersatz steigen: Wer mehr als 80.000 Euro im Jahr verdient, muss künftig 49 Prozent an den Staat abführen. Einkommen unter 60.000 Euro würden entlastet, der Rest belastet.
Außerdem legt die Partei laut Özdemir Wert darauf, „das widersinnige Betreuungsgeld zu beenden“. Stattdessen sollten die öffentlichen Institutionen gestärkt werden.
Mogelpackung für Atomkraftgegner
Die Grünen treiben Schwarz-Gelb gemeinsam mit der SPD auch gerade auf einem anderen Themenfeld vor sich her: dem flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat der Bundesrat am Freitag verabschiedet. Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt forderte die Koalition „dringend auf, dieses Paket im Bundestag nicht zu blockieren“. Der Mindestlohn dürfe nicht zur „Mogelpackung“ werden.
Doch eine Mogelpackung könnte der Programmentwurf der Grünen ausgerechnet für ihre wichtigste Klientel werden – die Atomkraftgegner. Denn in dem dicken Dokument wird das heikle Thema Gorleben komplett ausgeklammert. Es heißt allenfalls: „Durch den Vergleich mehrerer Standorte muss der bestgeeignete geologische Ort zur Aufnahme des Millionen Jahre strahlenden Atommülls gefunden werden. Atommüll-Exporte ins Ausland wollen wir verbieten.“
Seite 2: Eine Piratenbremse und ein Qualprogramm
Die rot-grüne Regierung in Niedersachsen aber hatte die offene Suche gerade erst erschwert: In ihrem Koalitionsvertrag verpflichten sich beide Partner, Gorleben aufzugeben.
Trittin wiegelte in Berlin ab: Eine Erwähnung des Themas sei nicht nötig gewesen. „Denn wir wollen das Endlagersuchgesetz noch vor Ende der Sommerpause durch den Bundestag bringen.“
Auch wird aus dem Programmentwurf nicht ersichtlich, wie die Grünen den erbitterten Streit zwischen Energiewendern und Streuobstwieslern lösen wollen. Das Schlüsselprojekt „Die Heimat von Storch und Laubfrosch schützen“ sieht etwa vor, für zehn Prozent der bundesweiten Flächen „grenzüberschreitend vernetzte Biotopsysteme“ zu schaffen. Für die zukünftige Strominfrastruktur, die sich die Partei unter ihrer „grünen industriellen Revolution“ vorstellt, müssen aber Übertragungsleitungen und Pumpspeicherkraftwerke errichtet werden – ein Horror für viele Tier- und Naturschützer. Da kämpft dann Grün gegen Grün – und die grüne Bundespartei schaut ratlos zu. Ein wirklicher Zukunftsentwurf sieht anders aus.
Immerhin hat der Vorstand eine Piratenbremse in sein Papier eingebaut. Ob Breitbandausbau, Datenschutz, Transparenz oder der Kampf gegen Vorratsdatenspeicherung sowie das Abmahnwesen beim Urheberrecht: Gleich drei Kapitel widmen sich ausführlich den Forderungen der kleinen Netz-Konkurrenz.
Ihre Entschlossenheit auf diesem Feld wollen die Grünen jetzt auch im Bundesrat unter Beweis stellen. Dort wollen sie das Leistungsschutzrecht, das der Bundestag am Freitag mit den Stimmen von Schwarz-Gelb verabschiedete, blockieren. Das kündigte Bundesvorstand Malte Spitz an. Die Grünen sind damit neben der Linken die einzige Bundestagspartei, die das geplante Schutzrecht für Presseverlage im Internet ablehnt.
Festkleben an Rot-Grün
Den Wandel wollen die Grünen auch in Sachen Basisdemokratie beschleunigen. Und so – ganz nebenbei – den Chaos-Piraten zeigen, was eine Harke ist. Göring-Eckardt nannte es eine „Casting-Show für Projekte“. Denn der Entwurf, den der Vorstand mit den Parteigremien und Vertretern der Zivilgesellschaft erarbeitete, soll anschließend von der Basis diskutiert werden. Ein Parteitag Ende April soll dann aus den 50 „Schlüsselprojekten“ die zehn wichtigsten auswählen.
So könnte aus dem Entwurf für ein Wahlprogramm noch ein echtes Qualprogramm werden: Denn beim letzten Verfahren seien um die 1.000 Änderungsanträge eingegangen, sagte Parteichef Özdemir. Gut möglich, dass es diesmal noch mehr werden.
Spannend wird dann auch, ob der Parteivorstand mit seinem Festkleben an Rot-Grün durchkommen wird. Denn laut einer Forsa-Umfrage für das Magazin Cicero im März hätte Schwarz-Grün Chancen: Demnach fänden 74 Prozent der Grünen-Anhänger ein Bündnis mit CDU und CSU alles in allem gut. In dem Programmentwurf legt sich der Bundesvorstand jedoch auf eine Koalition mit der SPD fest, „weil wir in diesem Regierungsbündnis die besten Chancen sehen, den grünen Wandel umzusetzen“.
Auf die Frage von Cicero Online, ob sich die Parteispitze damit nicht weit von ihrer Anhängerschaft entfernt, winkte das Spitzenduo ab. Die Forsa-Umfrage sei von der „Fragestellung“ beeinflusst worden, behauptete Göring-Eckardt. Trittin präsentierte sogar ganz andere Zahlen: „Wir haben mal nachgefragt bei unseren Wählenden: Und da haben uns 95 Prozent gesagt, sie wollen Rot-Grün.“ Es sei sogar zu befürchten, dass die Grünen im Fall eines Bündnisses mit der Union „zwei Drittel unser Wählerinnen und Wähler verlieren“.
Und da zeigt sich dann doch wieder das altlinke Beharrungsvermögen, mit dem sich die Grünen durch den Wahlkampf wursteln wollen. Beim Thema Machtfindung muss die Partei das mit dem Wandel noch ein bisschen üben.
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