- Und es bewegt sich doch!
Kulturhauptstadt ist Entwicklung. Bürger und Initiativen verändern schon jetzt das Gesicht der Stadt. Davon zeugen vor allem die Interventionsflächen. Drei engagierte Chemnitzer im Gespräch
Grit Stillger von der Interventionsfläche „Die Stadtwirtschaft“
Auf dem Gelände einer ehemaligen Stadtreinigungsanlage, die 1891 im Chemnitzer Arbeiterviertel Sonnenberg errichtet wurde, wird in den kommenden Jahren ein kultureller Inkubator namens „Die Stadtwirtschaft“ entstehen. Daran haben sowohl die Stadt wie auch engagierte Kreative einen immensen Anteil.
Frau Stillger, glaubt man dem berühmten italienischen Künstler Piero Manzoni, dann soll Merda d’artista, zu Deutsch: „Künstlerscheiße“, ein sehr kostbares Gut sein. Ist das der Grund dafür, dass die Stadt Chemnitz ein neues kreatives Zentrum mitten auf ein altes Areal der Dünge- und Fäkalienabfuhr gesetzt hat?
Die Gebäude der sogenannten Stadtwirtschaft wurden bereits Ende der 1990er-Jahre aufgegeben. Seither gibt es hier auch keine Düngeabfuhr mehr. Aber es stimmt natürlich: Seit 1891 befand sich auf dem Areal die Chemnitzer Düngeabfuhrgesellschaft. In jenen Jahren war das umgebende Stadtviertel noch nicht wirklich bebaut, und der heute als kreatives Jugendstilquartier boomende Sonnenberg war noch in der Findungs- und Aufbauphase. Damals also war an dieser Stelle eine riesige Freifläche. Das Arbeiterwohnviertel wuchs in der Gründerzeit bis etwa 1930. Ende der 1990er-Jahre dann wurde das Areal vom städtischen Entsorgungsbetrieb aufgegeben. So etwas passte einfach nicht mehr mitten in die Stadt. Bald darauf fanden sich erste kleine Handwerksbetriebe, die sich hier ansiedelten und an die die Stadt einzelne Räume sehr niederschwellig vermietet hat.
Mit dem nun entstehenden Kreativgelände quasi als Nukleus?
Schon, aber damals hat man wirklich nur das Notwendigste für die Instandsetzung gemacht. Man hat die Räume ein bisschen ertüchtigt, aber es gab keine Heizung und kaum Wasseranschluss. Das war noch vor dem späteren Entwicklungskonzept, das der Stadtrat dann 2021 beschlossen hat.
Wie kam es denn überhaupt zu der Idee, ein ganzes Kreativzentrum, einen kulturellen Inkubator, aus dem alten Gebäudekomplex zu entwickeln?
Der Sonnenberg ist heute ein buntes und urbanes Quartier mit viel Potenzial, aber auch mit viel Entwicklungsbedarf. Gerade Künstler und Kreative kommen hierher, weil sie das Unfertige auf dem Sonnenberg so lieben. Also hat sich die Stadt Chemnitz in Kooperation mit einem Partner aus der Kreativwirtschaft, dem Verein Kreatives Chemnitz e.V., gefragt, wo es im Quartier Räume gibt, in denen man diese kreative Szene ansiedeln könnte. Wir sind dann schnell auf das Gelände der einstigen Stadtwirtschaft gekommen. Das ist ein so schönes Juwel, dass man es nicht verkommen lassen will.
Was soll denn hier nun genau passieren?
Wir wollen die Stadtwirtschaft in den nächsten Jahren Stück für Stück und in unterschiedlichen Phasen in ein Kreativlabor, in einen Ort für Macher der Kultur- und Kreativwirtschaft weiterentwickeln. Dazu gehören mehrere Gebäude und Höfe. Das erste Haus an der Jakobstraße wurde quasi als Pilot dem Verein Kreatives Chemnitz e.V. übergeben, und der Verein hat sich im Gegenzug vertraglich dazu verpflichtet, passende Mieter anzusiedeln und dafür zu sorgen, dass diese zueinanderfinden. Für den gesamten Standort wird bis Anfang 2024 ein Betreibermodell entwickelt und ein Betreiber von uns beauftragt.
Das heißt, die Stadtwirtschaft ist nichts für Eigenbrötler und zurückgezogene Ich-linge.
Auf keinen Fall. Das Projekt will nachhaltig in das Quartier hinein- und wieder herauswachsen. Jeder soll sich hier einbringen – mit Ideen, Wissen, Ressourcen oder sogar mit Workshops für die Mieter sowie für das ganze Quartier auf dem Sonnenberg. Es geht also nicht darum, sich in sein Kämmerchen zu verkriechen. Wir wollen zum Beispiel gemeinsam mit den Mietern die Hofgestaltung weiter voranbringen. Vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, Flächen für Urban Gardening zu gestalten. Das alles wird sich im weiteren Prozess zeigen. Das heißt aber auch, dass es von unserer Seite keinen fertigen Plan gibt. Wir als Stadt sagen also nicht, was genau jetzt zu passieren hat. So definieren wir nicht unsere Aufgabe. Wir bieten nur den Rahmen.
Ein Ansatz, der perfekt zum Konzept der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 passt. Die hat sich mit vielen Projekten ja sehr bewusst an das Image „Chemnitz – Stadt der Macher“ angelehnt.
Ja, der Kulturhauptstadt-Titel hat unsere Idee eines Kreativzentrums noch mal sehr gepusht. Schnell ist die Stadtwirtschaft daher auch als Interventionsfläche für das Jahr 2025 erkannt und gefördert worden. Das macht vieles leichter. Zumal wir uns immer wieder mit den Initiatoren und Vereinen austauschen, die hinter den anderen Interventionsflächen stehen. Gemeinsam mit den ersten Pioniernutzern freuen wir uns schon jetzt darauf, wenn sich die Stadtwirtschaft dann in zwei Jahren auch für ein internationales und kreatives Publikum öffnen wird.
Johannes Rödel von der Interventionsfläche „Bahnviadukt an der Beckerstraße“
Seit über zehn Jahren kämpft der Bürgerverein Viadukt e.V. – Verein zur Nutzung des baulichen Erbes der Industrialisierung um die Erhaltung einer alten Eisenbahnbrücke an der Annaberger Straße in Chemnitz. Eigentlich wollte die Deutsche Bahn die historische Stahlarchitektur aus dem frühen 20. Jahrhundert schon abreißen. Jetzt aber ist das Glanzstück sächsischer Industriekultur Teil der Interventionsfläche „Stadt am Fluss“ geworden.
Herr Rödel, wieso macht man sich für ein altes Eisenbahnviadukt stark?
Wenn ich ehrlich bin, rutscht man in so ein Projekt zunächst einfach rein. Die Pläne der Deutschen Bahn, die Brücke abzureißen, reichen bereits in die 1990er-Jahre zurück. Als der Abriss dann 2013 immer konkreter wurde, formierte sich in Chemnitz Widerstand. Es gab Leute, die haben eine Petition gestartet, andere eine Ausstellung organisiert oder Experten kontaktiert. Ich wollte die Initiative zur Erhaltung des Viadukts zunächst nur von der Seitenlinie aus unterstützen. Na ja, und irgendwann hält man dann seinen ersten Vortrag und ist mit ganzem Herzen mit dabei.
Was fasziniert Sie denn so an der Überführung?
An dieser historischen Eisenbahnüberführung über den Chemnitzfluss wird Industriekultur sichtbar – nicht nur Industriekultur aus Chemnitz, sondern aus der gesamten westsächsischen Industrieregion. Die Brücke wurde einst in Zwickau gefertigt, in der damals größten Stahlhütte der Region. Das waren die wichtigsten Brückenbauer ihrer Zeit. Die Hütte hat unter anderem auch das legendäre Blaue Wunder in Dresden gebaut. Das Chemnitzer Viadukt hat sogar den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden.
Wie viel aktive Streiter für den Erhalt des Viadukts sind Sie?
Im Verein sind wir heute noch gut zehn Leute. Wir haben den Verein auch aus rechtlichen Gründen aus der Taufe gehoben. Als Verein, dessen Ziel es ist, ein Denkmal zu erhalten, ist es einfacher, in einem Planfeststellungsverfahren einen begründeten Einspruch zu erheben. Und das war letztlich auch erfolgreich.
Das Viadukt wird im kommenden Jahr fertiggestellt und 2025 Teil der Interventionsfläche „Stadt am Fluss“ sein. Ist das nicht ein großartiges Beispiel dafür, dass sich Engagement am Ende auszahlt?
Auf jeden Fall. Aber noch gibt es viel zu tun. Die Sanierung ist noch gar nicht abgeschlossen. Zudem gibt es auch noch einige Denkmalschutzfragen zu klären. Und dann geht es im letzten Schritt um die Umfeldgestaltung. Eigentlich nämlich wollte die Bahn das Areal direkt unter der Brücke einzäunen. Aber das hätte die Nutzung für die Stadtgesellschaft eingeschränkt. Spätestens 2025 soll das Viadukt ja Teil einer Interventionsfläche sein. Bis dahin ist es immer wieder ein Ringen. Am Ende aber haben wir mit unserem Projekt schon jetzt wirkungsvoll deutlich machen können, dass es sich lohnt, wenn man sich für eine Sache einsetzt.
Was waren in diesem Prozess Ihre wichtigsten Lehren?
Dass man nichts im Hauruckverfahren erreichen kann. Gut Ding will Weile haben. Zudem kann man sich nicht sofort um alles kümmern. Wichtig ist, dass man Geduld hat und sich auf eine Sache fokussiert. Da habe auch ich mir viele Hörner abstoßen müssen.
Wissen Sie denn schon, was für Sie nach dem Viadukt kommt?
Das wird man dann sehen. Es gibt unendlich viele Themen in der Stadt – Themen, die immer wieder auch mit der Industriekultur und mit der reichhaltigen industriellen Geschichte der Region rund um das Erzgebirge zu tun haben. Da wird etwas Neues kommen. Ich bin mir ganz sicher.
Brigitte Pfüller von der Interventionsfläche „Ensemble Karl Schmidt-Rottluff“
Der Förderverein Karl Schmidt-Rottluff e.V. kümmert sich seit acht Jahren um das Erbe eines der größten Söhne der Stadt. In einer alten Mühle im heute zu Chemnitz gehörenden Dorf Rottluff hat der 1884 geborene Expressionist Karl Schmidt-Rottluff seine Kindheit verbracht. Lange Zeit war das Gebäude verfallen. Der Bürgerverein will nun einen lebendigen Erinnerungsort für eine der wichtigsten Kunstströmungen der Avantgarde schaffen – und steht bereits kurz vor dem Ziel.
Frau Pfüller, Sie haben 2014 den Chemnitzer Förderverein Karl Schmidt Rottluff e.V. gegründet. Schmidt-Rottluff und Chemnitz: Ist das nicht wie Eulen nach Athen tragen?
Nein, auf keinen Fall. Viele wissen gar nicht, dass der Künstler Karl Schmidt-Rottluff ein Chemnitzer war. Auch in Chemnitz selbst, wo es in den Kunstsammlungen eine der größten Sammlungen zu Schmidt-Rottluff gibt, spielt der Maler noch nicht die Rolle, die er verdient hätte. Viele denken bei Chemnitz immer an Karl Marx. Dabei war dieser nie in der Stadt. Früher, als ich Schülerin war, wurde uns oft von Schmidt-Rottluff erzählt. Wir sind sogar rausgefahren zur alten Wohnmühle, wo er Kindheit und Jugend verbrachte.
Just diese alte Mühle haben Sie nun zusammen mit Ihrem Verein saniert. Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen?
Unser Verein, dem gut 20 Leute angehören, ist getragen von der Liebe zu Schmidt-Rottluff und zum Expressionismus. Die Künstlergemeinschaft Brücke hat ihre personellen Wurzeln in Chemnitz und Westsachsen. Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel wurden schon als Schüler in Chemnitz Freunde, und auch Ernst Ludwig Kirchner kam aus Chemnitz. Max Pechstein und Fritz Bleyl stammen aus Zwickau. Erst als sie 1905 nach Dresden gingen, geriet Chemnitz aus dem Fokus des deutschen Expressionismus. Dabei gibt es viele Motive im Werk Schmidt-Rottluffs, die in Rottluff und rund um die Mühle entstanden. Der Künstler war seiner Herkunft stets verbunden. Deshalb hat er sich auch nach seiner Heimatgemeinde Rottluff benannt. Hier steht auch heute noch die elterliche Wohnmühle. Nach der Wende wurde sie von Investoren gekauft, die das denkmalgeschützte Gebäude verfallen ließen. Die Stadt Chemnitz nutzte 2008 ihr Vorkaufsrecht. 2009/2010 erfolgte durch die Kommune dann eine Dach-, Fassaden- und Deckensanierung.
Wofür brauchte es dann noch einen Verein?
Weil der Ausbau nicht voranging. Als wir uns des Gebäudes annahmen, gab es hier unverputzte Wände, kein Wasser, keinen Strom. Unser Ziel ist es, die Wohnmühle als Elternhaus von Schmidt-Rottluff für die Öffentlichkeit als Veranstaltungs- und Begegnungsstätte zugänglich zu machen. Sie soll zugleich ein Erinnerungsort für den Expressionismus werden.
Wo lagen dabei die größten Herausforderungen?
Wir sind im Verein eine bunte Mischung. Da hat jeder das gemacht, was er am besten kann. Klar, wir haben auch gemalert oder den Garten mit gestaltet. Aber die eigentliche Arbeit bestand darin, Geld einzuwerben, mit Verantwortlichen zu sprechen und Menschen zusammenzubringen. So haben wir unter anderem mit der Volksbank Chemnitz eine Crowdfunding-Aktion mit 20.000 Euro realisiert. Von Bund und Land Sachsen erhielten wir Denkmalfördermittel von rund 165.000 Euro, auch die Stadt Chemnitz holten wir finanziell ins Boot.
Was haben Sie denn 2025, im Jahr der Kulturhauptstadt, mit der dann fertig sanierten Mühle vor?
Hier sollen Veranstaltungen stattfinden. Es geht um Lesungen, Diskussionen, Ausstellungen, und auch für Kinder wollen wir ein Programm auf die Beine stellen. Gleich neben dem Gebäude liegt das Landhaus, das die Familie Schmidt 1913/14 errichtete. Karl Schmidt-Rottluff lebte hier von 1943 bis 1946, nachdem seine Wohnung in Berlin durch Bomben zerstört wurde. Die Stadt Chemnitz plant, im Landhaus ein „Museum Karl Schmidt-Rottluff Haus“ einzurichten, um ab 2025 die Werkentwicklung des Künstlers zu zeigen. Die Mühle ist als Veranstaltungsort eine ideale Ergänzung. Landhaus und Wohnmühle gehören als Ensemble Schmidt-Rottluff zu den Interventionsflächen für die Kulturhauptstadt Europas 2025.
Hätten Sie, als Sie den Verein vor acht Jahren gründeten, je daran geglaubt, dass sich Ihre Vision relativ schnell realisieren lässt?
Klar, ich habe immer daran geglaubt. Sonst muss man damit nicht anfangen. Wir sind als Verein gut vernetzt und kennen auch viele Handwerker aus der Region. Das hat einige Arbeiten sehr erleichtert. Außerdem hat das Werk von Schmidt-Rottluff immer noch eine große Kraft und Ausstrahlung.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
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