- Die ARD und der vergessene Sinto-Junge aus Buchenwald
Die ARD wollte mit dem Film „Nackt unter Wölfen“ die Rettungsgeschichte des „Buchenwaldkinds“ Stefan Jerzy Zweig neu aufarbeiten. Doch in der Begleit-Doku fehlt ein wichtiges Detail: dass an dessen statt der Sinto-Junge Willy Blum nach Auschwitz fuhr. Historiker üben Kritik
August 1944. Willy Blum, 16 Jahre, fährt mit dem Zug auf dem Ettersberg ein, passiert das Tor mit der Aufschrift „Jedem das Seine“. Tagelang hat der Sinto-Junge mit seinem zehnjährigen Bruder Rudolf und seinem Vater in einem Waggon ausgeharrt, mit Hunderten Menschen, ohne Wasser oder Toiletten. Die drei sind dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entkommen. Die Mutter wurde ermordet, so wie mehr als 20.000 Häftlinge des „Familienlagers“, das die Nationalsozialisten in jenen Tagen in ihrem größten Vernichtungslager räumen.
Willy Blum wird als arbeitsfähig selektiert, ihn schicken sie zurück ins Reich. Irgendwie gelingt es ihm und seinem Vater, auch den kleinen Rudolf mitzuschmuggeln. In Buchenwald landen sie zunächst im „Kleinen Lager“, einer überfüllten Baracke, die ursprünglich als Viehstall konzipiert war, dann werden sie getrennt: Der Vater wird in den Stollen von Mittelbau-Dora geschickt, die Jungen kommen in einen anderen Trakt.
Sie tragen das Lagerkennzeichen für „Zigeuner“
Willy Blum kümmert sich um seinen kleinen Bruder. Er übernachtet mit ihm im gleichen Zeltlager, Block 58, dann Block 47. Willy hat die Häftlingsnummer 74254. Rudolf die 74251. Auf ihrem weiß-blau gestreiften Häftlingsoverall ist ein schwarzes Dreieck aufgenäht. Es ist das Lagerkennzeichen für „Zigeuner“.
Die Geschichte von Willy Blum und seinem Bruder Rudolf ist die Geschichte, die der MDR in seiner jüngsten Buchenwald-Aufarbeitung weggelassen hat. Und die hätte am Mittwochabend erzählt werden müssen. „Nackt unter Wölfen“ heißt der Spielfilm von Drehbuchautor Stefan Kolditz und Produzent Nico Hoffmann, der mit einer Dokumentation und einer Online-Multimediareportage begleitet wurde. Am Donnerstag, den 9. April (20.15 Uhr), zeigt der MDR den Fim.
Das gleichnamige Buch von Bruno Apitz wurde in der DDR viel gelesen, es widmet sich dem Schicksal von Stefan Jerzy Zweig. Aber zur Geschichte von Zweig gehört die von Willy Blum. Beide sind Opfer des Holocaust und der menschenverachtenden Logik des Terrors. Während man den einen vergessen hat, gilt dem anderen bis heute das kollektive Gedenken.
Stefan Jerzy Zweig, Sohn eines polnisch-jüdischen Rechtsanwalts, kommt etwa zur gleichen Zeit wie der Sinto-Junge in Buchenwald an. Es ist der 5. August 1944, der blonde, gerade mal drei Jahre alte Junge steht barfuß neben seinem Vater am Eingang des Lagers. Im Film wird er in einem Koffer nach Buchenwald geschmuggelt.
Der Roman: Eine Art „Tagebuch der Anne Frank“ der DDR
Die Aufregung ist groß: Nie zuvor hat es in dem KZ ein Kleinkind gegeben. Zwar gibt es mehrere Minderjährige; das Durchschnittsalter liegt bei 16 Jahren, mehr als 900 Kinder überlebten das Konzentrationslager bis zum Kriegsende. Doch keines war so jung.
Kommunistische Häftlinge nehmen sich des jüdischen Kindes an. Sie verstecken es erst unter Typhus-Kranken, dann an wechselnden Orten im Lager – und riskieren damit ihr Leben. Als Zweig nach Auschwitz deportiert werden soll, gelingt es den Kommunisten, seinen Namen von der Transportliste zu streichen. Auf diese Weise geschieht das kleine Wunder: Der Junge überlebt.
Der Schriftsteller Bruno Apitz, der selbst in Buchenwald einsaß, schrieb die Geschichte 1958 auf. Der Roman „Nackt unter Wölfen“ avancierte in der DDR zu einem Klassiker. An Schulen wurde er zur Pflichtlektüre – als ostdeutsche Anne Frank, sozusagen. In der Bundesrepublik war „Nackt unter Wölfen“ hingegen kaum bekannt.
1963 verfilmte Frank Beyer das Buch für die DEFA. Zugleich fanden Journalisten den „echten“ Stefan Jerzy Zweig. Man holte Zweig in die DDR, feierte ihn. Er – das „Buchenwaldkind“ – war der Stoff, aus dem die SED das Bild vom außergewöhnlich starken und weit verbreiteten roten Widerstand gegen das Nazi-Regime webte. Den gab es in dieser Ausprägung nicht. Die DDR-Geschichtsschreibung betonte das Leid der Kommunisten in Buchenwald stärker als jenes anderer Opfergruppen. Übertrieben wurde auch der Anteil der Kommunisten an der Befreiung des Lagers – und an der Rettung von Stefan Jerzy Zweig.
Lücken in der DDR-Geschichtsschreibung
In der ARD erklärt das auch die anschließende Dokumentation „Buchenwald – Heldenmythos und Lagerwirklichkeit“. Was dort jedoch fehlt, ist eine Erkenntnis, zu der die Historiker erst nach der Wende kamen. Da nämlich stellte sich die Rettungsgeschichte als mindestens unvollständig heraus.
Im September 1944 steht Willy Blum vor der wohl folgenschwersten Entscheidung seines Lebens. Sein Bruder Rudolf soll zurück nach Auschwitz. Die SS hat den Zehnjährigen auf eine Transportliste gesetzt. Rudolf hat die Nummer 38. Er ist einer von 200 Kindern und Jugendlichen, die in Buchenwald erneut selektiert werden. Auf der Liste – getippt mit Schreibmaschine, abgeheftet im „Ordner Nr. 162“, – steht noch ein Name: Stefan Jerzy Zweig, Nummer 200.
Was mag in Willy Blum in diesem Moment vorgegangen sein? Sein Bruder Rudolf, alleine in Auschwitz, in dieser Mordfabrik? Würde er noch einmal die Selektionsrampe passieren?
Willy Blum meldet sich freiwillig für den Transport. Das geht aus einer Akte des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen hervor, auf die die Forscher der Gedenkstätte Buchenwald gestoßen sind und die Cicero vorliegt. Er ist nicht der einzige: Mit ihm entscheidet sich noch ein weiterer, als „Zigeuner“ markierter, Junge für diesen Schritt: der 18-jährige Tscheche Walter Bamberger. „Die [Häftlinge] 41923/47 Bamberger W. und 74254/47 Blum Willy wollen auf Transport mit ihren Brüdern, wogegen keine Bedenken bestehen“, heißt es in der Notiz des Lagerarztes und SS-Sturmbannführers August Bender vom 23. September 1944.
Die endgültige Transportliste muss jemand hektisch in letzter Minute getippt haben. Willy Blums Häftlingsnummer enthält einen Fehler und wird handschriftlich korrigiert. Er ist der „Ersatz“ für die Nummer 200 – Stephan Jerzy Zweig. Zwölf Kinder und Jugendliche werden von der Liste gestrichen, dafür werden zwölf andere eingesetzt.
Der Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, hat diesen Vorgang einmal als „Opfertausch“ bezeichnet. Für Stefan Jerzy Zweig, der heute 74 Jahre alt ist, muss das unerträglich gewesen sein, suggeriert er doch eine Mitverantwortung für den Tod des Sinto-Jungen. Wie zynisch aber wäre das: Welche Schuld trifft schon einen Dreijährigen in einem solchen Mordsystem? Zweig klagte gegen diesen Begriff. Ein Gericht gab aber Knigge Recht. In zweiter Instanz kam der Stiftungsdirektor dem Holocaust-Überlebenden entgegen. Knigge spricht in Interviews nicht mehr von „Opfertausch“ – eher aus Mitgefühl für Zweig, weniger aus wissenschaftlichen Erwägungen heraus, wie auch aus dem Urteil des Landgerichts Berlin im März 2011 hervorgeht.
Am 25. September 1944, gegen 10 Uhr morgens, steigen Willy und Rudolf Blum in den Zug nach Auschwitz. Die fünf Waggons mit 200 Sinti- und Romajungen rollen von Weimar über Weißenfels, Falkenberg/ Elster und Breslau bis nach Birkenau. Nur zwei entkommen dem Tod. Willy und Rudolf Blum sind nicht darunter.
Kritik von Historikern
Dass es diesen Kinderzug ins Gas gab, auch das wird in der Dokumentation zum Film nicht erwähnt. An einer Stelle, in der es um die wichtige Hilfe der kommunistischen Funktionshäftlinge für minderjährige Mitgefangene geht, hätte man diesen Transport erwähnen können. In Minute 22:42 heißt es richtig: „Die sogenannten Kinderblocks hätte es ohne den Einsatz der roten Kapos nicht gegeben. Sie machen ihren Einfluss auf die SS geltend, versprechen, die Kinder in Handwerksberufen auszubilden, fälschen Altersangaben und verhindern so in vielen Fällen ihre Deportation.“
Es sind tatsächlich die Kommunisten, die Stefan Jerzy Zweig vor dem Tod bewahrt haben. Doch von Willy Blum und dem Kinderzug erfährt der Zuschauer nichts in der Begleit-Doku.
Es hätte noch eine weitere passende Stelle zur Aufklärung gegeben. Dort, wo die Historikerin Karin Hartewig über die Abteilung Arbeitsstatistik spricht, die für die Zusammenstellung von Häftlingstransporten verantwortlich war: „Und wenn da jemand saß, der die eigenen Genossen von einer eventuell vorbereiteten Liste streichen konnte, dann musste er andere Namen dafür einsetzen.“
Dass hier kein Anschluss an das Schicksal von Willy Blum gesucht wurde, kritisiert Hartewig: „Es ist der Dokumentation anzulasten, dass sie da nicht auf dem neuesten Forschungsstand ist.“
Bill Niven, Historiker an der Nottingham Trent University und Autor von „Das Buchenwaldkind“, sagt, „es wäre gut gewesen“, den Tauschvorgang in der Dokumentation zu erwähnen. „Ich verstehe nicht, warum das nicht getan wurde. Der Zuschauer hätte doch die Erwartung gehabt, das zu sehen.“
Willy Blum wird nirgends erwähnt
Buchenwalds Stiftungsdirektor Knigge sagt, die Filmteams hätten sich die Transportlisten ansehen können, sie hängen im Museum aus. „Das ist Stand der Geschichte.“
Der MDR erklärte auf Cicero-Anfrage schriftlich, es gehe in der Begleit-Doku „nicht um die dokumentarische Verfolgung von Einzelschicksalen, sondern um eine historisch korrekte Betrachtung des Systems Buchenwald“. Die Biografie von Stefan Jerzy Zweig habe weder in dem Spielfilm „Nackt unter Wölfen“ noch in der Doku im Vordergrund gestanden.
Tatsächlich aber ist das Bild des kleinen jüdischen Jungen – der im Film von Vojta Vomáčka gespielt wird – auf den Pressemappen des Filmes und der Doku. In ihren Vorworten gehen sowohl ARD-Programmdirektor Volker Herres als auch MDR-Intendantin Karola Wille direkt auf das DDR-Buch „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz ein. Stefan Jerzy Zweig ist von den Filmemachern zu zwei Premieren in Berlin und Weimar eingeladen worden – und jener in die Hauptstadt gefolgt.
Wie also kann der MDR behaupten, hier gehe es nicht um das Schicksal von Stefan Jerzy Zweig?
„Was den Sinti und Roma passiert ist, interessiert nicht“
„Wir legen einerseits großen Wert auf die Unterscheidung zwischen den historischen Ereignissen in ihrer zeitgeschichtlichen Betrachtung und ihrer künstlerischen Bearbeitung“, erklärt die Sprecherin. Für die Neuverfilmung haben Drehbuchautor Kolditz und Produzent Hoffmann die Vorlage von Apitz nach eigenen Angaben „vertieft“, „korrigiert und differenziert“. Und in der Doku würden „die Rolle der 1958 eingeweihten Gedenkstätte, die Rolle des Romans und die der DEFA-Verfilmung in der ideologisch aufgeladenen Selbstdarstellung der DDR als antifaschistischem Staat“ thematisiert, als auch die Funktionsweise des Lagers.
Nur eben das Schicksal des Sinto-Jungen Willy Blum wird nirgends erwähnt.
„Wenn in einem Film im Jahr 2015 diese Tatsache, dass da ein kleiner Sinto eine entscheidende Rolle gespielt hat, keine Erwähnung findet, ist das nicht mehr nachvollziehbar“, sagt Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und ebenfalls Experte für Antiziganismus. „Das liegt auf der Linie der allgemeinen Rezeption: Was den Sinti und Roma passiert ist, interessiert die Öffentlichkeit nicht. Sie sind die mit Abstand unbeliebteste Minderheit.“
An Willy Blum und seinen Bruder Rudolf erinnern heute nur noch zwei kleine Gedenksteine im Erdboden. Sie wurden von jugendlichen Freiwilligen auf dem Ettersberg in Weimar niedergelegt – genau auf jener Trasse, auf der im September 1944 die Buchenwaldbahn 200 Kinder nach Auschwitz brachte.
Mit Dank an Harry Stein, Kustos der Gedenkstätte Buchenwald, und den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, der die beiden Akten zur Verfügung gestellt hat.
Aktualisiert am 8. April (Programmhinweis MDR).
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.